Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, der Great Recession, ist die US-amerikanische Linke nicht nur zahlenmäßig größer geworden, sondern auch politisch einflussreicher. Bernie Sanders, der schon sein ganzes Leben Sozialist ist, konnte bei den letzten beiden Vorwahlkämpfen um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten achtbare Resultate erzielen. Im Kongress ist das Bündnis der zum linken Flügel der Demokraten gehörendenden Abgeordneten, der sogenannte Progressive Caucus, auf über 100 Mitglieder angewachsen. Zudem konnten die Democratic Socialists of America (DSA) ihre Mitgliederzahlen um fast 1 000 Prozent steigern. Landesweit wurden etwa 150 DSA-Mitglieder in Ämter gewählt, darunter auch fünf als Abgeordnete ins Repräsentantenhaus. Und Joe Biden, der schon den Großteil seiner langen Karriere hindurch eine Politik der Mitte vertritt, hat sein Bestes getan, mit einer knappen oder auch gar keiner Mehrheit im Kongress die weitreichendsten nationalen Programme seit den sozialpolitischen Reformen (Great Society) der US-Regierung unter Präsident Lyndon B. Johnson durchzusetzen.

Treibende Kraft dieses Momentums sind junge Menschen. Die Generation Z in den USA wählt nicht nur häufiger demokratisch als ältere Jahrgänge, sondern gibt in Meinungsumfragen auch an, eine positivere Einstellung zum Sozialismus als zum Kapitalismus zu haben. Allerdings könnte ein Konflikt zwischen den Linken, die sich für konstruktive Ziele einsetzen, und denen, die das System als Ganzes zum Einsturz bringen wollen, einige oder alle Fortschritte aufs Spiel setzen. Zu den wichtigsten Personen im konstruktiven Lager gehören Sanders und die Abgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez , die mit ihren weniger bekannten Verbündeten im ganzen Land gerade eine der Demokratischen Partei nahestehende progressive Kraft aufbauen.

Gemeinsam mit gleichgesinnten Aktivisten aus verschiedenen sozialen Bewegungen kämpfen sie für die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung, einen Green New Deal, ein Gesetz zum Schutz der Vereinigungs- und Organisationsfreiheit von Beschäftigten sowie für das landesweite Recht auf Abtreibung. Ihnen ist bewusst, dass sie Millionen weiterer Menschen in den USA von ihrer Analyse, was im Land schiefläuft, und von ihrer Agenda, wie das zu beheben ist, überzeugen müssen, um all das zu erreichen. Bis dahin stimmen diese linken Aktivistinnen und Aktivisten mit den Demokraten und unterstützen die erneute Präsidentschaftskandidatur von Joe Biden.

Einige linke Aktivistinnen und Aktivisten verachten diese politische Gratwanderung als verräterischen Kompromiss.

Sanders erklärte im April: „Es ist meine Aufgabe – und ich denke auch die Aufgabe der progressiven Bewegung – sicherzustellen, dass [Biden] sich für die Arbeiterschicht dieses Landes einsetzt und nichts für selbstverständlich hält.“ Michael Harrington, der 1982 zu den Mitgründern der DSA gehörte, hatte seine sozialistischen Mitstreitenden damals dazu aufgerufen, sich für „den linken Flügel des Möglichen“ zu engagieren. Und genau darum bemühen sich Sanders und die ihm politisch Gleichgesinnten heute auch wieder.

Aber einige linke Aktivistinnen und Aktivisten verachten diese politische Gratwanderung als verräterischen Kompromiss mit einem teuflischen System. Im letzten Winter forderten mehrere Ortsgruppen und interne Ausschüsse der DSA, drei der Organisation angehörende Kongressabgeordnete auszuschließen, als sie sich nicht gegen Bidens Kompromissvereinbarung stellten, mit dem ein landesweiter Bahnstreik abgewendet wurde. Ein Ausschuss forderte, diese „Klassenfeinde rauszuschmeißen“, während ein anderer sich gegen jegliche Wahlunterstützung für 2024 aussprach, bis die DSA den Politikerinnen und Politikern, die sie unterstützt, eine „sozialistische Disziplin“ auferlegen kann.

Dass die drei „Abtrünnigen“ – Cori Bush, Jamaal Bowman und Alexandra Ocasio-Cortez – zu den lautstärksten und populärsten Linken im Kongress gehören, schien die kritischen Stimmen noch mehr anzuheizen. Die drei wurden beschuldigt, „der Bewegung den Rücken gekehrt zu haben, die sie in den Kongress gebracht hat“. Die Bostoner Ortsgruppe der DSA strengte sogar ein Ausschlussverfahren gegen einen Abgeordneten des Landesparlaments an, der die politische Sünde begangen hatte, der Demokratin Maura Healey bei ihrer mit großem Vorsprung gewonnenen Wahl zur Gouverneurin von Massachusetts seine Stimme gegeben zu haben. Dass Healey die erste Frau in diesem Amt ist – und die erste offen lesbische Frau, die als Gouverneurin eines Staates dient – spielte für diese Verfechterinnen und Verfechter des „linken Flügels des Unmöglichen“ keine Rolle.

Derart dogmatische Gesten führen nicht nur zu einer Kluft zwischen linken Aktivisten und den Politikerinnen, die sich am meisten für deren politische Ziele einsetzen, sondern lassen Sozialistinnen und Sozialisten wie Mitglieder einer ideologisch puristischen Sekte erscheinen und nicht wie Menschen, die sich um die Durchsetzung von Maßnahmen bemühen, die den arbeitenden Menschen helfen würden, mit denen sie sich angeblich identifizieren.

