Ein altes Sprichwort besagt, dass Amerikaner immer das Richtige tun, allerdings erst, nachdem sie alles andere probiert haben. Nun, derzeit müssen viele US-Amerikaner und auch die im Krieg stehenden Ukrainer dringend hoffen, dass sich diese ziemlich schmeichelhafte und oft unverdiente Vorhersage bis Mitternacht des 30. September bewahrheitet. Dann endet nämlich das laufende US-Finanzjahr, und es droht ein government shutdown, das heißt die Schließung aller nicht-essentiellen Einrichtungen der US-Bundesregierung. Die meisten Bundesbediensteten müssten dann ohne Bezahlung zu Hause bleiben. Als „essentiell“ gewertete Beschäftigte – insbesondere für Landesverteidigung, Sicherheit und Luftverkehr zuständige – müssten ohne Bezahlung weiterarbeiten. Immerhin: Inzwischen ist gesetzlich geregelt, dass sie alle nach Verabschiedung des neuen Haushalts ihre ausstehenden Gehälter ausgezahlt bekämen.
Da im Präsidialsystem der USA die Situation des geteilten Regierens (divided government) seit geraumer Zeit der Normalfall ist – denn keine der beiden Parteien ist strukturell so dominant, dass sie eine eigene Ära prägen könnte –, ist auch ein government shutdown fast Routine geworden: Seit 1976 gab es 20 dieser vorübergehenden Schließungen. Zuletzt waren es während der acht Jahre Barack Obamas 16 Tage, und während Trumps vier Jahren im Weißen Haus gab es sogar zwei Schließungen über insgesamt 37 Tage, darunter der mit 35 Tagen längste Shutdown der amerikanischen Geschichte vom 22. Dezember 2018 bis zum 25. Januar 2019. Klar, dass Trump auch in dieser fragwürdigen Disziplin Rekordhalter sein wollte.
Der Parteienstreit hat eine neue Qualität bekommen.
Für die Verabschiedung des Haushalts braucht es eben einen Kompromiss zwischen der Regierung und den beiden Häusern des US-Kongresses, und dafür müssen sich in der aktuellen Konstellation die regierenden Demokraten, die im Senat über eine knappe Mehrheit verfügen, und die Republikaner, die im Repräsentantenhaus ebenfalls nur knapp vorne liegen, einigen. Angesichts zunehmender ideologischer wie affektiver Polarisierung – sprich: gegenseitiger Verachtung – ist es wenig überraschend, dass die Kompromissfindung immer schwerer fällt. Doch der Parteienstreit hat eine neue Qualität bekommen. Es geht ganz grundsätzlich um eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen in beiden Parteien, die am Geschäft des Regierens interessiert sind, und denjenigen, die alle dafür notwendigen Kompromisse als „faul“ und „schmutzig“ ablehnen, und die bereit zu sein scheinen, für ihre Vorstellungen eines völlig anderen Staates dessen Funktionieren aufs Spiel zu setzen. Letztere finden sich ausschließlich in der Grand Old Party (GOP), wie die Republikaner genannt werden, und sie sind – wie schon im Frühjahr, als es um die Erhöhung der Schuldenobergrenze ging und die Kreditwürdigkeit der USA auf dem Spiel stand – zur Erpressung ihrer eigenen Fraktionsführung unter Speaker Kevin McCarthy und mittelbar der Regierung unter Präsident Joe Biden bereit. Manche Beobachter und Insider sprechen gar von einem „Bürgerkrieg“ innerhalb der GOP.
