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Die Aufstände in Reaktion auf die Tötung von George Floyd unterscheiden sich erheblich von allen bisher dagewesenen Protesten. Nicht nur, weil sie vielleicht die größten in der US-Geschichte sind oder weil die Menschen auch noch sieben Wochen später auf die Straßen gehen (selbst wenn die Medien sich weitgehend wieder anderen Themen widmen), sondern auch, weil die politisch Aktiven seit einigen Jahren kämpferischer denken.
Sie haben die Forderungen höher gesteckt – von einer „Streichung des Polizeibudgets“ über die „Abschaffung von Mieten“ bis hin zur „Einführung eines Green New Deals“, der den Status quo umkehren und die Macht von den Eliten auf die Arbeiterschicht umverteilen würde. Und nun haben sich auch ganz gewöhnliche Menschen den sozialen Bewegungen angeschlossen; diese haben dazu beigetragen, die Forderungen in einer Öffentlichkeit zu verbreiten, die durch die Pandemie und die Proteste mobilisiert wurde.
Die sozialen Bewegungen sind miteinander im Gespräch und unterstützen gegenseitig ihre Forderungen, während sie ihre Basis erweitern. Die Kampagnen zur Abschaffung von Mieten haben sich der Forderung angeschlossen, der Polizei die Mittel zu kürzen. In diesem Monat veranstalten Organisationen, die sich für Ethnien-, Klima- und wirtschaftliche Gerechtigkeit einsetzen, einen viertägigen Crash-Kurs zum Thema „Kürzung des Polizeibudgets“.
Die Forderungen bringen einen immer größeren Teil der Bevölkerung dazu, grundsätzliche Kritik am Status quo zu äußern und eine radikale Zukunftsvision zu entwickeln.
Jede Forderung zeigt eine neue Haltung der linkssozialen Bewegungen. Sie wollen nicht länger nur die Polizeigewalt reduzieren, unsere ökologisch unhaltbaren weltweiten Lieferketten umgehen oder Schonfristen bei Mietrückständen erreichen. Das wären Reaktionen von Reformern und politischen Eliten. Nein: Die Menschen, die diese Forderungen vorbringen, wollen eine neue Gesellschaft. Sie wollen einen Bruch – einen Einschnitt im Strafvollzug und bei der Polizei, ein Aus für Kohlenstoff und für Mieten. Sie wollen Berater statt Polizisten, sie fordern Wohnungen und Arbeit für alle. Viele Menschen halten das für naiv. Doch Meinungsumfragen, die hohe Beteiligung an den Protesten und die wachsende Mitgliederzahl der sozialen Bewegungen sprechen eine andere Sprache. Die Forderungen bringen einen immer größeren Teil der Bevölkerung dazu, grundsätzliche Kritik am Status quo zu äußern und eine radikale Zukunftsvision zu entwickeln.
Man denke nur an den Aufruf, der Polizei die Mittel zu entziehen oder sie ganz aufzulösen. Er wird inzwischen nicht nur von fast allen großen sozialen Bewegungen der Linken unterstützt, vom Black Visions Collective über Mijente bis hin zum Sunrise Movement. Er hallt auch auf den Straßen wider.
Die Kürzung der Mittel als Teil einer Strategie, die Polizei letztendlich aufzulösen, stellt die vorherrschende Logik von Polizeireformen infrage. Diese schreibt die Polizeibrutalität lediglich einigen schwarzen Schafen mit mangelndem Überblick und ungenügender Ausbildung zu. Es ist diese Vorstellung, die für die vertraute Palette an Reformen eintritt, z.B. Körperkameras, bürgernahe Polizeiarbeit und Workshops zur Bekämpfung unterschwelliger Vorurteile. Die Befürworter solcher Reformen behaupten, dass es weniger Gewalt gäbe, wenn die Polizei nur richtig ausgerüstet und kontrolliert würde. Allerdings weist nicht viel darauf hin, dass diese Annahme begründet ist.
