Sommerliche Temperaturen mag es in Washington, D.C. derzeit geben, eitel Sonnenschein herrscht für die Biden-Regierung aber kaum. Mehr als anderthalb Jahre nach Amtsantritt sieht sich der 46. US-Präsident vielmehr mit einer durchwachsenen Fast-Halbzeitbilanz konfrontiert: Das leidige Thema Corona ist zwar inzwischen weitgehend ad acta  gelegt, doch viele der ehrgeizigeren Programmvorhaben der neuen Regierung sind entweder in den Mühlen des Tagesgeschäfts versandet oder einen stillen Tod in den Senatsausschüssen gestorben. Dort, das kommt erschwerend hinzu, haben die Demokraten nach wie vor nur eine hauchzarte Mehrheit und sind insbesondere auf die Mitwirkung der beiden erklärten Moderaten Kyrsten Sinema und Joe Manchin angewiesen. Sagen die beiden No, dann war es das mit aller Reformherrlichkeit. Und No gesagt haben sie in den letzten Monaten häufig genug.

Zwar hat sich Bidens Lage zuletzt etwas gebessert – einerseits, weil es ihm doch noch gelungen ist, die demokratische Senatsfraktion auf seinen Inflation Reduction Act einzuschwören, andererseits aufgrund der Nachwehen der Supreme-Court-Entscheidung im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization – doch dürfte er sich dennoch mit Bauchschmerzendem Stolperstein nahezu jeder Nachkriegspräsidentschaft nähern: den für Anfang November angesetzten Zwischenwahlen, bei denen die Partei des Amtsinhabers traditionell abgestraft wird. (Der Letzte, der eine rundum positive Zwischenwahlbilanz verbuchen konnte, war George W. Bush 2002, also zu einer Zeit, als das Land geradewegs Richtung Irakkrieg taumelte.) Sollte sich nichts Grundlegendes mehr tun, dann wird wohl zumindest das Repräsentantenhaus an die Republikaner fallen und die Handlungsmacht der Regierung stark zusammenschrumpfen.

Abseits solcher Kräfteverschiebungen markieren die midterms aber auch noch eine weitere Zäsur, tritt der Präsident doch mit ihnen offiziell in die zweite Hälfte seiner Amtszeit ein. Der Zeithorizont verschiebt sich also unvermeidlich in Richtung des nächsten Wahlzyklus und gebiert die unvermeidliche Frage nach einer Zweitkandidatur: Nochmals antreten oder nicht? In der Regel eine reine Formüberlegung, wollte doch seit Lyndon B. Johnson kein Amtsinhaber freiwillig vom Kelch der Macht lassen und selbst bei Johnson brauchte es 1968 ein miserables Vorwahlergebnis, eine angeschlagene Gesundheit und viel parteiinternen Druck. Kaum anzunehmen, dass Biden hier die Ausnahme von der Regel darstellt, auch wenn nicht wenige Demokraten das gerne anders sähen. Gegenüber Vertrauten hat er jedenfalls bereits seine Bereitschaft bekundet und als gewiefter Machtpolitiker dafür gesorgt, dass die Öffentlichkeit über diese privaten Bekundungen nur allzu gut unterrichtet ist.

So könnte also alles seinen erwarteten Gang nehmen, wäre da nicht die vertrackte Altersfrage. Denn nicht nur auf die Zwischenwahlen steuert der Präsident diesen Herbst zu, sondern auch auf seinen 80. Geburtstag. Für Biden eine politische Hypothek; wäre er ein sportlicher Mittfünfziger (Jimmy Carter, 1980) oder gar ein jungenhafter Gerade-so-Fünfziger (Bill Clinton, 1996), niemand würde seine Eignung für und das Anrecht auf einen zweiten Versuch in Zweifel ziehen. Aber als 80-Jähriger hat man in der öffentlichen Wahrnehmung eben mit einem Umstand zu kämpfen, der sich der politischen Strategiesetzung entzieht. Nicht, dass es sich dabei um eine physiologische Zwangsläufigkeit handelt: Genauso wenig wie Kennedy oder Roosevelt zu jung für das Amt waren, ist Biden per se  zu alt dafür. Aber Politik lebt nun einmal von Narrativen und jeder Schwächemoment, jeder Aussetzer, jeder Altersdefekt erhöht den Druck auf den Präsidenten, jüngeren Kräften Platz zu machen. So oder so schwingt die Nachfolgefrage dieser Tage immerzu mit. Und mit ihr auch die Nachfolgeproblematik.

Biden zu ersetzen, könnte sich schwieriger herausstellen als gedacht.

Denn Biden zu ersetzen, könnte sich als schwieriger herausstellen als gedacht. Favorisiert im Falle eines Nichtantritts wäre sicherlich Vizepräsidentin Kamala Harris, die schon qua Amt einen gewissen Kronprinzessinnenstatus für sich in Anspruch nehmen kann. Allerdings hat die Kalifornierin bislang eine vergleichsweise schwache Figur abgegeben – desertierende Mitarbeiter, irritierende Medienauftritte und eine immer sichtbarer werdende Zerknirschtheit über fehlende Profilierungsmöglichkeiten inklusive. Dass das Ausfüllen eines so konturenarmen Amtes wie der Vizepräsidentschaft eine undankbare Aufgabe sein kann, steht außer Frage. Doch zeigt sich im Fall Harris auch eine gewisse Überforderung, die von der Anfangseuphorie um den historischen Erfolg der ersten Frau als Vize zunächst überschattet wurde. Politisch beschlagen mag Bidens Nummer 2 zwar sein, doch taugt sie abseits eines linksliberalen Küstenklientels kaum zur Sympathieträgerin. Selbst der viel gescholtene Mike Pence war nach anderthalb Jahren im Amt ein ganzes Stück beliebter.

