Beim Kandidatenangebot der US-Republikaner für die bevorstehenden Zwischenwahlen erreicht die Unmoral ganz neue Dimensionen. Kari Lake, die in Arizona als Gouverneurin kandidiert, will nicht zusagen, dass sie die Wahlergebnisse akzeptiert, falls sie verliert. Der Senatskandidat aus Pennsylvania, Mehmet Oz, ist in einen Skandal um Tierquälerei im Zusammenhang mit seinen medizinischen Forschungen verwickelt. Herschel Walker, der republikanische Senatskandidat aus Georgia, soll für eine Abtreibung bezahlt haben, obwohl er erklärter Abtreibungsgegner ist und noch nicht einmal bei Vergewaltigung, Inzest oder Lebensgefahr für die Mutter eine Ausnahme machen will. Zudem hat er seiner Frau eine Pistole an den Kopf gehalten, über seinen College-Abschluss und seine Karriere beim Militär sowie bei den Strafverfolgungsbehörden gelogen und obendrein verschwiegen, dass er noch drei weitere Kinder hat.
Und was sagten die Führungsspitze der Grand Old Party und den Republikanern nahestehende Medienvertreter dazu?„Ach, alles halb so wild.“ Das war jedoch nicht immer so. Walkers Skandal zeigt deutlich, wie sehr Heuchelei und Unmoral sich durchgesetzt haben. Bevor Donald Trump die Republikanische Partei gekapert hat, haben Republikaner dessen Polemiken öffentlich massiv kritisiert oder ihn sogar aufgefordert, seine Kandidatur zurückzuziehen. So erging es 2008 dem Kongresskandidaten Mike Erickson aus Oregon, der den Rückhalt der Abtreibungsgegner-Organisation Oregon Right to Life und später auch die Wahl verlor, als herauskam, dass er für die Abtreibung einer Ex-Freundin bezahlt hatte.
Diese Zeiten scheinen jedoch eine Ewigkeit her zu sein. Heute wiegeln die republikanischen Meinungsmacher ab, wenn es um das Treiben ihrer zwielichtigsten Kandidaten geht, und rechtfertigen es mit Gegenfragen wie „Und was ist mit Bill Clinton und Ted Kennedy?“ oder mit ehrlicheren Aussagen wie „Was soll’s? Wir brauchen diesen Senatssitz.“ Für diejenigen, die noch in einer Zeit aufgewachsen sind, als Moral und Charakter die Markenzeichen der Republikaner waren, ist das eine verblüffende Wendung. Die Reden von Ronald Reagan oder George W. Bush waren oft voller Lobeshymnen auf „unsere tief verwurzelten moralischen Werte und starken sozialen Institutionen“ und eindringlicher Mahnungen wie: „Was Amerikas Wirtschaft am dringendsten braucht, sind höhere ethische Standards.“
Vielleicht waren wir einfach zu naiv und haben uns von diesem Tugendgerede verblenden lassen. Die Grand Old Party hat schließlich auf der einen Seite immer wieder sexuelle Moral gepredigt und Skandale wie Bill Clintons Eskapaden im Oval Office verurteilt und auf der anderen Seite eigenen Leuten wie Newt Gingrich und Rush Limbaugh sexuelle Unmoral und Korruption durchgehen lassen. 2012 sagte das National Republican Senatorial Committee – der Wahlkampfarm der Republikaner im Senat – fest zu, es werde dem Kandidaten Todd Akin wegen einiger krasser Äußerungen über Vergewaltigung die Unterstützung entziehen, finanzierte seinen Wahlkampf aber heimlich weiter.
Bis vor ein paar Jahren hat die Republikanische Partei die Tugend wenigstens rhetorisch hochgehalten.
Allerdings gibt es zwischen damals und heute einen gravierenden Unterschied. Bis vor ein paar Jahren hat die Republikanische Partei die Tugend wenigstens rhetorisch hochgehalten, auch wenn sie dabei zu kurz gegriffen und mit zweierlei Maß gemessen hat. Ein Beispiel: Trumps moralische und charakterliche Schwächen waren allgemein bekannt, als er nominiert wurde. Jeder wusste oder hätte wissen müssen, dass er mutmaßlich korrupt und sexuell übergriffig war sowie Rassismus und ausländische Interessenkonflikte (zumindest) billigte, denn Trump hat sich mit den meisten dieser Laster lautstark und wiederholt gebrüstet. Trotzdem betrachteten die meisten führenden Republikaner ihn als Ausnahme innerhalb ihres moralischen Wertesystems. Die Republikaner hatten ihren moralischen Anspruch also noch nicht völlig aufgegeben.
2022 dagegen ignorieren oder pervertieren die Republikaner die Tugenden regelrecht. Trump hat Hunderte von republikanischen Kandidatinnen und Kandidaten auf den Plan gerufen, die seinen Lügen über die Wahlen 2020, seiner Korruption und seinem Stil der Auseinandersetzung nacheifern. Charakterlich fragwürdige Kandidaten wie Lake, Oz und Walker sind in der Grand Old Party eher die Regel als die Ausnahme. Einem alten Sprichwort zufolge ist Heuchelei der Tribut, den das Laster der Tugend zollt – aber die Republikaner geben die Heuchelei inzwischen auf und schlagen sich auf die Seite des Lasters.
