Kein Zweifel – für die Anhänger der US-Demokraten war die erste Präsidentschaftsdebatte im diesjährigen Kampagnenzyklus denkbar schwere Kost. Geschlagene neunzig Minuten wurden sie Zeugen, wie Joe Biden in der Südstaatenmetropole Atlanta mit seinem Vorgänger Donald Trump aneinandergeriet und einen nach allen Kriterien desolaten Auftritt hinlegte. Der Mund weit aufgerissen, die Augen glasig, die Stimme vermatscht: So stand der 81-Jährige am Rednerpult und sinnierte über angeblich 1000 Billionäre („trillionaires“) im Land und Frauen, die von ihren „Brüdern und Schwestern“ missbraucht würden. Ein unerwarteter Glücksfall für Trump, der um einiges vitaler auftrat und immer wieder zu boshaften Nadelstichen ansetzte. Zwar geriet auch er zuweilen ins Straucheln und ignorierte so manche Frage der Moderation, doch anders als der Amtsinhaber wirkte er dabei zumindest nicht „wie ein Leichnam“.

Trotz alledem brauchte es einige Zeit, ehe dem Biden-Lager zu dämmern begann, was für eine Lawine ihr Kandidat da losgetreten hatte. „Ich hatte zwar keinen besonders tollen Abend, aber [mein Gegner] auch nicht“, verteidigte sich dieser noch Tage später bei einem Spendendinner in New York, als im Parteihauptquartier schon längst Panik ausgebrochen war. Zu groß die Angst, dass ein als senil geltender Kandidat nicht nur die Wahl gegen den favorisierten Trump verlieren, sondern auch noch diverse Kongressabgeordnete und Gouverneure mit in den Abgrund reißen würde. Die Konsequenz: Eine erst tastende, dann zunehmend forsche Druckbehandlung, bei der Geldflüsse gestoppt, Alternativen diskutiert, schmallippige Tweets veröffentlicht und peinliche Anekdoten an die Presse gespielt wurden. Dies alles in Verbindung mit Respektbekundungen für das Lebenswerk und salbungsvollen Ergüssen, wie schön doch ein Ruhestand im Kreise der Familie sei. Ganz nach dem Motto: Wer Ohren hat, der höre.

Selbst ausgemachte Zyniker musste die Kaltschnäuzigkeit erstaunen, mit der Spitzenfunktionäre, Großspender und selbst prominente Schauspieler auf einmal am Stuhl jenes Mannes sägten, den sie noch vor Wochenfrist gegen alle Kritik verteidigt hatten. Und doch fügt sich dieser Umgang nahtlos in das Bild einer Partei, in der es unter der Oberfläche schon seit einiger Zeit brodelt und so mancher nur auf die Möglichkeit zur Absatzbewegung gewartet haben dürfte. Am Ende mit Erfolg, denn schon zum Wochenende konnte der von einer Covid-19-Infektion geschwächte Biden keine Kraft mehr aufbringen, den nun auch von der Parteiführung an ihn herangetragenen Rückzugsforderungen weiter Widerstand zu leisten. Auch die energischsten Verfechter seiner Kandidatur – die Langzeitvertrauten Mike Donilon und Steve Ricchetti – mussten sich dem Druck beugen und konnten lediglich noch ehrenvolle Abschiedskonditionen aushandeln.

Für die Demokraten wäre es im Hinblick auf ihr progressives Selbstverständnis kaum vorstellbar gewesen, einer schwarzen Frau in solch herausgehobener Stellung die Nominierung zu verweigern.

Die sehen so aus, dass der Präsident nun zu einem amerikanischen Cincinnatus verklärt wird, einem Helden, der das Wohl des Landes über den eigenen Ehrgeiz gestellt und so das Richtige getan hat. Im Gegenzug mildert er den Schock seines Abgangs, indem er sich öffentlich für seine Vize Kamala Harris als Nachfolgerin starkmacht und ernsthafte Personaldebatten (die sich die Partei wenige Monate vor der Wahl nicht leisten kann) im Keim erstickt. Dass die Wahl auf Harris fallen musste, ist dabei einerseits der inneren Logik des Amtes geschuldet, das ihr als Stellvertreterin eine Art Erstzugriffsrecht sichert. Andererseits wäre es für die Demokraten im Hinblick auf ihr progressives Selbstverständnis aber auch kaum vorstellbar gewesen, einer schwarzen Frau in solch herausgehobener Stellung die Nominierung zu verweigern. Die Folge wäre Chaos bis hin zur offenen Selbstzerfleischung.

Zumindest auf dem Papier scheint diese Strategie – Biden sich zu Harris bekennen lassen und damit Fakten schaffen – bislang von Erfolg gekrönt. Dutzende Gouverneure und Senatoren, darunter Schwergewichte wie J. B. Pritzker, Gretchen Whitmer und Josh Shapiro, aber auch Hoffnungsträger wie Andy Beshear, haben sich binnen Stunden mit der gebotenen Euphorie hinter sie gestellt und die angeschlagene Partei damit in den Rausch eines empfundenen Befreiungsschlags versetzt. Allein auf der parteinahen Spendenplattform ActBlue gingen in den Tagen nach Bidens Verzichtserklärung über einhundert Millionen US-Dollar ein; ein deutlicher Hinweis, dass auch die Basis die Staffelübergabe zu goutieren scheint. Das Schlimmste scheint also überstanden, doch wäre es töricht, nun in Übermut zu verfallen. Mit einem verbitterten Präsidenten im Weißen Haus und einer nicht gerade beliebten Ersatzkandidatin auf den Wahlkampfbühnen tut sich schließlich ein ganzer Schwung neuer Probleme auf. 