Die Unruhen haben zudem mehr Raum geschaffen, mit den gescheiterten Versuchen liberaler Reformen abzurechnen und über Möglichkeiten nachzudenken, die Dinge auf eine radikal andere Art und Weise anzugehen.
Die Forderung nach einer Streichung der Mittel basiert dagegen auf der Annahme, dass es sich nicht um ein isoliertes Problem handelt und es auch nicht nur auf die Einstellung einiger weniger Beamter zurückzuführen ist. Sie stellt die Macht, die Ressourcen und den enormen Spielraum der Polizei infrage. Ganz gleich, ob diese aufgrund eines psychiatrischen Notfalls gerufen wird oder gegen einen Protest im Einsatz ist, ihr Training und ihr Instrumentarium sind auf Gewalt ausgerichtet.
Die Forderung nach einer Mittelstreichung geht in die Richtung dessen, was Rachel Herzing, eine Befürworterin der Abschaffung von Gefängnissen und Polizei, häufig sagt: Der einzige Weg zur Eindämmung von Polizeigewalt bestehe darin, die Kontakte zwischen Polizei und Öffentlichkeit zu minimieren. Die Proteste haben uns dazu gebracht zu überdenken, ob die staatlich sanktionierte Gewalt als Standardreaktion auf soziale Probleme richtig ist und ob die vielen Milliarden Dollar für Gefängnisse und für die Gehälter von über 800 000 vereidigten Ordnungshütern eine sinnvolle Ausgabe sind.
Die Unruhen haben zudem mehr Raum geschaffen, mit den gescheiterten Versuchen liberaler Reformen abzurechnen und über Möglichkeiten nachzudenken, die Dinge auf eine radikal andere Art und Weise anzugehen. Flickwerk und mehr Schulungen werden nicht verhindern, dass die Polizei alltäglichen sozialen Problemen mit Gewalt oder der Androhung von Gewalt begegnet.
Der Ruf nach einer Mittelstreichung zweifelt die Grundprämisse jeglicher Polizeiarbeit an: dass diese für Sicherheit sorgt. Er fordert uns auf, kollektiv Verantwortung für eine gemeinschaftliche Fürsorge, Abhilfe und Kompensation zu übernehmen. Er richtet unseren Blick auf anhaltende Probleme: dass beispielsweise Wohnungen für alle garantiert werden sollten, statt die über 567 000 Obdachlosen in den USA weiterhin zu verhaften und einzusperren.
Mit der Forderung, Mieten abzuschaffen, wird daher ein Staat heraufbeschworen, der sich mehr um die Bedürfnisse der Menschen kümmert als um Profite.
Das Ansinnen, der Polizei die Mittel zu streichen, geht häufig mit der Forderung einher, die Gelder an anderer Stelle einzusetzen, etwa im Bildungsbereich, im Wohnungs- oder Gesundheitswesen. Die Pandemie hat den eklatanten Widerspruch ans Tageslicht befördert: Auf der einen Seite sind weder medizinische Versorgung noch Lohn oder Unterkünfte für alle gesichert, nicht einmal persönliche Schutzausrüstung steht zur Verfügung. Diese Mängel haben vor allem in schwarzen Gemeinschaften verheerende Auswirkungen. Und auf der anderen Seite taucht die Polizei in Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Proteste in High-Tech-Ausrüstung und mit militärisch anmutenden Fahrzeugen auf, um Tränengas gegen Protestierende einzusetzen, sie niederzuknüppeln und zu verhaften. Da wird deutlich, wohin unsere Steuergelder fließen.
Die Forderung nach Mittelstreichung verlagert die Macht und unsere Ideen weg von der Polizei hin zu einer Gesellschaft, in der die kollektive Versorgung der einfachen Leute eine Selbstverständlichkeit ist. Sie führt uns sehr deutlich vor Augen, was wir aus unserer Gesellschaft gemacht haben und bietet eine Vision, wie sie stattdessen aussehen könnte.
Der Polizei die Mittel zu entziehen ist nicht die einzige Forderung. Daneben wird auch der Ruf laut, der Staat solle die Pflicht abschaffen, eine monatliche Mietzahlung an den Vermieter zu entrichten. Die Miete aber ist das Produkt eines privaten Vertrags über Privateigentum: das Fundament unserer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung. Mit der Forderung, Mieten abzuschaffen, wird daher ein Staat heraufbeschworen, der sich mehr um die Bedürfnisse der Menschen kümmert als um Profite. Sie bringt eine Welt ins Spiel, in der Wohnen ein Recht und keine Ware ist. Die Macht soll von den Vermietern auf die Mieter verlagert werden, mit der Absicht, Wohnraum für alle zu sichern.
Polizeigewalt, Erderwärmung und unerschwinglicher Wohnraum sind keine zusammenhanglosen Einzelprobleme, sondern ergeben sich aus Kolonialismus und Kapitalismus.
Und dann ist da auch noch die Umwelt. Beim Green New Deal geht es nicht nur um weniger Umweltverschmutzung, sondern um eine Umstrukturierung unserer Wirtschaft, damit wir zu sauberen, erneuerbaren Energiequellen wechseln können und zu Netto-Null-Treibhausgasemissionen kommen. Entsprechend verlangt der Green New Deal immense Investitionen in die öffentlichen Verkehrsmittel, eine Gesundheitsversorgung für alle, Schulgeldfreiheit an öffentlichen Schulen und Millionen von gutbezahlten grünen Arbeitsplätzen. Betont wird auch, dass hier alle miteinbezogen werden müssen, wobei Angehörigen von Minderheiten aus der Arbeiterschicht eine zentrale Rolle zukommen soll. Die Vision des Gesetzesentwurfs läuft der bisherigen staatlichen Praxis und den Diskussionsansätzen von Demokraten und Republikanern dermaßen zuwider, dass man seiner Phantasie schon freien Lauf lassen muss, um sie zu verstehen. Und genau das ist der Punkt.
Aktivisten bezeichnen diese Forderungen häufig als „nicht-reformistische Reformen“, ein Begriff, den der französische Sozialist André Gorz in den 1960er-Jahren prägte. Für sich allein sind Reformen eine müde Fortführung liberaler Politik und Gesetzlichkeit – von Experten angetrieben und auf Eliten zentriert. Selbst jetzt versuchen Experten, die Energie rund um die Forderung nach der Streichung von Mitteln für die Polizei in die immer gleichen alten Reformen zu lenken, und Bürgermeister genehmigen halbherzige Budgetkürzungen und verwässern damit die weitergehenden Forderungen.
Die Antwort darauf muss sein, sich weiter auf den Aufbau von Massenbewegungen zu konzentrieren, die alle Menschen einbinden und die Umgestaltung und Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums ernsthaft angehen. Das meint eine Umverteilung zugunsten diejenigen, die diesen Reichtum geschaffen haben: „die Arbeitenden, die Armen, die indigene Bevölkerung, der globale Süden, Frauen, Zugewanderte, die den Boden Bewirtschaftenden und der Boden selbst“ – wie es im Red Nation’s Red Deal heißt. Auch hier sind die Verbindungen zu sehen – zwischen dem Widerstand der indigenen Bevölkerung, Umweltgerechtigkeit und vielem mehr.
Die linken Bewegungen von heute sehen unsere Krisen als übergreifend an. Polizeigewalt, Erderwärmung und unerschwinglicher Wohnraum sind keine zusammenhanglosen Einzelprobleme, sondern ergeben sich aus Kolonialismus und Kapitalismus. Die Organisatoren der Proteste rufen dies in Erinnerung und erzählen von Freiheitskämpfen.
Und was auch immer man von ihren Forderungen hält, so muss man doch bewundern, wie sie eine neue politische Bewegung ins Leben rufen. Die Linke belässt es nicht bei beißender Kritik, sondern bietet praktische Einstiege in radikale Visionen. Ihre umfassenden Forderungen schaffen den Boden für multiethnische Massenbewegungen – unsere einzige Hoffnung auf eine gerechtere Zukunft.
Aus dem Englischen von Ina Görtz
(c) The New York Times 2020