Drei Monate ist der neue US-Präsident jetzt schon im Amt und nähert sich damit jener mystischen 100-Tage-Marke, die von den Haruspices der Medienwelt gerne als maßgeblich für den weiteren Verlauf einer Präsidentschaft interpretiert wird. Man schaut nach Start- und Anlaufschwierigkeiten, Skandalen und Skandälchen, Kabalen und Kontroversen. Im Falle von Joseph Robinette Biden, Jr. ist die Bestandsaufnahme allerdings recht schnell abgeschlossen. Sie lautet: Keine Auffälligkeiten, alles wie erwartet.
Der ehemalige Vizepräsident verfolgt konsequent das, was man in Deutschland wohl als Politik der ruhigen Hand bezeichnen würde, und regiert sein Land mit einer vertrauenseinflößenden Mischung aus großväterlicher Dignitas und kühlem Professionalismus. Stück für Stück und unterstützt von zahlreichen Veteranen der Obama-Administration bemüht er sich, die lecke Fregatte USA wieder auf Kurs zu bringen für die Fahrwasser des 21. Jahrhunderts.
Das heißt vor allem, die Entscheidungen seines Vorgängers zu revidieren und verlorengegangenes Vertrauen auf dem internationalen Parkett wiederherzustellen. Ob der Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen, der sogenannte Muslim ban oder das Verbot von Transpersonen in den Streitkräften: Schritt für Schritt werden die gröbsten Schnitzer der Regierung Trump per Präsidialdekret wieder aufgehoben. Beinahe vierzig executive orders hat es bis Mitte April bereits gegeben, und damit doppelt so viele wie Barack Obama zum gleichen Zeitpunkt seiner Präsidentschaft unterzeichnet hatte.
Und auch in seinen virtuellen Ansprachen zum G7-Gipfel und zur Münchner Sicherheitskonferenz war der Kontrast Bidens zur Regierung Trump augenfällig. „Demokratie ist kein Zufallsprodukt“, sagte er ernst. „Immer müssen wir sie verteidigen, für sie kämpfen, sie festigen und erneuern.“ Ein Hohelied auf eine Selbstverständlichkeit, das man freilich aus Washington, D.C. schon lange nicht mehr gehört hatte.
Schritt für Schritt werden die gröbsten Schnitzer der Regierung Trump per Präsidialdekret wieder aufgehoben.
So rasch wird das symbolische Flechtwerk der Vorgängeradministration abgetragen, dass sich bald eine ganz andere Frage stellt: Was wird überhaupt noch von Donald Trump bleiben? Ohne sein wichtigstes Regierungsinstrument – seinen Twitter-Account – ist der in Mar-a-Lago weilende Ex-Präsident weitgehend aus dem Gegenwartsbewusstsein verschwunden und taucht allenfalls noch in Form dystopischer Erinnerungsfragmente auf.
Trump, wie er auf dem Höhepunkt der Black-Lives-Matter-Proteste mit steinernem Gesicht und hochgereckter Bibel vor der St. John’s Episcopal Church steht. Trump, wie er seiner Bevölkerung die Injektion von Bleiche nahelegt – ironisch natürlich. Trump, wie er seinen Amtskollegen auf dem G7-Gipfel in Charlevoix mit verschränkten Armen und sturem Blick entgegentrotzt. Trump, wie er lügt und leugnet, hetzt und heuchelt, gewaltige Fast-Food-Buffets im Weißen Haus aufstellen lässt und in einer besonders grotesken Nachwahl-Episode am Telefon den Mafia-Don mimt.
Viele dieser Eskapaden sind bereits einem gnädigen Vergessen anheimgefallen oder werden es bald schon sein. Nichts ist bekanntlich so alt wie der Skandal von gestern. Leider gilt dies auch für jene Skandale, die eher ausgewachsenen Tragödien gleichen. Da ist etwa Trumps indirekte Verantwortung für inzwischen mehr als 560 000 Covid-19-Tote im Land, gestorben an einem Virus, das erst für harmlos erklärt und dann flugs höheren Mächten überantwortet wurde.
Oder seine weitaus direktere Verantwortung für die hunderten Abgeordneten und Senatorinnen, die um ihr Leben fürchten mussten, als ein vom Präsidenten angespornter Mob das Kapitolgebäude flutete. Doch so wie angesichts rasanter Impffortschritte in den USA das dortige Pandemiegefühl seinem Ende entgegendämmert, wird auch der Sturm auf das Kapitol vermutlich vor allem als desolater Schlussakt einer ebensolchen Präsidentschaft wahrgenommen werden. Mehr politischer Offenbarungseid als echte demokratische Zäsur.
Wirklichen change hat die Trump-Präsidentschaft kaum gebracht.
Passen würde es allemal. Denn wenn es in den vergangenen vier Jahren Trump ein wiederkehrendes Muster gab, dann das einer doppelten Erwartungslücke: Hoffnungen wie Befürchtungen haben sich dabei gleichermaßen als Produkt einer leicht erregbaren Gesellschaft herausgestellt, deren politischen Hypothalamus der Mann aus Queens an den richtigen Stellen zu stimulieren wusste. Was war nicht alles prophezeit worden für diese Präsidentschaft! Die USA würden aus der NATO austreten, die Globalisierung rückabgewickelt werden und der Nationalstaat zu alter Größe aufsteigen.
Ein Zeitalter des Populismus sei nun angebrochen und selbst einen Iran- oder neuen Koreakrieg wollte man nicht ganz ausschließen. Irreale Schreckensfantasien von Trump beim zwanglosen Spiel mit dem nuclear football genannten Atomkoffer waren an den Stammtischen des Globalen Nordens ebenso beliebt wie in den Feuilletons der Zeitungen.
Am Ende ist wenig bis nichts davon eingetreten. Die USA sind noch immer NATO-Mitglied, der Populismus tritt schwachbrüstig auf der Stelle, und die irreale Kriegsangst ist ebenso schnell wieder verpufft, wie sie gekommen ist. Anders ausgedrückt: Wirklichen change hat die Trump-Präsidentschaft kaum gebracht. Noch nicht einmal für die zur Sprachfigur erstarrten „vergessenen Männer und Frauen“ aus den Kleinstadtperipherien des Mittleren Westens, die jetzt den Preis für den Irrglauben zahlen, mit ein bisschen Vulgärpatriotismus ließen sich die Spielregeln moderner Wissensökonomien außer Kraft setzen.
Es war eine Präsidentschaft, die mit den Vorschusslorbeeren bedacht worden war, eine Ära zu prägen – aber dann doch nur ein Zwischenspiel mit dem Absurden wurde. Eine verwirrende, doch letztlich fruchtlose Clownerie; ein elektoraler Betriebsunfall, von dem wenig anderes bleiben wird als das Andenken an einen Präsidenten, der nie einer hätte sein sollen (und dürfen).
Nicht auszuschließen ist sicherlich auch, dass Trump ein Comeback versuchen und 2024 noch einmal antreten könnte.
Natürlich kann man Einwände gegen diese Position vorbringen, doch erscheinen sie mir wenig überzeugend. Recht häufig ist etwa das Argument aufgeworfen worden, Trumps wirkliche Hinterlassenschaft bestehe in seinen Richterernennungen und hier besonders in der Berufung dreier Höchstrichter an den U.S. Supreme Court – Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Dabei wird allerdings gerne übersehen, dass Trump (28 Prozent) noch immer deutlich weniger Bundesrichter ernannt hat als etwa Obama (38 Prozent) und das Oberste Gericht keineswegs zu einer Trutzburg des Trumpismus mutiert ist.
Eine konservative Mehrheit mag es unzweifelhaft geben, aber die Lage ist mithin deutlich differenzierter zu betrachten. Als etwa im vergangenen Juni das Urteil zu Bostock vs. Clayton County verkündet und damit zum ersten Mal ein arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz für LGBTQ etabliert wurde, war der Verfasser der progressiven Mehrheitsmeinung niemand anderes als der Trump-Appointee Gorsuch. Der dann später mit seinen Kolleginnen und Kollegen auch wenig Anstalten machte, den vermeintlichen steal (das Stehlen von Wählerstimmen) zu verhindern.
Nicht auszuschließen ist sicherlich auch, dass Trump ein Comeback versuchen und 2024 noch einmal antreten könnte. Doch sein Zauber ist verflogen. Aus dem dröhnenden Volkstribun, auf den Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner ihre Hoffnung auf radikalen Wandel projiziert hatten, ist ein schlecht gelaunter Social-Media-Outlaw und Wahlverlierer geworden, dessen Integrität inzwischen selbst im QAnon-Lager angezweifelt wird.
Deutlich sinnvoller als schon jetzt mit Comeback-Szenarien hausieren zu gehen wäre ohnehin, sich näher mit den offenkundigen Fehlfunktionen unseres politischen Relevanzsensoriums auseinanderzusetzen. Denn zu oft glauben wir, Zeugen historischer Ereignisse zu sein, nur um später festzustellen, dass es sich dabei allenfalls um wenig bedeutsame Randerscheinungen im Panoptikum der Geschichte gehandelt hat. Nicht um Ereignisse, sondern um Nicht-Ereignisse. Die letzten vier Jahre waren ein hervorragendes Beispiel dafür – und Trump, bei all seinen Unzulänglichkeiten, ein fähiger Lehrmeister.