Für viele war es ein Schock, als am 2. Mai die Amerikanerinnen und Amerikaner durch einen Leak erfuhren, dass der Supreme Court erwägt, das Grundsatzurteil Roe v. Wade zu kippen, das seit mehr als 40 Jahren amerikanischen Frauen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch sichert. Das Magazin Politico veröffentlichte den durchgesteckten Entscheidungsentwurf, nach dem die Mehrheit der Richter am Obersten Gericht der USA das Urteil Roe v. Wade ohne Wenn und Aber aufheben will. Vorerst handelt es sich bei dem Text, den der konservative Richter Sam Alito verfasste, nur um einen Entwurf ohne Rechtskraft. Rechtskräftig wird die Entscheidung – wie auch immer sie letzten Endes ausfällt – erst, wenn das Gericht sie veröffentlicht. Dies dürfte irgendwann im Juni der Fall sein. Es ist möglich, dass bis dahin weitere juristische Argumente ins Feld geführt werden oder die Richterinnen am Ende doch anders abstimmen. Manche Beobachter spekulieren, das Dokument sei veröffentlicht worden, um die konservativen Richter und Richterinnen auf ihre radikalen Positionen festzunageln. Andere vermuten, durch den Leak solle Druck aufgebaut werden, um eine Abschwächung der Entscheidung zu bewirken. Bislang sind allerdings weder das Motiv noch die Identität des geheimen Informanten bekannt.
Die Nachricht war auch deshalb ein Schock für alle Pro Choice-Anhänger und -Anhängerinnen, da die konservative Richtermehrheit am Supreme Court bis dato vor der Komplettaufhebung von Roe v. Wade zurückgescheut war, weil dies politisch ausgesprochen unpopulär wäre: 59 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner sind der Meinung, Abtreibung sollte in den meisten oder gar in allen Fällen erlaubt sein. Nur 28 Prozent wollen die Aufhebung von Roe v. Wade.
Sollte der Entwurf in seiner jetzigen Form veröffentlicht werden, würde Abtreibung in mindestens 26 Bundesstaaten zu einer Straftat.
Es geht um extrem viel. Sollte der Entwurf in seiner jetzigen Form veröffentlicht werden, würde Abtreibung in mindestens 26 Bundesstaaten zu einer Straftat. In diesen Bundesstaaten gelten entweder noch Abtreibungsverbote aus der Zeit vor dem Grundsatzurteil Roe v. Wade, oder es gibt dort sogenannte trigger laws, die im Falle der Aufhebung von Roe v. Wade Schwangerschaftsabbrüche sofort zu einer illegalen Handlung machen würden. In Bundesstaaten ohne solche trigger laws bliebe Abtreibung erlaubt, wobei diese Staaten die Abtreibung durch neue Gesetze unter Strafe stellen könnten. Außerdem könnte es, falls Roe v. Wade tatsächlich gekippt wird, zu einem Abtreibungsverbot auf Bundesebene kommen.
Die 2020 verstorbene liberale Supreme-Court-Richterin und Verfechterin von Frauenrechten Ruth Bader Ginsburg bezeichnete die Abtreibungsfrage als Volksabstimmung über die vollständige gesellschaftliche Teilhabe von Frauen. Die Option eines sicheren, rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs ermöglicht es Frauen, frei über ihre Lebens- und Familienplanung zu entscheiden. Dank der reproduktiven Selbstbestimmung können Frauen langfristige Ausbildungs- und Berufsziele verfolgen und müssen nicht befürchten, dass eine ungeplante Schwangerschaft ihre Pläne zunichtemacht. Das Recht auf Abtreibung ermöglicht Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit und sorgt dafür, dass sie nicht den erstbesten Mann heiraten müssen, von dem sie schwanger werden, und nicht zum Ausharren in einer Gewaltbeziehung gezwungen werden, nachdem ein gewalttätiger Partner sie geschwängert hat.
Das Schicksal des Abtreibungsrechts ist auf das Engste verknüpft mit dem zweiten großen Eckpfeiler der Frauenemanzipation – der Empfängnisverhütung.
Das Schicksal des Abtreibungsrechts ist auf das Engste verknüpft mit dem zweiten großen Eckpfeiler der Frauenemanzipation – der Empfängnisverhütung. Alito stellt in dem Entscheidungsentwurf ausdrücklich klar, das Recht auf Abtreibung sei in keinem Stadium der Schwangerschaft von der Verfassung gedeckt. Abtreibungsgegner gehen seit Jahren mit der falschen Behauptung hausieren, Pille und Notfallverhütung („Pille danach“) würden zu Abtreibungen führen. Sollten Gerichte diese Irrmeinung aufgreifen, könnten diese Formen der Geburtenkontrolle als Abtreibungsinstrumente ebenfalls gesetzlich verboten werden. Und die Frage ist offen, ob Alitos Argumentation eine Anfechtung des allgemeinen Verfassungsrechts auf Empfängnisverhütung erleichtern würde.