Der Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, verteidigte seine ungebrochene Unterstützung für Walker und erläuterte den Standpunkt seiner Partei zu problematischen Kandidatinnen und Kandidaten so: „Er ist Republikaner, oder etwa nicht? Die magische Zahl lautet 51.“ (So viele Sitze braucht es für die Mehrheit im Senat.) Der Minderheitsführer im Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, geht noch einen Schritt weiter. Er hält standhaft zum geschmacklosesten Flügel der House Republican Conference – dem offiziellen Zusammenschluss der republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Zu diesem Flügel gehören unter anderem Marjorie Taylor Greene, die sich antisemitisch über „jüdische Weltraumlaser“ ausließ, und Paul Gosar, der Drohungen gegen andere Kongressmitglieder ausgesprochen hatte.
Derselbe Kevin McCarthy entzog noch vor drei Jahren dem bekennenden weißen Nationalisten Steve King seine Ausschussmandate. Außerdem verweigerte er King seine Unterstützung bei den Vorwahlen und besiegelte damit praktisch dessen Niederlage. Es ist schwer vorstellbar, dass McCarthy sich heute so verhalten würde, zumal es für ihn um besonders viel geht, denn er will Präsident des Repräsentantenhauses werden. Die gesamte Partei folgt dem Beispiel von McConnell und McCarthy.
Diese Mentalität wird Amerika in eine düstere Zukunft führen.
Diese nihilistische Einstellung zeigt sich, wenngleich in anderer Form, auch bei den Wählerinnen und Wählern der Republikaner. Es ist nicht so, dass sie das Fehlverhalten und die offene Heuchelei der republikanischen Kandidaten explizit gutheißen. Sie sind schlicht der Meinung, die Demokraten seien schlimmer. Diese Parteinahme in Abgrenzung zum politischen Gegner ist einer der Hauptgründe dafür, dass für republikanische Wählerinnen und Wähler solche moralischen und persönlichen Belange nicht mehr so entscheidend sind, wie das noch vor zehn Jahren der Fall war. Ein Mann aus einer meiner Fokusgruppen in Georgia sagte über die Abgeordnete Greene: „Wir brauchen sie als Gegengewicht zu den Spinnern auf der anderen Seite wie Alexandria Ocasio-Cortez und Konsorten.“
Diese Wählerinnen und Wähler sehen nicht ein, warum sie die eigene Seite durch strengere moralische Grundsätze benachteiligen sollten, denn sie sind der Meinung, dass die Demokraten das auch nicht tun. Ein Trump-Wähler aus Arizona brachte es so auf den Punkt: „Die Demokraten haben sich nicht um das Land gekümmert. Ihnen ging es nur darum, dass ihre Seite gewinnt.“
Wenn man das Fehlverhalten der eigenen Seite damit rechtfertigt, dass die Gegenseite noch übler sei, entsteht natürlich ein Problem: In letzter Konsequenz führt das zu immer schlechterem, unmoralischerem und korrupterem Verhalten, das im Zeichen des Stammesdenkens und der Abgrenzung vom politischen Gegner toleriert wird. Diese Mentalität wird Amerika in eine düstere Zukunft führen – oder vielmehr in eine noch düsterereZukunft. Von unserem gewählten Führungspersonal können und sollten wir mehr erwarten.
Während die Republikaner sich dem moralischen Nihilismus verschrieben haben, sollten die Demokraten alles daransetzen, sich als moralische Instanz zu etablieren. Die beiden großen Parteien richten sich nicht nur in politischen, sondern auch in charakterlichen Fragen neu aus. Biden gewann 2020 die Stimmen derjenigen Wählerinnen und Wähler, für die die wichtigste Charaktereigenschaft eines Kandidaten lautete: „Kann das Land einen“ oder „Hat ein gutes Urteilsvermögen“. Auch bei denen, die „Kümmert sich um Menschen wie mich“ zum wichtigsten Kriterium erklärten, schnitt Biden gut ab. Trump errang die Stimmen derer, die sich vor allem eine „starke Führungspersönlichkeit“ wünschten.
Auch wenn unsere politische Kultur in diesen Zeiten von Zynismus geprägt ist, gibt es nach wie vor ein Bedürfnis nach Anstand. Von Wechselwählerinnen und -wählern hörte ich als Begründung, warum sie nicht für Trump stimmen konnten, immer wieder: „Wie soll ich meinen Kindern Anstand beibringen, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten sich so verhält?“ Viele Amerikanerinnen und Amerikaner sehnen sich weiterhin nach moralischer Führung – oder zumindest nach gewählten Vertretern, bei denen es ihnen nicht peinlich ist, wenn ihre Kinder sie in den Nachrichten sehen.
Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin Persuasion.
Aus dem Englischen von Christine Hardung