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Glaubt man manchen amerikanischen Kommentatoren – und einigen europäischen Zeitungsberichten – dann findet in den USA gerade eine illiberale Revolution statt.  Nein, nicht der endgültige autoritäre Schwenk der Trumpisten, sondern eine linke Bewegung, die vermeintlich im ganzen Land Sprechverbote erlässt, Menschen im Namen von Identitätspolitik auf Hautfarbe sowie Herkunft reduziert und rigoros ideologisch motivierte Säuberungen in Kultur, Medien und Hochschulen durchsetzt.

Dieses Bild ist in zweierlei Hinsicht irreführend: Zwar kann man immer ein paar saftige Anekdoten über die Exzesse linker Anti-Rassisten finden, aber die vermeintlich jetzt alles beherrschende, mit neoprotestantischem Eifer betriebene „Cancel Culture“ bleibt ein marginales Phänomen. Zum anderen beruht die Kritik an dem, was man landläufig als <link regionen global artikel detail revolution-ohne-blutvergiessen-4564>Identitätspolitik bezeichnet, auf einem Missverständnis: Es geht überhaupt nicht darum, Menschen in irgendwelche Identitätsgefängnisse zu sperren; es geht vielmehr um die Einforderung von Grundrechten.

Im weitesten Sinne liberale Beobachter sehen in den USA die offene Gesellschaft bedroht, und die Drohungen kommen offenbar von rechts wie von links: Trump und seine Unterstützer seien schlimm, aber die intoleranten Linken auf dem Campus seien auch ganz <link regionen nordamerika artikel detail schuld-und-suehne-4501>fürchterlich – so oder ähnlich hört man es immer wieder. Was erklärt diese „zwanghafte Symmetrisierung“ (Jürgen Habermas)? Sie erlaubt es Journalisten, Professoren und Politikern, sich automatisch als die „vernünftige Mitte“ zu präsentieren: Wer gegen beide vermeintliche Extreme angeht, kann eigentlich nichts falsch machen – auch wenn er gar keine wirklichen politischen Inhalte, oder gar Ideale, anzubieten hat.  Es ist eine Art philosophische Trivialversion des Dritten Weges.

De facto resultiert sie in einer falschen Gleichsetzung: Die liberale Demokratie ist in den USA wirklich bedroht. Aber wohl kaum von Menschen, die – um ein Beispiel aus meinem unmittelbaren universitären Umfeld zu bemühen – den Rassismus des früheren Präsidenten Woodrow Wilson (der auch einmal Präsident von Princeton war) nicht langer beschönigen wollen. Sie ist vielmehr durch einen amtierenden Präsidenten gefährdet, von dem es lange, auch bei Liberalen, hieß, die bewährten amerikanischen Institutionen – checks and balances etc. – würden ihn schon einhegen. Man sei ja nicht Ungarn oder die Türkei. Doch haben sich viele dieser Institutionen – wie beispielsweise das Justizministerium – als Trump sehr gefügig erwiesen.

Die liberale Demokratie ist in den USA wirklich bedroht. Aber wohl kaum von Menschen, die den Rassismus des früheren Präsidenten Woodrow Wilson nicht langer beschönigen wollen.

Dies soll nicht heißen, dass man nicht Beispiele für übereilte Beschuldigungen von Rassismus finden kann oder intolerante Aktivisten, die Argumente erst gar nicht hören wollen. Aber dies sind, mit Verlaub, Einzelfälle. Es ist kein billiger Anti-Intellektualismus (nach dem Motto: Philosophie interessiert eh keinen) darauf hinzuweisen, dass in einem Land mit circa 4 500 Universitäten und Colleges „Business“ und „Health Professions“ nach wie vor die beliebtesten Studienfächer sind – und dass diese wohl kaum von irgendwelchen intoleranten Linken gelehrt werden.

Zumal in den USA das Abendland regelmäßig untergeht: Die heutigen Debatten, welche angeblich über die Zukunft der freien Gesellschaft entscheiden, haben sich Ende der achtziger Jahre und Anfang der neunziger Jahre schon einmal abgespielt, nachdem die Rechte den Kampfbegriff Political Correctness einführte, um die weißen Männer in den Bildungskanons zu verteidigen. Ja, schon in den fünfziger Jahren – kaum eine Blütezeit progressiven Denkens – beschwerten sich Konservative in den USA andauernd, die Universitäten seien von Linksradikalen beherrscht. Und damals wie heute ist de facto die Schlussfolgerung: Es braucht eigentlich affirmative action für Rechte.