Seit der Entscheidungsentwurf durchsickerte, gehen Frauen aus allen Gesellschaftsschichten mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit und berichten, wie Schwangerschaftsabbruch ihre berufliche Karriere oder sogar ihr Leben gerettet hat.
„Kurz nach meiner Wahl war ich schwanger und stand vor der Entscheidung, ob ich die Schwangerschaft abbreche oder nicht. Ich entschloss mich zum Abbruch. Ich entschied mich erhobenen Hauptes für Familienplanung“, berichtete die Generalstaatsanwältin des Bundesstaates New York, Tish James, am Dienstagabend auf einer Pro Choice-Kundgebung. „Und ich werde mich dafür bei niemandem entschuldigen. Bei niemandem.“
In diesem Konflikt geht es nicht um Fakten, sondern um widerstreitende Gesellschaftsideale.
Die wahren Beweggründe der Konservativen für ein Abtreibungsverbot plauderte kürzlich der stramm rechte Kongressabgeordnete Matt Gaetz versehentlich aus: Er unterstellte Tausenden von Frauen, die für das Recht auf Abtreibung demonstrieren, sie hätten „zu viel Bildung und zu wenig Liebe abbekommen“ und seien „einsam“, weil sich auf ihre Dating-Inserate im Internet niemand melde. Abgesehen davon, dass es absurd ist, zu behaupten, Frauen würden das Recht auf Abtreibung einfordern, weil sie nie Sex hätten, beleuchtet Gaetz’ höhnische Bemerkung schlaglichtartig, warum bei Konservativen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch dermaßen verhasst ist. Gaetz macht alles schlecht, was im Leben von Frauen durch einen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht wird. Wenn Frauen sich im Fall einer ungeplanten Schwangerschaft nicht in einer frühen Ehe einfangen lassen, kann das in Gaetz’ sexistischer Gedankenwelt nur daran liegen, dass sie „zu viel Bildung abbekommen“ haben. Mit seinen Spekulationen über „Einsamkeit“ und „zu wenig Liebe“ setzt er außerdem Abtreibung mit Kinderlosigkeit gleich. Dabei ist statistisch erwiesen, dass viele Amerikanerinnen, die abtreiben, schon Kinder haben. Aber in diesem Konflikt geht es nicht um Fakten, sondern um widerstreitende Gesellschaftsideale.
In Teilen des rechten Spektrums spielt beim Opponieren gegen das Recht auf Abtreibung auch blanker Rassismus eine Rolle.
Diejenigen, für die das Abtreibungsverbot oberste Priorität hat, werden gelegentlich als „Ein-Thema-Wähler“ bezeichnet, aber dieser Begriff ist unzutreffend. Zwar ist die Abtreibungsfrage für diese Wählergruppe gegenwärtig das vorrangige Wahlthema, aber sie steht nicht isoliert für sich, sondern ist Teil einer weit umfassenderen Agenda. Innerhalb dieser Agenda hat das Thema Abtreibung Vorrang vor allen anderen. Diese Wählergruppe wünscht sich sehnlichst eine konservative Gesellschaftsordnung zurück, in der alle jung heiraten und Kernfamilien mit männlichem Oberhaupt bilden. In Teilen des rechten Spektrums spielt beim Opponieren gegen das Recht auf Abtreibung auch blanker Rassismus eine Rolle. Rechte Kreise haben eine Schwäche für die Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ und warnen, die in den USA geborenen Amerikanerinnen und Amerikaner seien dabei, durch nicht-weiße Einwanderinnen ersetzt zu werden. Ein Abtreibungsverbot ist eine Möglichkeit, für eine weiterhin hohe Geburtenrate der USA zu sorgen. Im vergangenen Jahr verteidigte Matt Gaetz den beliebtesten rechten Talkshow-Moderator der Vereinigten Staaten, nachdem dieser für die Theorie vom „Großen Austausch“ Partei ergriffen hatte. Die Abtreibungsdiskussion ist unter anderem eine Volksabstimmung über die Frage, ob die Vereinigten Staaten auch in Zukunft – wie in der Verfassung verbürgt – ein säkularer Staat sein werden. Immerhin führen Abtreibungsgegner und -gegnerinnen für das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs ausdrücklich christliche Argumente ins Feld.
Wenn sie sich beim Thema Schwangerschaftsabbruch durchsetzen, werden diese sozial konservativ eingestellten Wählerinnen und Wähler kurzerhand den nächsten Punkt auf ihrer Wunschliste in Angriff nehmen. Die Sozialkonservativen in den USA reden ständig von der Familie als „Grundbaustein der Zivilisation“, aber sie meinen damit nicht jede beliebige Form von Familie. Sie sind der Überzeugung, jede Familie sollte eine vielköpfige heterosexuelle Familie sein, in der der Mann das Sagen hat. Nach ihrer Vorstellung sollten Paare in jungen Jahren heiraten und viele Kinder bekommen. Für diejenigen, die dieses Lebensmodell attraktiv finden, ist das ein vornehmes persönliches Ziel. Doch wenn es nach den Sozialkonservativen geht, soll der Staat dieses Modell möglichst vielen Menschen aufzwingen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld