Wenn Liz Cheneys Vorwahlniederlage gegen die Trump-Anhängerin Harriet Hageman in Wyoming letzte Woche auf viele ihrer Bewunderer aus der Demokratischen Partei wie ein böser Traum wirkte, dann weil es tatsächlich einer ist: Eine Generation lang haben Progressive darauf gehofft, dass die weiße Arbeiterklasse endlich gegen das engstirnige und privilegierte republikanische Establishment Front machen würde. Nun ist es so weit – aber völlig anders, als man es sich in der Demokratischen Partei erhofft hat.
Die neuen Rebellen, die Hageman gewählt haben, interessieren sich offenkundig nicht so sehr für das schnöde Regieren, sondern sind völlig auf die Selbstinszenierung als authentische Konservative fixiert. Und so folgen sie denselben Impulsen, die sie ihrer liberalen Gegnerschaft gern vorwerfen: Einer schrillen Ablehnung abweichender Standpunkte, einer manischen Zurschaustellung der eigenen Werte – häufig als Virtue signalling bezeichnet – sowie der Bereitschaft, Säuberungen in den eigenen Reihen vorzunehmen. Die ältere Politiktradition der Republikaner – mit der Liz Cheney von Kindesbeinen an aufgewachsen ist und die auch ihre Amtsführung prägt – ist zwar noch lebendig, jedoch auch in Wyoming stark unter Beschuss. Progressive, denen jetzt erst klar wird, dass dieses privilegierte republikanische Establishment ein Herzstück unserer Demokratie war, wünschen sich nun womöglich eher eine Gegenrevolution von oben als eine Revolution von unten.
Vor nicht allzu langer Zeit war die Grand Old Party (GOP) in Wyoming noch damit befasst, den Bundesstaat zu regieren und Alltagsaufgaben zu bewältigen, sei es die Ausgabe von Schanklizenzen oder die Finanzierung öffentlicher Schulen. Politik war „ehrlich gesagt langweilig“, erinnert sich Tim Stubson, ein Parteigänger der alten Schule. Liz Cheney und ihr Vater Dick, der ehemalige Vizepräsident, verkörperten das Establishment: Ihre Ämter bekleideten sie still und fleißig, fast ein wenig fade.
Doch die politische Landschaft Wyomings hat sich verändert, mit dem Aufstieg der Tea Party zunächst langsam, in den Trump-Jahren dann rasant: Eine neue Garde zog in den Kampf gegen das Establishment und verfolgte eine Politik, die sich weniger um das normale Regierungsgeschäft drehte, als um kompromisslose Identitätsfragen. Diese Identitätsfixierung hinterließ ihre Spuren überall, nirgendwo jedoch so deutlich wie auf den jüngsten republikanischen Parteitagen. Noch vor einem Jahrzehnt gingen Delegierte eher selten bewaffnet auf einen Parteitag. Heute tun das viele.
Eine neue Garde zog in den Kampf gegen das Establishment.
Auch pocht man verstärkt auf die eigenen Werte. Auf dem jüngsten Parteitag in Wyoming erklärte ein Delegierter, Schülerinnen und Schüler sollten den Treueschwur auf die Nation nicht mehr abgeben müssen, weil das darin enthaltene Wort „unteilbar“ suggeriere, dass sich einzelne Bundesstaaten nicht von der Union abspalten könnten. Die Rolle des aufrechten Konservativen fordert den Betroffenen einiges ab: Sie müssen nicht nur ihre Zugehörigkeit zur rauen ländlichen Arbeiterklasse unter Beweis stellen, sondern auch ihre verlässliche konservative Haltung, sodass nicht selten alle ausgegrenzt werden, die nicht vollständig auf Spur sind. Durch die GOP von Wyoming fegt eine Cancel Culture, die in ihrer Unerbittlichkeit derjenigen der progressiven Konkurrenz in nichts nachsteht.
Liz Cheney ist nun das prominenteste Opfer dieser Cancel Culture: Sie erhielt bereits zweimal einen Verweis der Partei und wurde jetzt abgewählt. Aber ihr Fall ist nur die Spitze des Eisbergs, der weitgehend unter dem Radar der Medien bleibt. Auch andere Parteimitglieder alter Schule wurden schon für verschiedenste Vergehen gerügt, sei es, dass sie sich für die Ausweitung der Gesundheitsfürsorge für Bedürftige (Medicaid) eingesetzt, oder sei es, dass sie ein überparteiliches Komitee für die finanzielle Unterstützung weiblicher Kandidaten gegründet hatten.
