Es ist schon bemerkenswert: Mehreren Umfragen zufolge ist der Klimawandel für die Wählerschaft der Demokraten mittlerweile ein Top-Thema, ebenso wichtig wie die Krankenversicherung. Vielleicht noch bemerkenswerter ist, dass die Präsidentschaftskandidaten der Partei das offensichtlich auch ernst nehmen. Jay Inslee stützt seine gesamte Kandidatur auf dieses Thema, Beto O'Rourke versucht mit seinem Klimaplan seinen erlahmenden Wahlkampf wiederzubeleben, und Elizabeth Warren beruft sich in vielen ihrer berühmten Pläne auf die Erderwärmung.
Nun zog Joe Biden nach, als er auf seiner Website einen ausführlichen Klimaplan vorstellte. Nachdem Reuters seine Politik noch letzten Monat als „Mittelweg“ verspottete, der moderater ausfalle als der Green New Deal, wirken seine neuen Vorschläge doch recht offensiv und klingen in ihrem Ehrgeiz fast schon nach Bernie Sanders. Was die Vereinigten Staaten brauchten, sagt Biden, sei eine „Revolution der erneuerbaren Energien“.
Das Hauptziel dieser Revolution: „100 Prozent erneuerbare Energien“ in den Vereinigten Staaten bis 2050. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, extremer und langfristiger als die Verpflichtungen, denen sich das Weiße Haus unter der letzten demokratischen Regierung – die Biden stets als „Obama-Biden-Regierung“ tituliert – im Pariser Klimaschutzabkommen verschrieben hatte. Um dieses alte Pariser Ziel zu erreichen, mussten die Vereinigten Staaten zwischen 2016 und 2025 ihre CO2-Emissionen jährlich um 1,3 Prozent reduzieren. Um Bidens Ziel bis 2050 zu erreichen, müssen sie diese Marke 31 Jahre lang jeweils mehr als verdoppeln – auf 2,9 Prozent.
Selbst wenn weder Biden noch Warren Präsident werden, beweisen ihre Wahlprogramme, dass der Green New Deal in der Ideenschlacht der Demokraten zumindest vorerst den Sieg davonträgt.
Solange sich am 22. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten über die Amtszeitbegrenzung des Präsidenten nichts ändert und die Forschung für die Konservierung von Gehirnen keine unerwarteten Sprünge macht, wird Biden in 31 Jahren natürlich nicht mehr Präsident sein. Er schlägt auch kein bindendes Mandat vor, etwa eine CO2-Steuer oder einen Emissionsrechtehandel, damit das Land die Zielmarke bis Mitte des Jahrhunderts auch wirklich erreicht.
Stattdessen verspricht Biden, er werde alles dafür tun, das Bundesschiff auf Klimaschutzkurs zu bringen. Er kündigt an, er werde an seinem ersten Amtstag im Weißen Haus mehrere weitreichende präsidiale Erlasse unterzeichnen. So wird er börsennotierte Unternehmen dazu verpflichten, klimarelevante Kosten offenzulegen, staatliche Ausgaben des Bundes auf nachhaltige Energien auszurichten und den Ausstoß des besonders starken Treibhausgases Methan aus der Öl- und Gasförderung zu begrenzen. Außerdem wird „jede Genehmigungsentscheidung auf Bundesebene die Folgen der Treibhausgasemissionen und des Klimawandels berücksichtigen müssen“ – eine Strategie, die in den Auseinandersetzungen um die Ölpipelines Keystone X und Dakota Access womöglich ein anderes Ergebnis gezeitigt hätte.
