Wenn es nach den Zahlen geht, hat Joe Biden allen Grund zur Zuversicht. In dem von FiveThirtyEight und RealClearPolitics veröffentlichten Durchschnitt der Umfragen liegt er deutlich vor Donald Trump. Der US-Präsident steht vor einer nahezu unüberwindbaren Mauer. Noch nie gab es in Amerika einen Präsidenten, der schon von den ersten Monaten seiner Amtszeit an mehr Ablehnung als Zustimmung erntete. Zwei Wochen vor der Wahl waren mehr als 50 Prozent aller Wähler der Meinung, dass er schlechte Arbeit leiste, und hatten vor, für den Kontrahenten zu stimmen. Viele haben das inzwischen schon getan.
Trotzdem findet Trumps Politik immer noch die Zustimmung von 43 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner. Man bedenke, was das für die beiden großen Parteien und für das Land bedeutet: Diese Wähler finden Trump immer noch gut, nachdem über 215 000 Menschen am Coronavirus gestorben sind, nachdem 25 Millionen Arbeitslosenhilfe beantragen mussten, nachdem die New York Times aufdeckte, dass Trump im ersten Jahr seiner Präsidentschaft gerade einmal 750 Dollar an Steuern gezahlt hat und bei seinen Gläubigern mit dreistelligen Millionenbeträgen in der Kreide steht, und nachdem The Atlantic berichtete, der Präsident habe im Kampf gefallene Soldaten als „Trottel“ und „Verlierer“ bezeichnet.
Doch selbst wenn die Demokraten die Präsidentschaftswahl gewinnen – und vielleicht obendrein in beiden Kammern des US-Kongresses die Mehrheit holen –, werden sie nach Trumps Ausscheiden mit massiven Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Denn sie müssen nicht nur ihre eigene Koalition im Kampf gegen das Coronavirus und die coronabedingte Wirtschaftskrise zusammenhalten, sondern auch mit der erbitterten Opposition derjenigen Wähler rechnen, die Trump unbeirrt weiter unterstützen. Die verbleibenden Teile der Republikanischen Partei werden wohl kaum rhetorisch abrüsten und mit einer neuen Regierung kooperieren, sondern sich eher in eine noch extremere Richtung entwickeln. Das war auch in der Vergangenheit schon so.
Bei den Vorwahlen zeigten sich die Demokraten in ihrer heftigen Aversion gegen Trump geeint: Rund 85 Prozent missbilligten entschieden seine Arbeit als Präsident, und die meisten stimmten ganz gezielt für den Kandidaten, dem sie am ehesten zutrauten, ihn zu schlagen. Im Wahlkampf konnte Biden 95 Prozent der Demokraten hinter sich versammeln und gewann außerdem die Unterstützung von Unabhängigen und Republikanern, die der Amtsinhaber verschreckt hatte.
Bei den Vorwahlen zeigten sich die Demokraten in ihrer heftigen Aversion gegen Trump geeint.
Wenn sie die Wahlen gewinnen, werden die Demokraten in großer Einigkeit eine gemeinsame Agenda in Angriff nehmen, um das Coronavirus zu bekämpfen, die Bundesstaaten, Städte, Menschen und vor allem die besonders Bedürftigen wirtschaftlich zu entlasten, massiv in die Infrastruktur zu investieren, eine neue staatliche Krankenversicherung nach Medicare-Vorbild zu entwickeln, ein neues Großforschungsprojekt zur Bewältigung des Klimawandels auf die Beine zu stellen und vieles mehr. Die immensen Herausforderungen werden die Demokraten zusammenführen. Das gilt erst recht für den Fall, dass der Supreme Court den häufig als Obamacare bezeichneten Affordable Care Act für verfassungswidrig erklärt.
Es gibt aber auch allerhand Trennendes. Die Demokraten sind in zwei ungefähr gleich große Lager gespalten: hier die Liberalen, dort die Gemäßigten und Konservativen. Die wachsende Fraktion der Millennials und noch Jüngeren wird die Partei zwar zukünftig noch stärker auf einen liberalen Kurs bringen, aber bei den Vorwahlen kam Bernie Sanders nicht einmal auf 30 Prozent. Die progressive Wählerinitiative „Justice Democrats“, die von Sanders' ehemaligen Wahlkampfstrategen gegründet wurde, konnte zwar bei der Bewerberauswahl für die Wahl zum Repräsentantenhaus einige prominente Demokraten aus dem Rennen werfen, blieb bei anderen Vorwahlen aber erfolglos.
Die abtrünnigen Republikaner, die zu den Demokraten überlaufen, stärken zudem das gemäßigte Lager, und im Kongress führt die wachsende Unterstützung für die Demokraten in den Vorstädten dazu, dass die Vereinigung der moderaten Abgeordneten, die „New Democrat Coalition“, mehr Zulauf hat und inzwischen größer ist als der „Congressional Progressive Caucus“, der Zusammenschluss der Abgeordneten des linken Flügels.
Im Vergleich zu den Problemen, vor denen die Republikaner nach der Ära Trump stehen werden, wirken die innerparteilichen Unterschiede bei den Demokraten allerdings ziemlich überschaubar. Trump rekrutierte einst seine Basis aus der rebellischen regierungs- und einwanderungsfeindlichen Strömung, die während der letzten Rezession als „Tea Party“ zu Bedeutung gelangte. Dann schmiedete er ein Bündnis mit den Evangelikalen und versprach ihnen, Bundesrichterposten – auch am Supreme Court – konsequent mit Kandidaten zu besetzen, die gesellschaftlich konservative Positionen vertreten.