Den neuen Tugendwächtern stehen mittlerweile eigene Websites zur Verfügung, mit deren Hilfe politisch inkorrekte Parteimitglieder aufgespürt werden. Auf der Plattform WyoRINO (RINO steht für „Republican In Name Only“, also: nur dem Namen nach republikanisch) werden beispielsweise Abgeordnete bloßgestellt, „die sich zu Unrecht als Republikaner“ bezeichnen, indem ihr Abstimmungsverhalten auf kleinste Anzeichen für eine abtrünnige Haltung abgeklopft wird. Dem Index der Website zufolge täuscht in Wyoming fast eine Zweidrittelmehrheit der republikanischen Abgeordneten eine entsprechende Gesinnung nur vor.
Die offiziell Gerügten verbindet allerdings noch etwas anderes: Die meisten von ihnen gehören der Oberschicht an. In den letzten Jahren hat die Partei eine wohlhabende Aktivistin, einen promovierten Senator und den prominenten Parteivorsitzenden und Arzt Joe McGinley gerügt. Viele der neuen Rebellen sind selbst wohlhabend und gebildet, tun aber so, als kämen sie „aus dem Volk“. Einige, wie Harriet Hageman, werden von Opportunismus getrieben, andere stehen der Arbeiterklasse von Wyoming wirklich nahe. Allerdings hat die neue Identitätspolitik auch etwas bewirkt, das in diesem vergoldeten Zeitalter der amerikanischen Politik eher selten ist: Leute aus der Arbeiterschicht stiegen tatsächlich in Machtpositionen auf. Tom James zum Beispiel, der 2018 in den Senat von Wyoming gewählt wurde, war im Kinderheim aufgewachsen und hatte seinen Wahlkampf als Pizzabote bestritten. Frank Eathorne, derzeit Parteichef auf Landesebene, arbeitete früher in der Schädlingsbekämpfung. „Die Partei ist viel näher an der Arbeiterschaft“, so Tim Stubson, der dem alten Establishment angehört.
Den neuen Identitären ist offenbar weniger an der Lösung echter Probleme gelegen.
Diese Kandidatinnen und Kandidaten verändern die GOP mittlerweile auch außerhalb Wyomings. Ein LKW-Fahrer eroberte mit einem winzigen Wahlkampfbudget einen Senatssitz in New Jersey. Und in Arizona wurde Rusty Bowers – der sich dem Druck Donald Trumps, die Wahlergebnisse in seinem Bundesstaat zu annullieren, widersetzt hatte – in den Vorwahlen knapp von David Farnsworth, einem Kleinunternehmer und ehemaligen Kranführer mit einfachem Community-College-Abschluss, geschlagen.
Seit Jahrzehnten hoffen Progressive darauf, dass sich die weiße Arbeiterklasse gegen die wohlhabenden Banker, Ärztinnen und Ölmagnaten wendet, die die Republikanische Partei fest im Griff hatten. Nun ist genau das geschehen. Endlich herrscht so etwas wie ein Klassenkampf. Nur ist es nicht die Art Kampf, die sich die Progressiven vorgestellt, geschweige denn gewünscht hatten. Das liegt unter anderem daran, dass die Sehnsucht nach Klassenkampf auf einer Lüge beruhte. Was auch immer sich die republikanische Elite hat zuschulden kommen lassen: Sie hatte jedenfalls die Allgemeinheit im Blick. Das Gemeinwohl lag ihr am Herzen, und sie beförderte es, indem sie sich für wenig Geld in den Parlamentskammern abmühte, deren Sitzungen mitten im strengen Winter beginnen, wenn es auf den Straßen von Wyoming besonders gefährlich zugeht.
Den neuen Identitären, die das Abgeordnetenhaus und den Senat des Bundesstaates infiltrieren, ist offenbar weniger an der Lösung echter Probleme gelegen als daran, der Basis ihre Werte vorzuführen. Sie begnügen sich mit Symbolpolitik, indem sie etwa ein Gesetz vorantreiben, nach dem die örtlichen Strafverfolgungsbehörden Bundesgesetze nicht beachten dürfen, wenn sie gegen den Zweiten Zusatzartikel zur Verfassung verstoßen (das Recht auf das Tragen von Waffen), oder indem sie mit einem anderen Gesetzentwurf die Critical Race Theory (die sich mit dem strukturellen Rassismus in den USA befasst) aus dem Unterricht an öffentlichen Schulen verbannen wollen. Der Vorstoß ist jedoch vorerst gescheitert, weil es noch genügend traditionelle Konservative gibt, denen sich die ganze Problematik nicht erschließt.