Biden verspricht auch, dem Kongress Investitionen in Höhe von 1,7 Billionen Dollar abzunötigen, „die größte Investition aller Zeiten in die Erforschung und Innovation erneuerbarer Energien“. Mit diesem Geld wird ein Technologieentwicklungsprogramm nach dem Vorbild der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) finanziert, die Forschungs- und Entwicklungsprojekte für das Pentagon entwickelt. Dieses neue „ARPA-C“ wird sich auf die großen und überwiegend noch ungelösten Aufgaben der Dekarbonisierung konzentrieren, etwa Stromspeicherung, modernste Atomkrafttechnologie, CO2-Abscheidung, Emissionen im Flugverkehr und die CO2-freie Zement- und Stahlproduktion. Die bewährten Amtrak-Pendlerzüge sollen im Kongress als Zündfunken für die „zweite große Schienenrevolution“ dienen, damit die USA zu den Hochgeschwindigkeitsbahnnetzen Europas und Chinas aufschließen können. Biden will die Bahnreisezeit von New York nach Washington halbieren und die alte Bahnlinie an der Nordostküste – den Northeast Corridor – in den „schnell wachsenden Süden“ erweitern.
Und schließlich will Biden über verschiedene globale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds China und Indien zur Reduzierung ihrer CO2-Emissionen bewegen.
Ich habe hier nicht alle Details aufgeführt, das gesamte Programm ist 10 000 Wörter lang. Wie von Business Insider und The Daily Caller berichtet, hatte man an mindestens fünf Stellen des Plans Texte von Klimaschutzgruppen abgeschrieben. (Bidens Wahlkampfteam zufolge war das ein unbeabsichtigter Irrtum; die Zitate wurden mittlerweile gekennzeichnet.) Der Politikwissenschaftlerin Leah Stokes zufolge deuten diese Versehen darauf hin, dass das Programm in Reaktion auf die Pläne anderer Kandidaten eilig zusammengeschustert wurde.
Ein neues Fenster politischer Chancen hat sich geöffnet. Bidens 1,5 Billionen Dollar Staatsausgaben für das Klima erscheinen Beobachtern der politischen Rechten bereits als moderat.
Und Pläne, auf die man sich beziehen kann, gibt es jede Menge. Der Gouverneur von Washington Jay Inslee, der seinen Wahlkampf ausschließlich mit dem Thema Klimaschutz betreibt, kann auf ein detaillierteres und ehrgeizigeres Programm verweisen als Biden. Jüngst kündigte Inslee an, er werde dem Pariser Klimaschutzabkommen wieder beitreten und das Thema fest in der US-Diplomatie verankern. Sein Programm ist 50 einzeilig beschriebene Seiten stark.
Inslee erläuterte auch sein Ziel, Teile der US-Wirtschaft bis in die 2030er Jahre zu dekarbonisieren. Dafür übernahm er einige Bestandteile des Green New Deal. Die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die sich für den Green New Deal engagiert, bezeichnete einem Journalisten gegenüber Inslees Plan als „Goldstandard“. (Gegen ihn gibt es auch keine Plagiatsvorwürfe.)
Wenn jemand an Inslees Detailgenauigkeit heranreicht, so ist es Elizabeth Warren, die ebenfalls eine ehrgeizige Klimaschutzstrategie vorstellte. Wie ihre anderen Klimapläne, die sich mit Pentagon und Raumordnung befassen, zielt auch dieser auf den ersten Blick auf ein anderes Thema ab.
Warren bezeichnet es als „Wirtschaftspatriotismus“. Unter diesem Stichwort präsentiert die Präsidentschaftskandidatin und Senatorin aus Massachusetts ein umfangreiches neues Programm für klimafreundliche Investitionen für das verarbeitende Gewerbe, das aus den Vereinigten Staaten wieder einen bedeutenden Industrieexporteur machen sollen. Warren würde Gelder für Forschung und Entwicklung über alle Regionen des Landes verteilen und die US-Handelspolitik auf die Exportförderung ausrichten. Dieses Programm würde Hand in Hand gehen mit ihrem soeben veröffentlichten „Green Manufacturing Plan“, der 1,5 Billionen Dollar staatlicher Gelder für klimafreundliche Technologien verspricht. Auf höchster Ebene würde sie sich zudem dafür einsetzen, dass andere Länder diese neuen US-Techniken zu kaufen.