Die ungefähr 20 „Rebellen“ der burn-it-down faction haben die republikanische Fraktion in eine „clown show“ (Mike Lawler, New York) und einen „dysfunction caucus“ (Don Bacon, Nebraska) verwandelt, so die Aussagen einiger ihrer Fraktionskollegen. Was wollen sie mit ihrer Erpressungspolitik erreichen? Vordergründig geht es ums Geld: Die Ausgaben der Bundesregierung sollen drastisch gesenkt werden, ebenso die Staatsschulden. Dafür sollen Sozialleistungen weiter gekürzt, aber auch die Unterstützung der Ukraine eingestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Rebellen selbst in der eigenen Fraktion nur eine kleine Minderheit sind – und sie im Senat nur wenige Sympathisanten haben – besteht eigentlich keine Aussicht, dass sie sich durchsetzen können. Aber ihre Bereitschaft, auf alles oder nichts zu setzen und den Haushalt quasi in Geiselhaft zu nehmen, zeigt, dass sie das nicht weiter stört: Das Chaos, das sie auslösen können, dient ihrem übergeordneten Ziel der Delegitimierung der Bundesregierung, nicht nur, um Biden zu schaden, sondern ganz grundsätzlich. Gemäß ihrer kollektiven Wahnvorstellung wird die Bundesregierung von einer deep state genannten Verschwörung beherrscht, die das Land zerstören will.
Das Chaos dient dem übergeordneten Ziel der Delegitimierung der Bundesregierung.
Der informelle Anführer der Rebellen ist der Abgeordnete Matt Gaetz aus Florida (der gerade gute Nachrichten bekommen hat: Er wird kein „pardon“ von Trump brauchen, wie so viele seiner Kollegen; die Anklage wegen „sex trafficking“ wird fallengelassen). Gaetz hält eine temporäre Schließung für unproblematisch, wenn sie dabei hilft, den „finanziellen Ruin Amerikas“ abzuwenden. Sein Kollege Andy Biggs (Arizona) wird noch deutlicher: „Lasst Euch von der DC-Einheitspartei nicht einreden, dass ein Government Shutdown das Ende der Welt sei. Ein sogenannter Shutdown ist tatsächlich nur eine Unterbrechung von nicht-essentiellen Ausgaben des Bundes.“ Die von Gaetz angeführte Untergruppe des aus der Tea-Party-Bewegung hervorgegangenen Freedom Caucus in der GOP-Fraktion wird von manchen auch als Trump-Caucus bezeichnet, weil sie ihm und seiner Basis, die auch die ihre ist, so offensichtlich gefallen wollen. Und Trump feuert sie auf seiner Plattform Truth Social an, keine Kompromisse zu machen – wie schon im Frühjahr, als es um die Erhöhung der Schuldenobergrenze ging: „UNLESS YOU GET EVERYTHING“. Kein Wunder, für ihn geht es ja auch darum, ob das Justizministerium die Verfahren gegen ihn weiterführen kann.
Im Frühjahr gab es am Ende einen überparteilichen Kompromiss. Die Schuldenobergrenze wurde bis nach den Präsidentschaftswahlen ausgesetzt und Biden stimmte im Gegenzug zu, signifikante Haushaltskürzungen vorzunehmen. Doch die Rebellen, die damals davor zurückzuckten, ihre Drohung wahrzumachen und die Absetzung von Speaker McCarthy zu beantragen, halten sich nun nicht an diese Absprache – ihre Kürzungsforderungen gehen weit darüber hinaus. Deshalb stocken nicht nur die Verhandlungen über die einzelnen Haushalte für das kommende Finanzjahr, sondern es gelingt der GOP auch nicht, eine sogenannte Continuing Resolution (CR) zu verabschieden, mit der die Finanzierung der Staatsausgaben vorübergehend weiterlaufen würde, um Zeit für die Haushaltsverhandlungen zu gewinnen. Eine solche CR müsste dann sogar noch vom Senat verabschiedet und vom Präsidenten unterzeichnet werden – das heißt, was auch immer das Repräsentantenhaus verabschiedet, wäre nur der Einstieg in Kompromissverhandlungen, deren Ergebnis dann wieder eine Mehrheit bräuchte. Denn jegliche nur von der GOP unterstützte CR wäre im Senat dead on arrival. Unwahrscheinlich also, dass dies noch vor Ablauf der Frist klappt.
