Am Mittwoch wurde der Präsident der Vereinigten Staaten zum Anführer eines Putschversuchs. Ein randalierender rechter Mob probte den Staatsstreich, erstürmte gewaltsam das Kapitol und erzwang die Unterbrechung des Verfahrens, mit dem die Anerkennung der Wahl von Joe Biden und Kamala Harris die letzte Hürde nehmen sollte. Schon zuvor war dieses Verfahren von gewählten Mandatsträgern mit der haltlosen Behauptung gestört worden, die Wahl sei nicht rechtmäßig gewesen und hätte eigentlich dazu führen müssen, dass Trump Präsident bleibt.
Schon das war ein Putschversuch – ein Versuch, die Verfassung zu verletzen und den Wählerwillen außer Kraft zu setzen. Das Geschehen drinnen und das Geschehen draußen waren zwei Seiten einer Medaille, und die Aufwiegler waren in beiden Fällen führende Republikaner und der US-Präsident. Ohne die Politiker drinnen würde es den Mob draußen nicht geben. Die drinnen werden lautstark ihr Entsetzen und ihre Ablehnung äußern, aber sie sind für diesen Putschversuch verantwortlich.
Hätten Mitch McConnell und andere führende Republikaner Anfang November den rechtmäßigen Wahlsieger anerkannt und hätte die Regierung nicht die Rechtmäßigkeit der Wahl in Zweifel gezogen, hätte es keinen Mob gegeben. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, genug Wähler am Urnengang zu hindern, um ihrem Präsidenten den Sieg zu sichern, unternahmen die Republikanische Partei und die Trump-Regierung den Versuch, die Stimmen rückwirkend zu unterdrücken. Trump ermunterte den Mob, peitschte ihn über Monate auf und ließ ihn jetzt von der Leine – wie jemand, der Feuer an die Zündschnur einer Bombe legt.
Ich nenne den Sturm auf das Kapitol einen Putschversuch, weil damit verhindert werden sollte, dass Joe Biden Präsident wird – auch wenn dies vermutlich nicht gelingen wird –, und weil er Teil eines Feldzugs ist, der darauf abzielt, der neuen Regierung die Legitimität abzusprechen und sie damit zu schwächen. Dies hat sich lange angebahnt, denn seit Jahren wird der weiße Zorn und ganz besonders der Zorn weißer Männer von vielen Seiten geschürt – von Trump höchstpersönlich ebenso wie von der National Rifle Association, von Fox News und diversen rechten Experten, von der Republikanischen Partei, Wortführern der „White Supremacy“ und rechtsextremen Gruppierungen wie den „Proud Boys“.
Trump ermunterte den Mob, peitschte ihn über Monate auf und ließ ihn jetzt von der Leine.
Dieser Zorn richtet sich dagegen, dass andere Menschen vor dem Gesetz gleich sein könnten, dass Frauen und Menschen mit anderer Hautfarbe Regierungsämter übernehmen könnten, wenn man anfängt, die Macht gerechter zu verteilen. Aus diesem Zorn heraus wurde früher versucht, die Legitimität eines schwarzen Präsidenten zu untergraben, indem man seine Herkunft anzweifelte und seine Politik blockierte. Es ist ein Zorn, der sich gegen die Gleichberechtigung richtet.
Demokratie ist ein Katalog von Vereinbarungen, die besagen, dass Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen werden und alle das Resultat respektieren, ob es ihnen gefällt oder nicht. Die Gewalt, die wir auf dem Capitol Hill erlebt haben, ist autoritär. Sie ist der Versuch, andere Menschen zu zwingen, sich dem Willen der Gesetzesbrecher zu fügen. Diese Gewalt geht von den weißen Männern aus, die in diesem Land lange die Einzigen waren, die Macht hatten, und sich einbilden, sie würden geknechtet und an den Rand gedrängt, weil andere vielleicht auch Macht und ein Mitspracherecht haben.
Wir haben diese Männer im vergangenen Sommer erlebt, als sie mit halbautomatischen Waffen in das Parlamentsgebäude des Bundesstaates Michigan einfielen, und dann wieder, als einige von ihnen verhaftet wurden, weil sie die Entführung von Gretchen Whitmer, der Gouverneurin von Michigan, geplant hatten. Wir haben sie bei rassistischen Anschlägen erlebt, von der texanischen Grenze bis zur Synagoge in Pennsylvania.
Der Putschversuch in Washington war das Produkt der Ideologie der Gewalt, die immer ungenierter auftritt und die wir ständig aufs Neue erleben – in Form der Amokläufe, die im Amerika des 21. Jahrhunderts zur Normalität geworden sind, und in Form des Waffen- und Waffenbesitzrechtsfetischismus, der dazu geführt hat, dass die Tötungsmaschinen und die damit herbeigeführten Todesfälle zunehmend gang und gäbe sind und der Tod durch Schusswaffen den Verkehrsunfalltod als häufigste amerikanische Todesart mittlerweile abgelöst hat.
