Das Gespräch führte Nora Lambers.

Welche Bedeutung hat das Lager in Guantánamo zwanzig Jahre nach seiner Einrichtung noch für den sogenannten „Krieg gegen den Terror“?

Es hat gar keine Bedeutung mehr dafür. Das können Sie schon an der Anzahl der Gefangenen sehen. Es gibt noch neununddreißig Gefangene. Dass neununddreißig Personen selbst im schlimmsten Fall keinen Krieg gegen die USA führen können, ist irgendwie klar. Das Lager in Guantánamo ist ein Symbol geworden: Es steht für Folter durch die USA; für dauerhafte Inhaftierung ohne Anklage und ohne Verfahren; für die Bereitschaft der USA, auf rechtsstaatliche Verfahren zu verzichten und die Angeklagten vor Militärtribunale zu stellen, die rechtsstaatlichen Maßstäben nicht genügen; und für die Verletzung von internationalem Recht durch die USA im Rahmen des „war on terror“. Damit ist Guantánamo eigentlich eher kontraproduktiv und hat dem Ansehen der USA in der Welt massiv geschadet.

Das Lager in Guantánamo ist ein Symbol für die Verletzung von internationalem Recht durch die USA im Rahmen des „war on terror“ geworden.

Wie ist aktuell die Lage in Guantánamo?

Vor Obama wurde Folter systematisch und flächendeckend angewandt. Das geschieht heute nicht mehr. Unter der Obama-Administration wurde Guantánamo zu einem normalen Gefängnis ausgebaut und das ließ bereits damals vermuten, dass man sich darauf einstellte, die Menschen länger zu inhaftieren. Doch es ist natürlich nach wie vor rechtswidrig, Menschen unbegrenzt und ohne Anklage und Verfahren zu inhaftieren. Unter Trump ist kein einziger Gefangener entlassen worden. Jetzt, unter Biden, ist der erste herausgekommen. Es gibt sechs weitere Gefangene, die freigelassen werden könnten. Jetzt muss man sehen, inwieweit Biden seinen Versprechungen Taten folgen lässt. Obama hat es nicht geschafft, das Lager zu schließen, weil er die ersten zwei Jahre, in denen er in beiden Häusern des Kongresses Mehrheiten hatte, nicht dafür genutzt hat. Danach hatte er die Mehrheiten nicht mehr und damit war das Thema erledigt. Biden hat derzeit noch die Mehrheiten in beiden Häusern. Er muss in den kommenden zwölf Monaten handeln, sonst ist das Thema wieder für mindestens zwei Jahre vom Tisch.

Wie ernst ist es Biden mit der Schließung?

Die Biden-Administration hat bereits juristische Begründungen geliefert, warum man die Leute nach wie vor gefangenhält. Das ist sehr apologetisch und deutet darauf hin, dass keine allzu großen Energien darauf verwendet werden, das Lager zu schließen. Sprich: Die Schließung von Guantánamo ist auch unter Biden definitiv kein Selbstläufer. Wir müssen davon ausgehen, dass das Lager weiter betrieben wird.

Die Schließung von Guantánamo ist auch unter Biden definitiv kein Selbstläufer.

Liegt das auch daran, dass man die Insassen nicht in US-Gefängnisse verlegen möchte?

Nicht nur das. Ein weiterer Grund ist, dass Guantánamo auf Informationsgewinnung ausgerichtet war, und zwar Informationsgewinnung um jeden Preis. Dafür hat man in der Vergangenheit massiv gefoltert. Man hat versucht, durch die Einrichtung der Militärtribunale rechtsstaatliche Verfahren zu verhindern. In dem Augenblick, wo die Gefangenen auf amerikanischen Boden kommen und nicht mehr argumentiert werden kann, dass die amerikanischen Gesetze nicht gelten, haben sie ein Anrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Das hat mehrere Konsequenzen: Es wird eine gewisse Öffentlichkeit erzeugt, man muss alle Beweise offenlegen und die Beweismittel sind bestimmten Mindeststandards unterworfen. Verfahren auf amerikanischem Boden wären ziemlich wacklig, weil jeder Richter Beweise, die unter Folter erpresst wurden, ablehnen müsste. Miserable Beweise aufgrund von Gerüchten sowie Dritt- und Viertaussagen würden nicht gelten. Und die Öffentlichkeit würde erfahren, was damals im Lager passiert ist. Dies würde den Angeklagten vielleicht sogar noch Sympathien einbringen, und das will man natürlich nicht.

Was könnte alternativ mit den Insassen geschehen, wenn Guantánamo irgendwann doch geschlossen werden sollte?

