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Den Beginn des „Hispanic Heritage Month“ in dieser Woche brauchte Joe Biden gewiss nicht als Mahnung dafür, dass er sein Augenmerk auf die Latinos richten sollte. Während sich insgesamt nur drei Prozent aller Wählerinnen und Wähler in den USA noch nicht auf einen Präsidentschaftskandidaten festgelegt haben, wissen Umfragen von Quinnipiac und Monmouth zufolge 38 Prozent der wahlberechtigten Hispanics in zehn hart umkämpften Bundesstaaten noch gar nicht, ob sie überhaupt wählen gehen.
Bislang sieht diese große Gruppe von Latinos offenbar kaum einen Grund, warum sie Joe Biden Präsident Trump vorziehen sollte. Deshalb birgt in den Novemberwahlen dieser Anteil der größten ethnischen Wählergruppe im Lande nach den Weißen das größte Wechselwählerpotenzial.
Mit unseren jüngsten Studien öffnen wir ein Fenster zu dieser Wählerschaft. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Zunächst haben wir Wahlberechtigte gefragt, wie „überzeugend“ sie eine kodiert rassistische Wahlkampfbotschaft (dog-whistle message) aus dem republikanischen Themenspektrum finden. Darin wird unter anderem die „illegale Zuwanderung aus Regionen mit reichlich Drogen und kriminellen Banden“ gegeißelt und die „volle Finanzierung der Polizei“ gefordert, „damit unseren Gemeinden keine Gefahr von Leuten droht, die sich weigern, unsere Gesetze zu befolgen“.
Knapp drei von fünf Weißen hielten die Aussage für überzeugend. Überraschender jedoch war, dass auch genauso viele afroamerikanische Befragte ihre Meinung teilten und bei den Latinos die Zustimmung sogar noch höher lag.
Diese Ergebnisse schlagen sich nicht unmittelbar in Stimmen für die Republikanische Partei nieder, dafür sind zu viele weitere Faktoren im Spiel. Trotzdem lassen sie einen wichtigen Schluss zu: In den von uns befragten Bevölkerungsgruppen lehnte eine Mehrheit die „Trump“-artige Rhetorik nicht als offensichtlich rassistisch und polarisierend ab, sondern pflichtete ihr sogar bei.
Nur eine von vier hispanoamerikanischen Personen betrachtet ihre Bevölkerungsgruppe als People of Colour.
Nun bilden Hispanics natürlich keine einheitlichere Gruppe als andere Bevölkerungsgruppen, und so beeinflussen die Unterschiede unter ihnen auch die Reaktion der einzelnen Befragten. Als wichtigster Faktor stellte sich das Verständnis ihrer hispanoamerikanischen Identität heraus. Dabei spielte nicht so sehr eine Rolle, ob der oder die Befragte Wurzeln in Mexiko oder Kuba hatte, jung oder alt war, männlich oder weiblich, in Texas, Florida oder Kalifornien wohnte. Vielmehr hing die Empfänglichkeit für eine rassistisch polarisierende Wahlkampfbotschaft davon ab, wie die Person die ethnische Gruppenidentität der Latinos wahrnahm.
Progressive in den USA kategorisieren Latinos meist als People of Colour, sicherlich auch, weil progressive Latinos sich so verstehen und diese Sichtweise nach außen tragen. Auch für uns, die beiden Autoren, war das selbstverständlich. Doch in unserer Umfrage betrachtet nur eine von vier hispanoamerikanischen Personen ihre Bevölkerungsgruppe als People of Colour. Die Mehrheit lehnt diese Zuordnung ab. Für sie bilden Hispanics eine Gruppe, die sich in den amerikanischen Mainstream integriert, sich nicht von ihrer Hautfarbe begrenzt fühlt und mit eigener Hände Arbeit aufsteigen kann.
Die Minderheit der Latinos, die ihre Gruppe als People of Colour versteht, ist in ihren Ansichten über Regierung und Wirtschaft eher linksliberal und zieht die Wahlkampfbotschaften der Demokraten dem Dog-Whistle-Narrativ klar vor. Für die Mehrheit der Latinos allerdings ist die übliche Ansprache der Demokraten gegenüber der rassistischen Angstmache lediglich ebenbürtig oder gar unterlegen. Das heißt, Donald Trump hat bei den Latinos durchaus gute Chancen.