Am offensichtlichsten ist dabei die Gefahr, dass Bidens Rückzug von der Gegenseite als Eingeständnis interpretiert wird, der Spott über den amtsunfähigen Sleepy Joe sei zutreffend gewesen und die demokratische Führung habe über Monate versucht, das Wahlvolk über seinen Zustand zu täuschen. Wusste eine Schlüsselfigur, wie Harris, wie es um ihren running mate bestellt ist? Falls ja, wieso hat sie nicht schon früher eingegriffen, anstatt ihn ins offene Messer laufen zu lassen? Und falls nein, wie soll man ihrer Auffassungsgabe dann künftig trauen? Unabhängig von den Umständen dürfte es den Republikanern nicht allzu schwerfallen, der Kalifornierin den Stempel einer gewissen Unehrlichkeit aufzudrücken und kontrastiv zu beleuchten: hier Heimlichtuerei und Intriganz, dort die Direktheit Trumps, der noch während des Attentats auf ihn geistesgegenwärtig die Siegerfaust emporreckt.

Ihre erste Präsidentschaftskandidatur 2020 war ein Fiasko.

Dazu stellt sich die Frage nach einem vorzeitigen Rücktritt Bidens. Denn nur schwer – so das republikanische Argument – lässt sich rechtfertigen, dass der Mann, der sich eine Kandidatur nicht länger zutraut, die nächsten Monate weiter an den Schalthebeln der Macht verbringen will. Zwar bedingt ein Nichtantreten nicht zwangsläufig einen Amtsverzicht, doch dürften hier bald Vorwürfe der Inkonsequenz laut werden und die Legitimität der Regierung in Mitleidenschaft ziehen. Insbesondere die des Präsidenten, der im Falle einer Demission allerdings Gefahr liefe, umso mehr wie die Marionette einer machtgierigen Hauptstadtkamarilla zu erscheinen. Und Harris? Die wird spätestens nach dem Nominierungsparteitag im August kein Interesse daran haben, dass Biden ihr die Show stiehlt (und womöglich für weitere Patzer sorgt). Zugleich ist es aus ihrer Sicht aber nur bedingt sinnvoll, sich die Übernahme der Amtsgeschäfte aufzubürden, während sie einen kräftezehrenden Ad-hoc-Wahlkampf bestreiten muss.

Das bringt uns schließlich zu den Altlasten, die die neue starke Frau der Demokraten ganz ohne fremdes Zutun mit sich bringt: Ihre erste Präsidentschaftskandidatur 2020 war ein Fiasko und verriet mangelnden politischen Instinkt. Ihre bisherige Amtsführung lässt sich wohl am ehesten mit dem Adjektiv unglücklich beschreiben. Und als in der Bay Area beheimatete Sozialliberale repräsentiert sie in den Augen vieler die Überheblichkeit der Küsten gegenüber dem Inland. Für Auftritte im industriell geprägten, aus demokratischer Sicht überlebensnotwendigen Mittleren Westen keine gute Passung – man kann sich nur schwer vorstellen, wie die Professorentochter mit Blue-Collar-Wählern auf Tuchfühlung geht, ohne unauthentisch, zwanghaft oder anderweitig awkward zu wirken. Biden hatte da als Spross eines irischstämmigen Gebrauchtwagenhändlers schon deutlich mehr Milieunähe vorzuweisen. Und Trumps frisch gekürter Vizekandidat J. D. Vance tut es mit seiner durchaus imposanten Aufsteigerbiografie ebenfalls.

Ketzerisch ließe sich vor diesem Hintergrund fragen, inwieweit es Harris überhaupt gelegen kommt, noch in diesem Jahr in vorderste Front zu rücken. Wäre Biden angetreten und hätte doch noch die Trendwende geschafft, wäre sie erneut als Vizepräsidentin ins Weiße Haus eingezogen. Hätte dagegen Trump gesiegt, wäre ihr mit dem richtigen spin leicht die Rolle der Favoritin für die Vorwahlen 2028 zugekommen, aus der heraus sie in aller Ruhe in einen dann Trump-losen Hauptwahlkampf hätte ziehen können. Jetzt sieht sie sich mit einem Mal unter weit weniger günstigen Bedingungen einem Alles-oder-Nichts-Szenario ausgesetzt; einem riskanten Spiel, in das sie hineinmanövriert wurde und das sowohl für sie als auch für ihre Partei mit erheblichem Einsatz verbunden ist. Die Hochstimmung des Augenblicks dürfte jedenfalls verfliegen, sobald die Republikaner beginnen, sich ernsthaft auf die neue Aspirantin einzuschießen. Und erst dann wird sich zeigen, ob Bidens Opfer einen Wert gehabt hat.