Sollte Harris der Partei zu sehr Vabanquespiel sein, wäre Verkehrsminister Pete Buttigieg wohl der Nächste auf der Liste. Er gilt als dynamisch, ist bei den Großspendern der Partei beliebt und hat, anders als die Vizepräsidentin, mit einer starken Vorwahlkampagne 2020 bereits unter Beweis gestellt hat, dass er innerparteilich einige Zugkraft entwickeln kann. Erst als das Gros der Partei sich vor den Super-Tuesday-Wahlen auf Biden verständigt hatte, war er damals aus dem Rennen geschieden – hocherhobenen Hauptes und mit frischgewonnenem politischem Kapital. Gegen einen Präsidentschaftsbewerber Buttigieg spräche freilich ebenfalls einiges: In erster Linie wohl wiederum das Alter (2024 wäre er gerade einmal 42), doch auch seine Unerfahrenheit, seine kontrovers diskutierte Consulting-Vergangenheit und die schwachen Vorwahlwerte unter ethnischen Minderheiten werden immer wieder ins Feld geführt.

Insofern könnte es für Buttigieg die weisere Strategie sein, sich zunächst eine innerparteiliche Hausmacht aufzubauen und einen Senatssitz als klassisches Präsidentschaftssprungbrett anzuvisieren. Auffällig in diesem Zusammenhang: Erst kürzlich hat er seinen Wohnsitz aus dem tiefrepublikanischen Indiana nach Traverse City im battleground state Michigan verlegt – offiziell aus familiären Gründen, doch dass dort für die 72-jährige Senatorin Debbie Stabenow in absehbarer Zeit ein Nachfolger gesucht werden könnte, mag den Umzugswunsch positiv beeinflusst haben. In jedem Fall gäbe es gute Gründe, die Aussicht auf das mächtige US-Oberhaus den Tücken einer All-or-nothing-Kandidatur vorzuziehen. Zumal noch immer gilt, dass, wer einmal zu häufig in den Vorwahlen scheitert, politisch schnell verbrannt ist. Tief gefallene Möchtegernpräsidenten von Dennis Kucinich bis Rick Santorum können ihr Lied davon singen.

Am Ende gilt natürlich, dass die US-Politik ein ungemein schnelllebiges Geschäft ist.

Hinter dem Duo Harris/Buttigieg klafft bereits eine sichtliche Lücke. Bei Bernie Sanders ist der Lack wohl endgültig ab, Elizabeth Warren hat 2020 diverse Brücken zum progressiven Lager abgebrannt, Amy Klobuchar gilt als zu spröde, Beto O’Rourke kämpft dieser Tage um sein politisches Überleben und weder Tammy Duckworth noch Gretchen Whitmer und erst recht nicht die ewig herbeifantasierte Michelle Obama scheinen an einem Jobwechsel interessiert. Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom wäre nach mühelos überstandenem Abwahlreferendum eine Bewerbung schon eher zuzutrauen – doch ist kaum anzunehmen, dass er sich an seiner „Landsfrau“ Harris vorbeimanövrieren kann. Vielleicht also doch Roy Cooper? Die Bestallung des Gouverneurs von North Carolina käme inhaltlich einer Fortsetzung des Biden-Kurses mit anderen Mitteln (und anderer Ästhetik) gleich. Mehr ein vorsichtiges Update als ein neuer Produktlaunch, sozusagen.

Das Kalkül dahinter: Cooper strahlt Kompetenz und Ruhe aus, genießt gerade bei Unabhängigen einiges Renommee und wäre wohl das probateste Gegenmittel gegen einen republikanischen firebrand. „Er ist ein demokratischer Gouverneur aus einem purple state und hat in einem geteilten Staat regiert – das ist ein Erfolgsrezept“, zitiert The Carolina Journal etwa  den Politikwissenschaftler Chris Cooper (nicht mit dem Gouverneur verwandt). Eine Einschätzung, die (bis auf den purple state-Einschub) auch für Kandidaten wie John Bel Edwards oder Andy Beshear gelten würde. Fraglich scheint allein, ob ein weißer Mann mit dezidiert zentristischen Neigungen dem progressiven Parteiflügel im Jahr 2024 noch zu vermitteln sein wird. Dessen Enttäuschung über den wenig konfrontativen Kurs der Biden-Regierung könnte sich durchaus in einer Aversion gegen jede Mäßigungsstilistik niederschlagen. Schon heute deutet einiges darauf hin.

Am Ende gilt natürlich, dass die US-Politik ein ungemein schnelllebiges Geschäft ist. Vom Konklave heißt es bekanntermaßen, dass, wer als Papst hineingeht als Kardinal herauskommt – und mit dem Weißen Haus verhält es sich kaum anders. Wer hätte 2004 schon vermuten können, dass der damalige Senatsfrischling Barack Obama sich binnen vier Jahren an die Spitze kämpft? Oder 2012, dass der Reality-TV-Star Donald Trump mühelos Parteischwergewichte wie Ted Cruz und Marco Rubio aus dem Weg räumen kann? Es besteht also reichlich Potential für Überraschungen und shooting stars, was die demokratische Nachfolgeproblematik indes nicht einfacher gestaltet. Mag sie sich 2024 oder doch erst 2028 stellen: Während die Republikaner sich immer offener hinter Floridas populärem Gouverneur Ron DeSantis als Trump-Alternative formieren, klafft hinter der Integrationsfigur Biden eine gefährliche innerparteiliche Lücke.