Aber ihr destruktives Potenzial verblasst vielleicht sogar gegenüber der Entscheidung des Philosophie-Professors Cornel West, 2024 als Präsidentschaftskandidat für die Green Party anzutreten. West ist nicht so berühmt wie Ralph Nader, der im Jahr 2000 als Leitfigur einer Drittpartei bei den Präsidentschaftswahlen in Florida 97 421 Stimmen gewann und damit George W. Bush zum Sieg in Florida und damit zur Präsidentschaft verhalf, denn dieser hatte die Wahl gerade mal mit einem Vorsprung von 537 Stimmen gewonnen. Als prominenter linker Intellektueller und glänzender Redner konnte sich West jedoch in akademischen Kreisen und sozialen Bewegungen eine Gefolgschaft aufbauen. Seine absurde Behauptung, Biden sei nichts als ein „ängstlicher Neoliberaler“, und sein Seitenhieb gegen die Demokratische Partei, nur Dienerin von „Krieg und Wall Street“ zu sein, könnte dafür sorgen, dass die Republikaner 2024 in den heiß umkämpften Bundesstaaten gewinnen. Die Versuchung, einen Kandidaten einer Drittpartei zu wählen, hat schon einmal dem linken Flügel des Möglichen geschadet und Wests Kandidatur könnte dies wieder tun.

Ein Riss im linken politischen Spektrum der USA ist kein neues Phänomen.

Ein Riss im linken politischen Spektrum der USA ist kein neues Phänomen. In den 1890er-Jahren musste sich der Gewerkschaftsbund American Federation of Labor gegen eine marxistische Gegenorganisation zur Wehr setzen, die darauf bestand, dass alle Gewerkschaftsmitglieder ihre radikale Partei unterstützen. Im Jahr 1919 führte ein bitterer Streit darüber, ob auch in den USA eine bolschewistische Revolution möglich sein könnte, zur Aufspaltung der Socialist Party in drei sich bekämpfende Lager. Die hauptsächlich aus Kommunisten bestehende Progressive Party schickte 1948 einen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen, der genug Stimmen hätte gewinnen können, um einem Republikaner den Weg ins Weiße Haus zu ermöglichen. Und 1968 brachten die Students for a Democratic Society, die größte Gruppierung innerhalb der überwiegen von Weißen getragenen New Left, ihre Verachtung für beide großen Parteien zum Ausdruck, indem sie am Wahltag Proteste organisierten und dazu aufriefen „mit den Füßen abzustimmen und auf den Straßen zu wählen“ („Vote With Your Feet, Vote in the Streets“).

Die heutigen destruktiven Linken nehmen, genau wie die aus früheren Zeiten, nicht wahr, dass die von ihnen verehrten sozialen Bewegungen nur dann große Siege erringen konnten, wenn es ihnen gelang, die Führung einer der großen Parteien davon zu überzeugen oder dazu zu zwingen, sich in einem dringenden Anliegen auf ihre Seite zu stellen. Für die Abschaffung der Sklaverei und Gewährung der Bürgerrechte an Schwarze war es von zentraler Bedeutung, dass sich die Gegner der Sklaverei der Republikanischen Partei anschlossen. Die Gewerkschaften konnten zwischen 1933 und 1945 mit der stillschweigenden, aber aktiven Hilfe von Franklin D. Roosevelt und den Demokraten, die den Kongress und die Regierungen in den großen von Industrie geprägten US-Bundesstaaten kontrollierten, fast zwölf Millionen neue Mitglieder rekrutieren.

Als Reaktion auf die Proteste der schwarzen Freiheitsbewegung unterstützte die überwiegend linksorientierte Partei unter der Führung von John F. Kennedy und Lyndon Johnson in den 1960er-Jahren Bürgerrechte, Wahlrechte und das Verbot von rassistischen Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt. Dann kam es innerhalb der Demokraten zu einem bitteren Bruch über den Vietnamkrieg, was dazu beitrug, den Großteil der weißen Arbeiterschicht und ländlichen Wählerschaft in die Arme der immer weiter nach rechts rückenden Republikaner zu treiben.

In einer Nation, die derzeit so deutlich zwischen zwei Parteien gespalten ist, könnten Radikale, die auf doktrinäre Reinheit beharren, die Koalition zwischen den konstruktiven Linken und dem linken Mainstream sprengen und damit die einzige tragfähige Alternative zu einer rechten Regierung zunichtemachen. Und mit ihren Predigten, dass ihre starre Ideologie der einzige Heilsweg für eine verderbte Nation sei, schrecken sie die große Mehrheit des amerikanischen Volkes ab, die nie ihre Ansichten teilen wird.

Michael Harrington bestand immer darauf, dass man an die Fähigkeit der einfachen Leute glauben müsse, für sich selbst einzutreten, und betonte seine moralische Verpflichtung, Hoffnung zu stiften. Vor Publikum sagte er immer wieder: „Wenn man daran glaubt, dass das eigene Land zu demokratischem Sozialismus fähig ist, muss man zwei Dinge tun: Erstens muss man eine große Liebe für und ein starkes Vertrauen in dieses Land haben. Man muss die Würde und Humanität der Menschen spüren, die trotz der Ungerechtigkeiten des Systems in diesem Land überleben und wachsen. Und zweitens muss man sich darüber im Klaren sein, dass sich die soziale Vision, für die man sich engagiert, niemals in der eigenen Lebenszeit verwirklichen wird.“ Eine Dosis dieser strategischen Bescheidenheit würde der gegenwärtigen Linken guttun.

Die Originalversion des Artikels erschien zuerst beim US-Analyseportal  The Liberal Patriot.

Aus dem Englischen von Ina Goertz.