Da die Beschäftigung mit diesen Hirngespinsten Zeit verschlingt, bleiben größere Probleme unbearbeitet. Der neue Identitätswahn der Rechten ist keine Erfindung Donald Trumps. Er eröffnete lediglich Chancen, die Trump nutzte. Durch ihn wurde die Identitätspolitik jedoch gefährlicher als ihr progressives Gegenstück, weil er sie an seinen Personenkult und die Kampagne rund um den angeblichen Wahldiebstahl koppelte. Dadurch verschärfte sich die gesellschaftliche Spaltung in der Partei noch weiter: Während eine beträchtliche Mehrheit der Weißen ohne College-Abschluss, die in den Vorwahlen republikanisch wählten, 2024 lieber für Trump stimmen würden, wünschen sich die mit College-Abschluss überwiegend einen anderen Kandidaten.
Der neue Identitätswahn der Rechten ist keine Erfindung Donald Trumps.
Der Sturz Liz Cheneys unterstreicht den sektiererischen Charakter der Identitätspolitik, die sich im rechten Lager gerade entwickelt. Laut der Umfrageplattform FiveThirtyEight unterstützte Cheney in ihren ersten beiden Amtszeiten in 93 Prozent der Fälle Trumps Positionen. Dennoch gilt sie vielen Republikanern in Wyoming nicht nur als Republican In Name Only, sondern geradezu als Inbegriff der RINO. Eine Politikerin, die sich mit Trump anlegt, kann nicht mehr als echte Konservative gelten.
Leider war das GOP-Establishment nicht stark genug, um Liz Cheney zu retten. Glücklicherweise aber ist es noch nicht tot, nicht einmal in Wyoming. Vielmehr reichen seine Wurzeln tiefer, als Cheneys Niederlage es vermuten lässt. Die alte Garde beherrscht noch die beiden Kammern des Parlaments, wie auch die beiden bevölkerungsreichsten Countys, die sich energisch gegen eine Rüge Cheneys wehrten. Mancherorts wurden die neuen Rebellen ausgebremst und zurückgedrängt. In Campbell County beispielsweise, wo Trumps Anhängerschaft stärker ist als in den meisten anderen Countys, trotzte das Establishment den neuen Identitären die Führung der Partei wieder ab.
Ähnliche Kämpfe spielen sich auch in den Parteien und Parlamenten vieler anderer Bundesstaaten ab, von Colorado bis Arizona, Idaho, Illinois und Texas, wo die neuen Identitären an Fahrt gewinnen und der alten Garde die Macht streitig machen. Doch auch wenn sie auf dem Vormarsch sind, könnte ihr Politikstil die Saat für die eigene Zerstörung in sich bergen. Jede Partei, die Symbolpolitik über die Regierungsarbeit stellt, riskiert, dass irgendwann Revolten ausbrechen. Einige linke Verfechter der Identitätspolitik haben diese Lektion bereits auf die harte Tour gelernt. Als im Bildungsausschuss von San Francisco einige Gremienmitglieder lieber Schulen umbenannten, als sich nach langen pandemiebedingten Schließzeiten um deren Wiedereröffnung zu kümmern, wurden sie abberufen. Auch in Zeiten der Identitätspolitik zählen konkrete Ergebnisse.
Wie der interne Krieg in der GOP ausgeht, lässt sich zwar nicht absehen, doch eines ist klar: Beide Seiten betrachten ihn als existenziell. „Die Seele der Republikanischen Partei steht auf dem Spiel“, so der Traditionalist Dr. McGinley über Cheneys Kandidatur. Liz Cheney kämpfte tapfer für die Seele der Partei und wurde vom traditionellen Parteiflügel in Wyoming dafür gefeiert. Diese Leute betrachten ihr Schicksal noch nicht als verloren – und das sollten wir auch nicht.
Bei dem Artikel handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Die Originalversion erschien ursprünglich in der New York Times.
Aus dem Englischen von Anne Emmert