Bei den Präsidentschaftswahlen in den USA könnte es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem designierten Republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump und der Demokratischen Kandidatin Hillary Clinton kommen. Mit entscheidend wird dabei auch die Höhe der Wahlbeteiligung sein und ob unterprivilegierte Wählerschichten zur Wahl zugelassen werden.
Durch die Mobilisierung weißer Wähler ohne College-Abschluss hofft Trump, gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton konkurrenzfähig zu werden. In der Tat gibt es im „Rust Belt“, den alten Industriestaaten der USA ein großes Potenzial enttäuschter Wähler und Nichtwähler, welches sich von den politischen Eliten nicht mehr vertreten fühlt. Bekanntermaßen setzen die Republikaner gern auf diese Klientel und schüren dafür deren Ängste und Ressentiments gegenüber Minderheiten. In der Vergangenheit beschränkten sie sich meist auf Anspielungen. Donald Trump hingegen lässt es an Deutlichkeit nicht fehlen. Angesichts der Aggressivität seiner Kampagne steht zu befürchten, dass auch die Kehrseite der Republikanischen Mobilisierungsstrategie – die Unterdrückung der Wahlbeteiligung von Demokratischen Wählergruppen – mit aller Konsequenz zum Tragen kommt.
Beide Strategien haben in der Republikanischen Partei eine lange Tradition, die bis zu ihren Vorgängern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Der Nativismus und Anti-Katholizismus der überwiegend protestantischen Republikaner hinderte sie daran, für die europäischen Einwanderer interessant zu sein, von denen viele Katholiken waren. Und weil die Demokraten die Neubürger insbesondere in den wachsenden Städten sehr effektiv in klientelistische Machtnetzwerke einbanden („political machines“), stieg für Republikaner der Anreiz, die Wahlbeteiligung dieser Gruppen zu beschränken, auch weil es bei der Registrierung dieser Wähler zu Unregelmäßigkeiten kam. Bis heute dient der Vorwurf der Wahlfälschung als Begründung für diesbezügliche administrative Maßnahmen; allerdings hat es in den letzten Jahrzehnten kaum mehr belastbare Erkenntnisse über tatsächlichen Missbrauch des Wahlrechts gegeben.
Doch wie können Wählerinnen und Wähler an der Wahl gehindert werden? Die Möglichkeit zur Beschränkung der Wahlbeteiligung ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass die Durchführung von Wahlen eine Angelegenheit der einzelnen Bundesstaaten ist. Zum zweiten müssen sich die Amerikaner für die Ausübung ihres Wahlrechts registrieren. Die amerikanische Verfassung, ihre Zusätze und einige Bundesgesetze regeln das Wahlrecht nur allgemein und sollen Diskriminierungen verhindern. Da aber auch diese Regelungen von den Regierungen der einzelnen Bundesstaaten durchgesetzt werden müssen und weil in den meisten Staaten die Wahlleiterposten parteipolitisch besetzt werden, bleibt ihre Umsetzung bis heute ein Problem. Seit der Oberste Gerichtshof im Jahr 2013 entschieden hat, dass wesentliche Bestimmungen des „Voting Rights Act“ von 1965 nicht länger umgesetzt werden müssen, haben die Versuche Republikanischer Regierungen, die Wahlbeteiligung von Minderheiten zu beschränken, wieder deutlich zugenommen.
Dieses Gesetz war eines der sichtbarsten Zeichen des Wandels der Demokraten, die in den 1960er Jahren von der Partei der Segregation zur Partei der Bürgerrechte wurden. In den Staaten des „alten Südens“, die im Bürgerkrieg für die Aufrechterhaltung der Sklaverei gekämpft hatten, konnten die Demokratischen Einzelstaatsregierungen mit verschiedenen Maßnahmen verhindern, dass schwarze Bürger von ihrem durch den fünfzehnten Verfassungszusatz garantierten Wahlrecht Gebrauch machen konnten (ab 1919 betraf diese sogenannte „Jim Crow“-Gesetzgebung dann auch schwarze Wählerinnen). Von scheinbar allgemeinen Maßnahmen wie Lesetests wurden weiße Bürger durch die sogenannten Großvaterklauseln ausgenommen. Das heißt, dass jene, deren Großväter schon das Wahlrecht hatten, den Test nicht machen mussten.
Die Wahlbeteiligung ist in den USA ohnehin seit langer Zeit sehr niedrig.
Die Republikaner, welche den Wandel der Demokraten dazu nutzten, um im Süden Zug um Zug die große Mehrheit der politischen Ämter zu gewinnen, übernahmen sowohl die „Politik der Angst“ vor Minderheiten und insbesondere Afro-Amerikanern, um weiße Wähler zu gewinnen, als auch die Strategie der Unterdrückung der Wahlbeteiligung von Schwarzen. Hinzu kam der Versuch, auch die Wahlbeteiligung der Latinos, welche überwiegend Demokratisch wählen, zu beschränken. Im Jahr 2000 trugen derartige Maßnahmen zum umstrittenen Sieg von George W. Bush in Florida bei, der dadurch Präsident werden konnte.