Man würde wahrscheinlich versuchen, sie in ihre Ursprungsländer zurückzubringen. Aber auch das ist ein Problem. Wir wissen beispielsweise, was in China mit der muslimischen Minderheit der Uiguren passiert. In Guántamo gibt es einige davon. Auch die USA zählen zu denjenigen, die den Umgang Chinas mit den Uiguren scharf kritisieren. Deswegen wird diskutiert, dass man die Menschen gar nicht alle in ihre Herkunftsländer zurückschicken kann. Die USA stehen somit vor einem Dilemma.

Guantánamo kostet den amerikanischen Steuerzahler große Summen. Gibt es dagegen Protest? Oder interessiert das Lager niemanden mehr?

Das Problem ist auch bei diesem Thema die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Das Lager hat auch in den USA für negative Schlagzeilen gesorgt, denn viele Amerikaner sind der festen Überzeugung, dass ihr Land Hüter der Menschenrechte sei. Angesichts der Fotos, die aus Guantánamo kamen, und der durch Wikileaks aufgedeckten Berichte konnte dieses Bild nicht mehr aufrechterhalten werden. Aber diese Empörung ist weitgehend versiegt, weil kaum noch über Guantánamo berichtet wird. Letztendlich ist es eine politische Altlast. Kein Politiker kann mehr damit punkten, wenn er sagt, er möchte Guantánamo noch weiter ausbauen.

Die USA stehen vor einem Dilemma: Verfahren auf amerikanischem Boden wären wacklig; man kann die Insassen aber auch nicht alle in ihre Herkunftsländer zurückschicken.

War Guantánamo anlässlich des zwanzigsten Jahrestags der Anschläge von 11. September noch einmal Thema?

Nur am Rande, was sehr bedauerlich ist. Am heutigen 11. Januar 2022 jährt sich die Einrichtung des Lagers in Guantánamo zum zwanzigsten Mal. Amnesty International sorgt dafür, dass dieses Jubiläum nicht sang- und klanglos untergeht. Letztlich ist es so, dass es bei der Menschenrechtsarbeit zu Guantánamo immer wieder darum geht, die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass dort nach wie vor neununddreißig Menschen seit fast zwanzig Jahren ohne Anklage eingesperrt sind. Wir reden von einer Zeitspanne, wo in Deutschland ein zu lebenslanger Haft Verurteilter das Recht hat, einen Begnadigungsantrag zu stellen. Und diese Menschen haben nicht einmal eine Anklage. Die Weltöffentlichkeit darf diesen Skandal nicht vergessen. Am Anfang unserer Organisation Amnesty International stand 1961 der Artikel The forgotten prisonersim Guardian über Gefangene weltweit, die teils ohne Rechtsgrundlage jahrelang inhaftiert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Gefangenen in Guantánamo nicht zu forgotten prisoners werden.

Wir müssen dafür sorgen, dass die Gefangenen in Guantánamo nicht zu „forgotten prisoners“ werden.

Wie setzt sich Amnesty dafür ein, dass auf diesem Gebiet Fortschritte erzielt werden?

Wir haben Beobachter, die über die Militärtribunale berichten. Wir veröffentlichen in regelmäßigen Abständen Berichte über die Situation in Guantánamo. Wir möchten nicht kleinreden, dass einigen der Gefangenen sehr, sehr schlimme Taten vorgeworfen werden und dass diese Gefangenen sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht haben könnten. Aber wir fordern, dass die Verurteilung durch ein ordentliches Gericht passiert. Die amerikanischen Gesetze reichen vollkommen aus. Dafür braucht man keine zweitklassige Justiz oder ein Lager außerhalb des amerikanischen Staatsgebiets. Es ist wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass man den Terrorismus viel besser dadurch besiegen kann, dass man sich an die eigenen Werte und Gesetze hält.

Steht Guantánamo für Sie exemplarisch für Menschenrechtsverletzungen durch die USA?

Leider ist Guantánamo nicht das einzige Lager gewesen, das im Rahmen des Kampfes gegen Terrorismus eingerichtet wurde. Wir dürfen auch die CIA Black Sites nicht vergessen, die vor zehn Jahren aufgedeckt wurden und wo Menschen gefoltert wurden, mutmaßlich auch in Europa. Im Kampf gegen den Terrorismus haben die USA viele Menschenrechtsverletzungen begangen an verschiedenen Orten der Welt. Guantánamo ist nur das Symbol dafür.

Müsste es eine strafrechtliche Verfolgung geben?

Ja, die dafür Verantwortlichen müssten eigentlich vor Gericht gestellt werden. Vom mittlerweile verstorbenen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wissen wir, dass er explizit Folter genehmigt hat. Die Verantwortlichen müssen gesucht werden, die Schuldigen müssen vor Gericht gestellt werden.

Wie realistisch ist das?

Es ist leider sehr unwahrscheinlich. Der American Service Members Act sieht vor, dass US-Amerikaner, die vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt werden, mit Waffengewalt befreit werden können. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, geht leider gegen null.