Warren will im Grunde das Vorbild einer gelenkten Volkswirtschaft wie in Deutschland oder Südkorea auf die Vereinigten Staaten übertragen und damit den Herausforderungen durch den Klimawandel begegnen. Wie ich im Februar schrieb, haben solche Ansätze – die oft als Industriepolitik bezeichnet werden, auch wenn Warren von „wirtschaftlicher Entwicklung“ spricht – Wurzeln in den Ideen Alexander Hamiltons. Deutlich beeinflusst werden sie auch von der ökonomischen Vordenkerin Mariana Mazzucato, die sich mit Ocasio-Cortez und ihren Verbündeten über den Green New Deal austauschte.
Und das ist kein Zufall. Selbst wenn weder Biden noch Warren Präsident werden, beweisen ihre Wahlprogramme, dass der Green New Deal in der Ideenschlacht der Demokraten zumindest vorerst den Sieg davonträgt. Auf seiner Website lobt Biden sogar explizit Ocasio-Cortez' Plan und bezeichnet ihn als „wichtiges Rahmenkonzept für die Bewältigung der Aufgaben, die uns der Klimaschutz stellt“. Und sowohl seiner als auch Warrens Plan übernehmen – wie auch Inslees Klimaschutzkonzept und O'Rourkes Programm – die darin beschriebene Theorie des Wandels, indem sie betonen, dass umfangreiche staatliche Investitionen der US-Wirtschaft bei der Lösung des Klimawandelproblems helfen können. Alle vier Programme versprechen in unterschiedlicher Ausprägung eine neue Epoche des Wohlstands, eine neue Ära amerikanischer Unerschrockenheit. Und sie zeigen, dass sich bereits ein neues Fenster politischer Chancen geöffnet hat, denn Bidens 1,5 Billionen Dollar Staatsausgaben für das Klima erscheinen Beobachtern der politischen Rechten bereits als moderat.
Im Washington Examiner bedachte die konservative Kommentatorin Tiana Lowe Bidens Plan mit verhältnismäßig großem Lob. Anders als der Green New Deal sei Bidens Konzept „nicht irrwitzig“, sondern ein eigenständiger „legitimer Klimaschutzplan“. Lowe lobte die Erwähnung der Atomkraft und den Blick auf chinesische und indische Emissionen. Sie hätte einmal genauer hinsehen sollen: Sämtliche Demokraten, ausgenommen vielleicht Bernie Sanders, würden moderne Atomkrafttechnologie finanzieren, und sicher würden auch alle versuchen, die Verschmutzung in Asien zu senken. Doch neben dem Green New Deal wirken diese vergleichsweise mutlosen klimapolitischen Ansätze auf die Rechte freundlich und effektiv. „Wenn abgesehen vom internationalen Aspekt, von Forschung und Entwicklung der Kernkraft und den Infrastrukturentwicklungen, die [Biden] ausführt, nichts in die Tat umgesetzt würde, ließen sich damit die Treibhausgasemissionen in der Realität stärker senken als mit einem 93 Billionen Dollar teuren Green New Deal“, schrieb Lowe.
Für die Anhänger des Green New Deal, die einen Sieg erkennen, wenn sie ihn sehen, mag das neu sein. Das Sunrise Movement, das für den Green New Deal wirbt, hält Bidens Konzept für deutlich besser als den „Mittelweg“, den er noch im letzten Monat vertrat. „Wir haben [Biden] gezwungen zurückzurudern, und heute veröffentlicht er einen umfangreichen Klimaschutzplan, in dem er den Green New Deal lobt“, hieß es dazu in einem Tweet. Es dürfte nicht das letzte Mal sein, dass nach eigenem Verständnis moderate Demokraten den angeblich so „unrealistischen“ Plan eben doch loben.
Aus dem Englischen von Anne Emmert
© The Atlantic Online 2019