Die Wahlbeteiligung ist in den USA ohnehin seit langer Zeit sehr niedrig. In ihrer wichtigen Studie „Why Americans don’t vote“ führten die Sozialwissenschaftler Francis Fox Piven und Richard Cloward dies auf die Demobilisierungsstrategien beider Parteien zurück, die kein Interesse an einer hohen Wahlbeteiligung unterprivilegierter Wähler haben, weil sie ansonsten ja auf deren politische Forderungen eingehen müssten (so erklären sie auch, dass in den USA an einem Werktag gewählt wird). Gegenüber der Wall-Street-nahen Hillary Clinton stand ihr unterlegener Herausforderer Bernie Sanders unter anderem auch dafür, diese Demobilisierungspolitik zu ändern. Auch darum setzt er seine „politische Revolution“ fort. Der letzte groß angelegte Versuch, die Wählerregistrierung zu erleichtern war die sogenannte „Motor Voter Bill“ von 1993. Eine aktuelle Analyse der (mangelhaften) einzelstaatlichen Umsetzung dieses Gesetzes zeigt, dass gegenüber der Motivation, unterprivilegierte Wähler auszuschließen, das Ziel, afroamerikanische Wähler und Latinos von der Wahl abzuhalten, überwiegt: Je größer der afroamerikanische Bevölkerungsanteil, je niedriger deren Wahlbeteiligung und je weniger schwarze Behördenmitarbeiter, desto schlechter wurde das Gesetz umgesetzt.
Gleiches gilt für einige der einzelstaatlichen Maßnahmen vor und nach der teilweisen Aussetzung des „Voting Rights Acts“: Unterprivilegierte Wähler (und Studierende) stoßen auf Hürden, und für Angehörige von Minderheiten sind diese noch einmal höher. Das „Brennan Center“ hat einen Zusammenhang festgestellt zwischen der Erhöhung der Wahlbeteiligung von Minderheiten im Jahr 2008 (mutmaßlich durch die Kandidatur Barack Obamas) und der Einführung von Maßnahmen zur Erschwerung dieser Teilhabe.
Um welche Erschwernisse handelt es sich?
· Regeln, welche die Vorlage bestimmter Personaldokumente vorsehen (Pässe oder Führerscheine), andere aber ausschließen (Studierendenausweise), diskriminieren ärmere Teile der Bevölkerung, vor allem Minderheiten.
· Regeln, welche die Briefwahl oder eine frühe Wahl erschweren, benachteiligen die arbeitende Bevölkerung, weil die Wahl an einem Werktag stattfindet. Die Benachteiligung für Minderheiten wird dann durch die Unterfinanzierung und personelle Unterausstattung von Wahlstätten in deren Wohnvierteln erreicht, die zu langen Warteschlangen führen.
· Regeln, welche die Wahlbeteiligung von Straftätern ausschließen oder erschweren – insbesondere solche, die nach Verbüßung der Strafe gelten – benachteiligen Minderheitenwähler, weil deren Anteile an den Straftätern hoch sind (Beleg für eine andere Form der Diskriminierung, nämlich im Rechtssystem).
· Bei den regelmäßigen und grundsätzlich notwenigen Bereinigungen von Wählerlisten werden oft Regeln angewendet, die unterprivilegierte Wähler und Minderheiten benachteiligen. So werden etwa Wählerinnen und Wähler ausgeschlossen, die noch die Adresse eines gepfändeten Hauses verwenden.
· Oft werden private Firmen beauftragt, die Wählerlisten zu bereinigen, welche der regierenden Partei nahestehen. Signifikante Probleme gibt es auch mit den von privaten Firmen beschafften Wahlautomaten. In anderen Fällen wurden von privaten Firmen per automatisierten Telefonanrufen Fehlinformationen über Ort und Zeitpunkt der Wahl mitgeteilt oder ein angeblicher Wahlsieg des Demokratischen Kandidaten vorzeitig bekanntgegeben.
Das „Brennan Center“ hat einen Zusammenhang festgestellt zwischen der Erhöhung der Wahlbeteiligung von Minderheiten im Jahr 2008 (mutmaßlich durch die Kandidatur Barack Obamas) und der Einführung von Maßnahmen zur Erschwerung dieser Teilhabe.
Wenig überraschend kommen Studien zu dem Ergebnis, dass die diversen Maßnahmen vor allem Demokratische Wählergruppen betreffen und deren Wahlbeteiligung signifikant verringern. Eine aktuelle Studie von Wissenschaftlern der University of California, San Diego, zeigt, dass die Einführung strikter Gesetze zur Vorlage von Personaldokumenten bei den Vorwahlen in Staaten wie Texas, Georgia, Virginia und Wisconsin die Wahlbeteiligung von Latinos um 9,3 Prozent, die der Afroamerikaner um 8,6 Prozent und die der asiatischen Amerikaner um 12,5 Prozent gesenkt hat. Da diese Gruppen überwiegend Kandidaten der Demokratischen Partei wählen, schätzt die Studie, dass bei der Wahl im November die Demokratische Wahlbeteiligung um 8,8 Prozent sinken wird.
Damit ist aber keineswegs gesagt, dass nicht auch Demokratische Amtsträger und ihnen nahestehende private Akteure den Versuch unternehmen, die Wahlbeteiligung von Republikanern zu beschränken. Die weit verbreiteten Probleme bei der Durchführung von Wahlen in den USA sind auch von der nach 2000 eingesetzten „Election Assistance Commission“ nicht behoben worden. Organisationen wie die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und die American Civil Liberties Union (ACLU) reichen immer wieder Klagen gegen die Regierungen einzelner Bundesstaaten ein. Auch deshalb hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Zahl ihrer Wahlbeobachter für die US-Wahlen 2016 verfünffacht.
Eine belastbare Vorhersage des Effekts der diversen Maßnahmen zur Wählerunterdrückung auf den Ausgang der kommenden Präsidentschaftswahl ist kaum möglich; aber bei einem knappen Wahlergebnis ist die Wiederholung des Szenarios von 2000 denkbar. Sollte es beim Electoral College auf das Ergebnis aus einem oder zwei Bundesstaaten ankommen, könnte die dort auftretende Wahlstimmenunterdrückung durchaus entscheidend werden.
2 Leserbriefe
@JochenL: OSZE hat in der Vergangenheit schon Wahlbeobachter entsandt und (siehe Text) will 2016 die Zahl verfünffachen. :-)