Während ich dies schreibe, höre ich im Fernsehen einen führenden Republikaner erklären: „Denkt daran: Wir sind die Partei von Recht und Ordnung“. Formal betrachtet, sind die Ausschreitungen am Kapitol in Washington natürlich gesetzeswidrig, aber wenn die beiden Begriffe als rechter Slogan daherkommen, bedeutet „Recht und Ordnung“, dass die Rechten das Gesetz sind und den anderen ihre Art von Ordnung aufzwingen. Autoritarismus ist immer eine Ungleichheitsideologie: Ich bestimme die Regeln, und ihr befolgt sie. Ich ändere die Regeln, wie ich es für richtig halte, und bestrafe die Ungehorsamen oder, wenn mir danach ist, auch die Gehorsamen – einfach deshalb, weil ich die Macht dazu habe.
Die Randalierer führen gerade vor, dass sie sich an nichts halten müssen und erwarten, dass sie alles bekommen, was sie bekommen wollen.
Der Politikwissenschaftler Frank Wilhoit sagte einmal: „Der Konservatismus kennt nur einen Lehrsatz: Es muss In-Groups geben, die unter dem Schutz der Rechtsordnung stehen, sich aber nicht an sie halten müssen, und daneben Out-Groups, die sich an die Rechtsordnung halten müssen, aber nicht unter ihrem Schutz stehen.“ Die Randalierer führen gerade vor, dass sie sich an nichts halten müssen und erwarten, dass sie alles bekommen, was sie bekommen wollen. „Anspruchsdenken“ ist für diese Haltung ein zu schwaches Wort.
Worum es in Amerika gerade geht, ist der Ausgang einer Wahl. Zugleich aber geht es um den Rechtsstaat und die Rechte der Wählerinnen und Wähler – und letztlich auch um die Autorität von Fakten und Beweisen, von Geschichte und Wissenschaft und darum, dass niemand das Recht hat, all dies im Interesse seines persönlichen Vorteils außer Kraft zu setzen. Trump stellte sich schon immer auf den Standpunkt, dass vor allem er sehr wohl dieses Recht hat.
Diese Haltung wurde heute krisenhaft auf die Spitze getrieben, als der Mob ein in der Verfassung verankertes Verfahren für die friedliche Machtübergabe sabotierte. Das musste so kommen, weil Trumps Macht von Rechts wegen von vornherein räumlich und zeitlich begrenzt war und er mit dem Recht schon immer auf Kriegsfuß stand und ihm stets eine Armee von Freiwilligen zu Diensten und bereit war, ihm zu diesem Recht zu verhelfen. Heute haben seine Anhänger tatsächlich wie eine Armee gehandelt – wie eine feindliche Besatzungsmacht in der Hauptstadt der Nation. Genau das wollte Trump; genau das hat er eingefädelt und auch bekommen.
Heute haben seine Anhänger tatsächlich wie eine Armee gehandelt.
Trump war der produktivste öffentliche Lügner, den Amerika je erlebt hat. Seine Lügen waren ein Kernbestandteil seines Autoritarismus. Er erkannte Fakten für sich nicht als verbindlich an – nicht einmal die Fakten, die er noch tags zuvor durch seine eigenen Aussagen und sein eigenes Handeln geschaffen hatte. Er nahm für sich ein Parallelnarrativ in Anspruch, das ihn als Wahlsieger sah, und stellte wie schon 2016 für den Fall, dass er verliert, sehr frühzeitig die Weichen für die Behauptung, die Wahl sei nicht rechtmäßig. Als Trump am Mittwoch die Menge per Videobotschaft aufforderte, nach Hause zu gehen, sagte er zu ihr: „We love you“. Zugleich bekräftigte er noch einmal, dass ihm der Wahlsieg gestohlen worden sei – was ja gerade der Grund war, warum die Menge überhaupt vor Ort war. Ivanka Trump löschte offenbar einen Tweet, in dem sie die Menge „amerikanische Patrioten“ nannte.
Die Trumps und die ihnen treu ergebenen Amtsträger werden sich von den schlimmsten Auswüchsen, die sich zugetragen haben, distanzieren. Sie werden so tun, als wären sie davon überrascht worden, und weiter Öl ins Feuer gießen. Über die Geschehnisse der vergangenen Monate wurde oft irrtümlicherweise so geredet, als gäbe es ein "Entweder-oder" – entweder werde Trump mit einem erfolgreichen Staatsstreich die Wahl stehlen, oder es werde einen Staatsstreich geben, der aber scheitert. Statt dieses Entweder-oder erleben wir jetzt ein tückisches Zwischending: die Delegitimierung des demokratischen Prozesses und der kommenden Regierung.
Dieser Zustand des Dazwischen beinhaltet, dass die Trump-Anhänger weiterhin der Meinung sind, ihr Anführer und sie selbst stünden über dem Gesetz und hätten das Recht, diesem Gesetz auf der Basis irgendwelcher Fakten, die ihnen am besten in den Kram passen, nach Belieben Geltung zu verschaffen. Sie sind dabei, sich eine Sonderrealität zu basteln, und wünschen sich anscheinend eine Schattenregierung, die der rechtmäßigen Regierung zusetzen und sie schwächen soll. Diese Schattenregierung haben wir heute in Aktion erlebt.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
© The Guardian