Einer der Gründe für den (unerwarteten) Sieg des Republikaner-Kandidaten Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen 2016 war nach Einschätzung vieler Beobachter das Wahlverhalten der amerikanischen Mittelschicht.

Erklärungen für das Unbehagen der US-Mittelschicht gibt es reichlich: Seit langem stagnieren ihre Einkommen, während die obersten Einkommensgruppen massive Zuwächse verzeichnen, sodass der Abstand zwischen dem reichsten Prozent und der Mittelklasse immer größer wird und mitunter schon unüberbrückbar scheint. Unbezahlbar hohe Schul- und Studiengebühren schmälern die Bildungschancen für Kinder aus bescheidenen Verhältnissen, „gute“ Arbeitsplätze werden nach China und in andere Schwellenländer ausgelagert, und der technologische Wandel macht viele typische Mittelschichtsjobs überflüssig. In ihrem neuesten Buch „Deaths of Despair“ machen Anne Case und Angus Deaton den Zusammenhang zwischen all diesen Faktoren und der deprimierenden Gesundheitsstatistik der „Verzweiflungstode“ sichtbar.

Wer herausfinden will, ob die amerikanische Mittelklasse 2016 ein außergewöhnliches Wahlverhalten an den Tag legte, kann zum Beispiel vergleichen, wie sich in den Jahren seit der weltweiten Finanzkrise – dieser Zeitraum entspricht in etwa den beiden Amtszeiten von Barack Obama als US-Präsident – die Realeinkommenszuwächse der verschiedenen Einkommensgruppen (nach Abzug von Steuern) entwickelt haben und wie hoch in diesen Einkommensgruppen der jeweilige Stimmenanteil für Hillary Clinton ausfiel, die sich als Kandidatin der Demokraten um Obamas Nachfolge bewarb.

Erklärungen für das Unbehagen der US-Mittelschicht gibt es reichlich: Seit langem stagnieren ihre Einkommen, während die obersten Einkommensgruppen massive Zuwächse verzeichnen.

Schaubild 1 zeigt die realen Einkommenszuwächse pro Kopf zwischen 2007 und 2016 für verschiedene Quantile (Teilgruppen) der Einkommensverteilung in den USA. Die ärmsten Gruppen sind links verzeichnet: Das erste Einkommensdezil steht für die ärmsten 10 Prozent der US-Bevölkerung, das zweite Dezil für die zweitärmsten 10 Prozent usw. Den Abschluss der Kurve bilden ganz rechts die einkommensstärksten 5 Prozent und schließlich das einkommensstärkste Prozent.

Die Daten zeigen: Wenn man von den beiden untersten Dezilen absieht, stiegen in den USA die Einkommen der Reichen stärker als die der Mittelschicht. Mit anderen Worten: Vom Wirtschaftswachstum während Obamas Regierungszeit hatten die Mittelschicht und die untere Mittelschicht nichts; die Profiteure waren die Menschen am oberen Ende der Einkommensverteilung – also die einkommensstärksten 5, 10 oder 20 Prozent, die Richard Reeves 2017 in seinem gleichnamigen Buch die „Dream Hoarders“ nannte.

Das zweite Schaubild präsentiert Thomas Piketty in seinem neuesten Buch Kapital und Ideologie. Es basiert auf Wahlumfragen und zeigt für dieselben Einkommensquantile, die wir in Schaubild 1 sehen, den Anteil der Clinton-Wähler bei der Wahl 2016. Insgesamt verläuft die Kurve ähnlich: Bei den einkommensschwächsten 30 Prozent der Bevölkerung war die Unterstützung für Clinton relativ hoch und stabil, während sie in allen mittleren Einkommensgruppen dramatisch abnimmt und beim siebten Dezil ihren Tiefpunkt erreicht, um bei den einkommensstärkeren Haushalten wieder stetig zuzunehmen. Nur beim einkommensstärksten Prozent geht der Anteil der Hillary-Clinton-Unterstützer gegenüber den obersten 5 Prozent der Einkommensverteilung wieder leicht zurück. Damit verläuft die Kurve exakt parallel zur Einkommenszuwachskurve in Schaubild 1.

Bei näherem Hinsehen offenbart sich allerdings ein aufschlussreicher Unterschied. Um die Verlaufsmuster genauer zu vergleichen, habe ich die beiden Kurven zusammengeführt und die Zahlen für das oberste Prozent (in Bezug auf den Einkommenszuwachs und auf das Wahlverhalten) als 1 gesetzt. An der linken Vertikalachse sind die jeweiligen Stimmenanteile für Clinton (blau) und an der rechten Vertikalachse die relativen Einkommenszuwächse (braun) angetragen.

Schon auf den ersten Blick fällt der anomale Kurvenverlauf bei den Dezilen 4 bis 7 auf: Obwohl diese Einkommensgruppen höhere Realeinkommenszuwächse verzeichneten als die niedrigeren (ärmeren) Dezile, sinkt der Anteil der Wählerstimmen für Hillary Clinton. Diese gegenläufige Entwicklung von Einkommenszuwachs und Stimmenanteil endet beim achten Dezil: Ab dort entwickeln sich die beiden Variablen so, wie wir es erwarten — die stärkere Unterstützung für die Kandidatin der Demokraten geht ab dort wieder Hand in Hand mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in den vorangegangen acht Jahren, in denen die USA von einem Demokraten regiert wurden.

Schon auf dieser Aggregationsstufe zeigt sich also ein unerwartetes Wahlverhalten bei den mittleren Dezilen, die rund 30 bis 40 Prozent der US-Wählerschaft ausmachen: Sie haben sich im Vergleich zu denen, die ärmer sind als sie, zwar wirtschaftlich verbessert, aber trotzdem stimmten prozentual deutlich weniger von ihnen für Hillary Clinton.

Es müssen wieder grundsätzlichere sozialpolitische Überlegungen angestellt werden.

Ob die Menschen im mittleren Teil des Einkommensspektrums exakt dieselben sind wie die eingangs erwähnten Amerikanerinnen und Amerikaner, die die negativen Auswirkungen von Finanzkrise, Globalisierung, Arbeitsplatzverlagerung und/oder technologischem Wandel zu spüren bekommen, wissen wir nicht. Es spricht allerdings vieles dafür, die beiden Entwicklungstendenzen miteinander in Zusammenhang zu bringen.

Wenn die Demokraten diese Wählerschichten für sich gewinnen wollen, kommt es also vielleicht nicht nur auf das Wirtschaftswachstum (unter einer von einem Demokraten geführten Administration), sondern auch noch auf etwas anderes an. Ob das mehr Beschäftigungssicherheit, bessere Bildungschancen für die eigenen Kinder, eine bessere Gesundheitsversorgung oder andere Wünsche sind, lässt sich in der hier vorgenommenen Grobanalyse nicht klären.

Sicher scheint auf jeden Fall, dass der reduktionistische Spruch „It’s the economy, stupid“, der sich mit den Wahlsiegen von Hillary Clintons Ehemann Bill in den 1990er-Jahren verbindet, nicht — oder nicht mehr — alles erklären kann: Es müssen wieder grundsätzlichere sozialpolitische Überlegungen angestellt werden, und die sollte Joe Biden – wenn er denn erwartungsgemäß als Kandidat der Demokraten nominiert wird – auf dem Weg zu den diesjährigen Präsidentschaftswahlen im Blick behalten.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.