Doch aus unserer Studie lässt sich auch Positives ziehen, denn es gibt eine Botschaft, mit der Joe Biden und seine Partei die meisten Hispanics erreichen kann, unabhängig davon, wie sie die Identität ihrer Gruppe begreifen. Das Geheimnis besteht darin, Rassismus und Klassenkonflikte miteinander zu verknüpfen. Das von uns empfohlene Schlüsselnarrativ war auch für die weißen und afroamerikanischen Befragten die überzeugendste Botschaft.
Das Geheimnis besteht darin, Rassismus und Klassenkonflikte miteinander zu verknüpfen.
Die Demokraten sollten die Menschen in Amerika dazu aufrufen, sich vereint gegen den strategischen Rassismus mächtiger Eliten zu stellen, die das Land spalten und dann so regieren, dass sie Vorteile daraus ziehen. Das bedeutet nicht, dass man den real vorhandenen tiefgreifenden Rassismus in der Gesellschaft leugnen sollte. Doch der Fokus geht weg von den Weißen im Allgemeinen und hin zu den mächtigen Eliten, die von einer Teile-und-Herrsche-Politik profitieren.
Das ist der „Race-Class“-Ansatz (Rassismus und Klasse), den Haney López mit entwickelt hat. Er verbindet die Problematik der rassistischen Spaltung mit der sozialen Ungleichheit und verlagert dadurch die Stoßrichtung des „Wir gegen die“ – das den Kern der meisten politischen Botschaften bildet – weg von „Weiße gegen People of Colour“ hin zu „Wir alle gegen die mächtigen, spalterischen Eliten“.
Und so sieht dieses Narrativ aus: Wir haben es so weit gebracht, und jetzt bedroht Covid-19 unsere Familien, sei es durch die gesundheitlichen Gefahren, die Rekordarbeitslosigkeit oder den Bankrott von Firmen, die wir mit viel Mühe aufgebaut haben. Um diese Probleme zu lösen, müssen wir unabhängig von Hautfarbe oder ethnischer Zugehörigkeit an einem Strang ziehen. Aber statt uns zu einen, vertiefen gewisse Politiker die Spaltung, indem sie bestimmte Bevölkerungsgruppen beleidigen und beschuldigen. Durch diese Spaltung fällt es ihnen leichter, Regierung und Wirtschaft zum Vorteil ihrer wohlhabenden Wahlkampfspender zu manipulieren. Wenn wir uns aber solidarisieren und uns gegen jeglichen Rassismus verwahren, können wir eine neue Führung wählen, die erprobte Lösungen zugunsten aller arbeitenden Familien anbietet.
Diese Botschaft überzeugte die Hispanics mehr als die Dog-Whistle-Variante, unabhängig davon, wie sie zur ethnischen Identität ihrer Gruppe standen. Auch unter Afroamerikanern und Weißen hängte sie die kodiert rassistische Botschaft ab. Um das zu verstehen, hilft es, diese Aussage mit den üblichen Reaktionen der Demokratischen Partei auf Trumps rassistische Angstmache zu vergleichen.
Eine Standardreaktion besteht darin, Donald Trump direkt als Rassisten zu brandmarken und gleichzeitig strukturellen Rassismus zu verdammen. Wir haben eine solche Botschaft getestet. Sie besagt unter anderem: Bestimmte Politiker fördern Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Spaltung, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch in Form politischer Maßnahmen. Wir erkennen das daran, wie sie an der Außengrenze Familien auseinanderreißen und wie die Polizei Schwarze ins Visier nimmt, inhaftiert und tötet.
In den befragten Bevölkerungsgruppen lehnte eine Mehrheit die „Trump“-artige Rhetorik nicht als offensichtlich rassistisch und polarisierend ab, sondern pflichtete ihr sogar bei.
Verglichen mit der Dog-Whistle-Panikmache hatte dieser „Ruf gegen den Rassismus“ bei Weißen keine Chance, was vielleicht nicht weiter überraschen darf. Er unterlag aber auch bei den Latinos, die sich nicht den People of Colour zurechnen.
Für diejenigen von uns, die sich als People of Colour definieren und erbost sind über Trumps Verunglimpfungen und den brutalen Umgang seiner Regierung mit lateinamerikanischen Zuwanderern, ist die Verurteilung von Rassismus gegen Latinos die naheliegende Strategie. Doch dieser Ansatz übersieht, dass die Mehrheit der Hispanics, die sich nicht als rassistisch diskriminierte People of Colour verstehen wollen, dieses ethnische Selbstverständnis gar nicht teilen.