Kevin McCarthy, dessen GOP-Fraktion nur über eine Mehrheit von vier Stimmen verfügt und der erst nach fünfzehn Abstimmungsrunden zum Speaker gewählt wurde und dafür den Rebellen erhebliche Konzessionen machen musste, ist wieder in einer Zwickmühle. Gaetz und andere drohen unverhohlen, dass jeglicher überparteilicher Kompromiss einen Antrag auf Absetzung des Speakers zur Folge haben könnte. Diese Haltung kann man nur als Realitätsverweigerung bezeichnen, denn angesichts der Minderheitsposition der Republikaner im Senat und der Vetomöglichkeit für Präsident Biden laufen alle Verhandlungen auf einen überparteilichen Kompromiss hinaus. Vielleicht ist diesen Republikanern zu Kopf gestiegen, dass sie im politischen System der USA so begünstigt sind, dass sie wegen der strukturellen Überrepräsentation ländlicher Wählerinnen und Wähler zum Regieren oft genug keine Mehrheit brauchen.
McCarthy wirkt zunehmend verzweifelt.
McCarthy hat einiges versucht, doch noch Bewegung in die Verhandlungen seiner Fraktion zu bekommen. Gleichzeitig aber ist er mit der Vorbereitung eines fragwürdigen Impeachment-Verfahrens gegen Joe Biden beschäftigt – eine weitere Konzession an die Rebellen – und wirkt zunehmend verzweifelt. Welche Optionen gibt es? Zum einen könnte der Senat eine eigene CR auf den Weg bringen. Mehrheitsführer Chuck Schumer und GOP-Führer Mitch McConnell haben die Verhandlungen über einen überparteilichen Kompromiss aufgenommen. Allerdings haben einzelne Senatoren viele Möglichkeiten, den Gesetzgebungsprozess zu verschleppen und mit dem Neoisolationisten Rand Paul (Kentucky) gibt es mindestens einen Republikaner, der sich jeglicher Unterstützung der Ukraine, die ganz sicher Teil einer solchen CR sein würde, verweigert: „Wir haben das Geld nicht.“
Wenn es dem Senat dennoch gelänge, eine CR zu verabschieden, stünde McCarthy vor einer schwierigen Entscheidung: Lässt er über sie abstimmen, kommt es vielleicht auch im Repräsentantenhaus zu dem überparteilichen Kompromiss, der die Rebellen dazu bewegt, ihn abzusetzen – dann müssten ihn am Ende vielleicht sogar die Demokraten retten. Denn da es keinen mehrheitsfähigen Gegenkandidaten in den Reihen der GOP gibt, stünde die Handlungsfähigkeit des Repräsentantenhauses auf dem Spiel.
Auch dort gibt es eine überparteiliche Initiative. Moderate Abgeordnete beider Fraktionen überlegen, am Speaker vorbei eine Abstimmung über eine CR zu erzwingen. Dafür ist eine Mehrheit notwendig, aber auch hier gibt es prozedurale Hürden, die den Prozess verlangsamen. Für McCarthy könnte das eine elegante Lösung sein, denn dann hätte er persönlich nichts mit der Abstimmung zu tun. Aber Gaetz hat bereits deutlich gemacht, was dieser Kurs für jeden Republikaner bedeuten würde, der sich darauf einlässt: Sie unterzeichnen damit ihr politisches Todesurteil.
Ein government shutdown ist also wahrscheinlich. Bleibt die Frage, wer am Ende politisch davon profitiert. Bislang sind Versuche der Republikaner, demokratisch geführte Regierungen zu erpressen, bei den folgenden Wahlen meist zu ihren Lasten ausgegangen. Doch es sieht nicht so aus, als würde dies die Rebellen in der Fraktion beeindrucken. Ihre eigenen Wahlkreise werden von der trump-hörigen Basis dominiert.