In einem „Wirtschaftspopulismus“ sieht David Leonhardt, Kolumnist der New York Times, die erfolgversprechendste Strategie für die Demokratische Partei, 2020 den amtierenden US-Präsidenten Donald Trump zu besiegen. Es klingt sympathisch, wie er dies ausbuchstabiert: der „echte Populismus“ sei ein „Kampf für die kleinen Leute“ und diese neigten in den USA dem Populismus zu. Bill Clinton, Barack Obama und auch Donald Trump, sie alle seien als „Kämpfer für die Arbeiter“ erfolgreich gewesen – jedenfalls im Wahlkampf und an der Wahlurne. Doch während der Kandidat Trump dafür Republikanische Dogmen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verletzten musste, könnten die Demokraten darauf vertrauen, dass die Mehrheit der amerikanischen Wählerinnen und Wähler ihnen in diesen Fragen folgen, auch wenn ihre wertekonservativen und xenophoben Positionen bei anderen Themen davon ablenkten.

Klingt zu schön um wahr zu sein? Ist es auch. Und gefährlich ist es noch dazu. Dabei geht es weniger um die Schimäre der mehrheitlichen Befürwortung der wirtschafts- und sozialpolitischen Politik der Demokraten – die Wahlergebnisse zeigen wieder und wieder, dass diese Zustimmung oft von anderen, als wichtiger eingeschätzten Positionen überlagert wird: sei es zur Abtreibungsfrage, zur Homo-Ehe, zu Kriminalität und Drogen oder zum Waffenbesitz. Auch wenn es selbstverständlich Muster gibt, die von den Wahlkampfstrategen mit großem Aufwand ausgeforscht und genutzt werden: Interessen, Präferenzordnungen und die auf ihnen beruhenden politischen Handlungen entstehen auf komplexe, kontingente Weise. Und das ist auch gut so. Es zwingt Politiker und Parteien dazu, Menschen von sich und ihren Positionen zu überzeugen.

Die Interessen der Wählerinnen und Wähler sind eben nur in der Fantasie mancher Politikstrategen so kohärent und geschlossen.

Das größere Problem mit dem „Wirtschaftspopulismus“ ist aber seine Umarmung des Populismus als politische Strategie. Dass Leonhardt das Konzept so leichtherzig verwendet, mag mit der amerikanischen Geschichte zu tun haben. Im 19. Jahrhundert war die „Populist Party“, auf welche die moderne Verwendung des Populismusbegriffs zurückgeht, eine  kurzlebige progressive Kraft, welche den Versuch unternahm, Kleinbauern und Industriearbeiter gegen die Macht der Großunternehmer und Monopole zu mobilisieren. Sie ging bald in der Demokratischen Partei auf; insofern ist die Argumentation stimmig. Auch erlebten die Amerikaner den Horror des Faschismus und Nationalsozialismus nie im eigenen Land, auch die hasserfülltesten Schreihälse konnten bisher immer im System der „checks and balances“ eingehegt werden.

Doch wie im Falle des „linken Populismus“ der belgischen Philosophin Chantal Mouffe ist auch der Wirtschaftspopulismus vom Überdruss mit eben diesen „checks and balances“ geprägt, von dem Wunsch, all die prozeduralen Hürden, die in Demokratien vor erfolgreichen progressiven Reformen stehen, einmal mit der Macht des Mehrheitswillens wegwischen zu können. Angesichts der sozialen Ungerechtigkeiten, der skandalösen Einkommens- und Vermögensschere, den persistenten Disparitäten zwischen den Geschlechtern, den Steuersündern und den vielen anderen evidenten Problemen moderner Gesellschaften ist diese Ungeduld durchaus verständlich. Und hat man nicht tatsächlich die Mehrheit hinter sich? Die 99 Prozent? Die Lohn- und Gehaltsempfänger und ihre Familien, die doch sicherlich die Mehrheit aller Bevölkerungen in allen Industrieländern stellen? Wie gesagt: Deren Interessen sind eben nur in der Fantasie mancher Politikstrategen so kohärent und geschlossen.

Populismus, auch wenn er sich nicht hasserfüllt und ausgrenzend gegen Minderheiten richtet wie es der Rechtspopulismus tut, setzt regelmäßig auf die Gegenüberstellung eines imaginierten „Wir“ und eines imaginierten „Anderen“. Aber auch die Angehörigen des „einen Prozent“ sind Bürger, deren Interessen in einer pluralen Gesellschaft und Demokratie Berücksichtigung finden müssen. Zum Schutz von Minderheiten gegen die „Tyrannei der Mehrheit“ hatten die Väter der amerikanischen Verfassung ein politisches System entworfen, dass es eben schwer macht, per Gesetz radikale Veränderungen zu erreichen. Ohne Zweifel haben sie damit auch die Interessen der wirtschaftlichen Elite (der sie fast ausnahmslos angehörten) geschützt und sie haben, aus Eigeninteresse oder Naivität, die Gemeinwohlorientierung dieser und anderer Eliten maßlos überschätzt. Aber der Wert des institutionell angelegten Minderheitenschutzes – gemeint sind hier politische Minderheiten – zeigt sich immer dann, wenn er fehlt oder aufgrund von krisenhaft mobilisierten Emotionen und Ängsten überrollt wird. Der Brexit und seine immer noch unabsehbaren Folgen sind nur das aktuellste Beispiel.

Die Mühseligkeit des demokratischen Prozesses in den existierenden Verfassungssystemen ist ein Wert an sich, der auch gegen einen linken Wirtschaftspopulismus geschützt werden muss.

Damit soll nicht grundsätzlich gegen das Lieblingsinstrument populistischer Strategen – die direkte Demokratie – argumentiert werden, aber doch dagegen, diesem Instrument vorbehaltlos die großen, komplexen und Minderheiten existentiell betreffenden Fragen anzuvertrauen. Soll die „Tyrannei der Mehrheit“ institutionell durch ausbalancierte politische Gewalten und strategisch platzierte Vetospieler verhindert werden, erfordert dies von politischen Parteien, Bürgerinnen und Bürgern, im politischen Prozess mühsam „dicke Bretter zu bohren“: Das heißt, an verschiedenen Stellen Mehrheiten aufzubauen, zu verhandeln, Kompromisse einzugehen, und auch mit Niederlagen zu leben.

Wer kann nicht die Ungeduld angesichts der Ungerechtigkeiten der Welt verstehen? Aber die Mühseligkeit des demokratischen Prozesses in den existierenden Verfassungssystemen – so sie nicht schon beschädigt sind wie in Polen, Ungarn und der Türkei – ist ein Wert an sich, der auch gegen einen linken Wirtschaftspopulismus geschützt werden muss. Auch und gerade in den USA werden progressive Politikerinnen und Politiker nicht umhinkommen, geduldig Menschen von ihrem politischen Programm zu überzeugen, und sie müssen weiterhin mit den widersprüchlichen Interessen und Präferenzen dieser Menschen leben. Einen „klugen populistischen Wahlkampf“ kann es nicht geben.