Wie auch in anderen Ländern ist es empirisch kaum plausibel zu behaupten, es herrsche in den USA heute weniger Meinungsfreiheit als in früheren Zeiten: Im Gegenteil: auch dank des oft verteufelten Twitter sind heute mehr Stimmen im Gespräch als je zuvor (wobei – klar – der Ton im Gespräch manchmal auch viel rauer ist als in einer Ära, als bestimmte Eliten noch mit einer gewissen Bonhomie ganz unter sich waren). Was sich jedoch geändert hat: Man erntet heute oft Widerspruch, wo sich früher entweder keiner zu regen traute – oder wo er schlicht nicht breitenwirksam artikuliert werden konnte.

Viele derjenigen, die ihre vermeintliche „cancellation“ beklagen, fordern selber de facto, man solle ihre Kritiker mundtot machen (der Sachbuchautor Niall Ferguson beispielsweise, ein großer Streiter vor dem Herrn für free speech, drohte dem Schriftsteller Pankaj Mishra mit einer Klage wegen eines kritischen Aufsatzes). Sich selbst als liberal deklarierende Akteure sagen, es gehe wie in einem Debattierclub vor allem darum, alle Argumente zu hören. Daran ist prinzipiell nichts auszusetzen. Aber es geht manchmal eben auch darum, wer Zugang zum Club hat und bei wem sich alle abwenden, sobald sie den Mund aufmacht. Wer über Macht gar nicht erst reden will, hat sie meistens selbst fest im Besitz.

Wie auch in anderen Ländern ist es empirisch kaum plausibel zu behaupten, es herrsche in den USA heute weniger Meinungsfreiheit als in früheren Zeiten.

Und die viel gescholtene Identitätspolitk, die angeblich immer von dem eigentlich wichtigen Thema, nämlich Umverteilungspolitik, ablenkt? Die wachsende Unterstützung für Black Lives Matter hat gezeigt, dass es eben nie um vermeintlich für außenstehende unverständliche feinste Verästelungen von Identität ging – sondern um das effektive Einfordern von Grundrechten.  Jeder konnte auf einem Handyvideo sehen, was es bedeutet, von staatlichen Akteuren nicht nur grausam behandelt zu werden – sondern mit einem Grinsen, das da sagt: ich weiß, uns kann als Polizei nichts passieren.

Um bestimmte Formen von Ungerechtigkeiten zu verstehen, muss man auch erst einmal das Spezifische von Geschichten und heutigen Situationen benennen – eigentlich eine ganz triviale Einsicht.  Gerade diese Banalität wird aber von anti-Identitätspolitik-Aktivisten verneint; sie meinen, man müsse, um sich als wahrhaft liberal zu beweisen, immer sofort mit dem vermeintlich Allgemeinen und Verbindenden kommen.  Doch ist Politik in der ersten Person nicht der Endpunkt einer Auseinandersetzung über Ungerechtigkeiten, aber sie ist ein unverzichtbarer Anfang.  Oder, wie es der Philosoph Thomas McCarthy einmal formuliert hat: Die Opfer müssen das erste Wort haben; das bedeutet nicht, dass ihnen auch das letzte Wort zukommt.

Die Vorstellung, all das Identitätsgedusel sein ja nur eine Ablenkung von den eigentlichen harten materiellen Herausforderungen, ist politisch naiv.  Bei BLM oder auch #MeToo geht es nicht um eine endlose Gruppentherapie, sondern um die richtige Verteilung von Grundrechten – wie dem Recht, nicht von der Polizei erschossen oder von mächtigen Männern belästigt zu werden. Andersherum gilt: Bewegungen, welche <link rubriken soziale-demokratie artikel die-wut-der-kulturkrieger-4544>materielle Gerechtigkeit forderten, schufen auch immer kulturelle Identität bzw. versuchten, die spezifische Situation von Arbeitern zu verstehen.  Kurz gesagt: Identitätspolitik versus Interessenpolitik ist ein falscher Gegensatz.  Je eher man ihn überwindet – und sich sowohl auf substanzielle Ideale wie auch detaillierte politische Vorstellungen konzentriert – desto besser.