Die zweite häufige Reaktion der Demokraten auf Dog-Whistle-Narrative ist es, Rassismusproblemen möglichst auszuweichen. Wir bezeichnen diesen Ansatz, den wir ebenfalls ausprobiert haben, als „Methode farbenblind“. In unserer Version hieß es unter anderem: Wir leben im historisch reichsten Land der Welt, und trotzdem ist die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle durch Covid-19 hier höher als in fast allen anderen Ländern. Wir müssen eine neue Führung wählen, die einen Plan hat und bereit ist, dieses Land wieder aufzubauen, und zwar besser als zuvor.
Nach diesem Ansatz soll eine Koalition gebildet werden, indem gemeinsame Interessen etwa im Bereich Gesundheit oder Wirtschaft herausgehoben, spaltende Auseinandersetzungen über Rassismus jedoch ausgespart werden. Da es aber der Dog-Whistle-Rassismus war, der die weiße Arbeiter- und Mittelschicht überhaupt erst von der Demokratischen Partei entfremdet hat, behält er, wenn er nicht direkt bekämpft wird, seinen Einfluss bei. In unseren Umfragen lag die Botschaft nach der „Methode farbenblind“ bei den Weißen und der Mehrheit der Hispanics etwa gleichauf mit der rassistischen Angstmache. Über den Ansatz „Rassismus und Klasse“ dagegen können Demokraten über gesellschaftliche Schichten und ethnische Gruppierungen hinweg gemeinsame Interessen verbinden.
Wir haben sieben Botschaften nach dem Prinzip „Rassismus und Klasse“ zu verschiedenen Themenstellungen ausprobiert, unter anderem bei der Zuwanderungs- und Justizreform. Bei den Weißen – die sich meist eher mit Narrativen ohne antirassistische Komponente anfreunden – hängen alle sieben das farbenblinde Narrativ ab. Fünf lassen die Dog-Whistle-Botschaft hinter sich oder erreichen ein Patt, was der „Methode farbenblind“ nicht gelingt.
Die Deutung von Rassismus als Waffe der sozialen Klasse erweist sich auch als wirksam, um Unterstützung für antirassistische Justizreformen zu mobilisieren. Die Menschen erkennen statt angeblich gefährlicher Minderheiten die mächtigen und spaltenden Eliten als die wahre Bedrohung für ihr persönliches Leben.
Joe Biden sollte in seinem Wahlkampf die Hispanics nicht als monolithischen Block betrachten, sondern als amerikanischen Mikrokosmos.
In unserem Versuch ist es gelungen, die Gefahrenquelle auf diese Art zu verschieben. Das Plädoyer für antirassistische Justizreformen in Botschaften, die dem Ansatz Rassismus und Klasse folgen, überzeugt Latinos, Afroamerikaner und sogar Weiße mehr als der bloße Ruf gegen Rassismus oder rassistische Panikmache.
Noch Mitte August gaben zwei Drittel der Latinos an, sie seien noch von keinem der Wahlkampfteams angesprochen worden. Das ändert sich gerade. Donald Trump scheint zu erkennen, dass viele Hispanics potentielle Wechselwähler sind, und geht bei den Latinos auf Stimmenfang.
Joe Biden sollte in seinem Wahlkampf die Hispanics nicht als monolithischen Block betrachten, sondern als amerikanischen Mikrokosmos. Einige Latinos verstehen sich als Weiße, andere als People of Colour, und wieder andere lassen sich in ihrem Leben möglichst wenig von der Frage der Hautfarbe beeinflussen. Die Diversität der hispanoamerikanischen Bevölkerungsgruppe – und der multiethnischen Koalition der Demokraten im Allgemeinen – fordert Parteistrategen einiges ab. Unsere Studie weist aber nach, dass es möglich ist, eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln, die auf einem breiten sozialen und ethnischen Spektrum Menschen überzeugt. Wenn Joe Biden den Blick auf Donald Trumps strategische Spaltungsbemühungen richtet, kann er besser dafür plädieren, dass die Zukunft von unserer Einigkeit abhängt.
© The New York Times
Aus dem Englischen von Anne Emmert