Auch mit den stramm katholischen Abtreibungsgegnern in seiner Partei, zu deren prominenten Vertretern Justizminister William Barr zählt, baute Trump eine starke Allianz auf. Somit wurden Trumps Kampagnen von einer Koalition getragen, die schätzungsweise 65 Prozent seiner Partei ausmacht. Dabei verlor er zwar bei den Wechselwählern, konnte aber seine eifrigsten Anhänger bei der Stange halten. Von den Wählern, die mit Trumps Arbeit zufrieden sind, sind rund 70 Prozent sehr treue Gefolgsleute des Präsidenten.
Im Vergleich zu den Problemen, vor denen die Republikaner nach der Ära Trump stehen werden, wirken die innerparteilichen Unterschiede bei den Demokraten allerdings ziemlich überschaubar.
In rund 15 Bundesstaaten sitzt die Republikanische Partei heute an den Schalthebeln der Macht und wird auch weiterhin erfolgreiche Politiker nach Washington schicken, die in Repräsentantenhaus und Senat gegen Einwanderung, sozialen Liberalismus, Multikulturalismus und ein gleiches Wahlrecht kämpfen werden. Im Augenblick haben die Republikaner jedoch alle Mühe, in Bundesstaaten wie North Carolina, Georgia, Florida und Texas die Oberhand zu behalten, in denen es große Ballungsräume gibt, die Zahl der Einwanderer und Hochschulabsolventen zunimmt und sich Schwarze und Latinos verstärkt politisch engagieren. Hinzu kommt, dass die führenden Republikaner in diesen Bundesstaaten offenbar im Begriff sind, denselben selbstzerstörerischen Kurs einzuschlagen wie ihre Parteifreunde einst in Kalifornien.
Es ist eine Generation her, da waren die kalifornischen Republikaner die ersten, die auf die durch die Einwanderung aufkommenden wirtschaftlichen und kulturellen Ängste reagierten. Mit Blick auf die wachsende Latino-Bevölkerung ließen die Republikaner in Kalifornien das Wahlvolk 1994 über die Proposition 187 abstimmen, die Ausländern ohne Papiere das Recht nahm, staatliche Schulen zu besuchen oder sich in staatlichen Krankenhäusern behandeln zu lassen, und die Zusammenarbeit mit den Bundeseinwanderungsbehörden verpflichtend vorschrieb.
Die Verabschiedung dieses Gesetzes ließ den Rückhalt der Republikaner bei Schwarzen und Latinos massiv schwinden. Noch wichtiger: Sie führte dazu, dass die Einwanderung andere Themen in den Hintergrund drängte. Die Republikaner vor Ort entwickelten sich zu einer vornehmlich weißen, gesellschaftlich konservativen Anti-Einwanderungs-Partei, die für Bildung, Umweltschutz und andere Themen, die gemäßigten Wählerinnen und Wählern am Herzen liegen, wenig Interesse aufbringt. Bis zum Referendum über die Proposition 187 waren bei Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen sowohl die Demokraten als auch die Republikaner konkurrenzfähig und entsandten etwa gleich viele Abgeordnete ins Repräsentantenhaus. 2010 jedoch eroberten Kaliforniens Demokraten alle Regierungsämter im Bundesstaat.
Aufschlussreich ist, wie führende Republikaner in der Vergangenheit reagiert haben, wenn ihre Partei zunehmend ins Hintertreffen geriet: Sie schickten Jahr für Jahr immer weniger gemäßigte Kandidaten ins Rennen – mit der Folge, dass die kalifornischen Republikaner bei den Zwischenwahlen 2018 von einer „demokratischen Welle“ hinweggespült wurden und eine vernichtende Niederlage hinnehmen mussten. Der von Trump unterstützte Bewerber für den Gouverneursposten kam nur auf 38 Prozent der Stimmen. Im vorstädtischen Orange County – einst die Bastion Ronald Reagans – verloren alle republikanischen Kongressabgeordneten. In ganz Kalifornien konnten die Republikaner nur sieben Sitze im Kongress halten.
Weitaus gefährlicher ist die neue Geschlossenheit und Inbrunst glühender Trump-Anhänger.
Doch auch wenn Trumps Siegchancen offenbar schwinden – die Republikaner sind immer noch seine Partei und haben mit ihrem Mann im Weißen Haus den Amtsbonus auf ihrer Seite. Das ist der Grund, warum die 43 Prozent der Wählerschaft, die Trump nach wie vor für einen guten Präsidenten halten, die USA vor eine gewaltige Herausforderung stellen. Sie werden – Seite an Seite mit gleichgesinnten republikanischen Kongressabgeordneten, den Bundesgerichten und den Regierungen in den Bundesstaaten – in den kommenden Monaten unendlich viele Gelegenheiten bekommen, den Demokraten Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wenn sie sich bemühen, die Pandemie zu bekämpfen und die coronabedingten wirtschaftlichen Schäden zu reparieren.
Weitaus gefährlicher ist die neue Geschlossenheit und Inbrunst glühender Trump-Anhänger, die nicht damit leben können, dass in Amerika Abtreibung erlaubt ist. Sie bejubeln die National Rifle Association und das Second Amendment, predigen beharrlich einen extremen Individualismus und hassen den Staat. Sie sympathisieren mit den Bürgerwehren und Anti-Lockdown-Demonstranten, die mit ihren Sturmgewehren herumfuchteln und gewählte Mandatsträger bedrohen.
Vor allem treiben sie Ressentiments und die Vorstellung um, dass Amerika sich mit Rassismus in seiner Geschichte auseinandersetzt. Sie hadern immer noch mit Barack Obama und Obamacare, der noch verbliebenen Hinterlassenschaft des ersten dunkelhäutigen US-Präsidenten. Sie sehen darin den Versuch, Millionen von Nichtweißen vom Staat abhängig zu machen, damit sie ihre Stimmen den Demokraten geben und die Partei damit auf ewig an der Macht halten. Diese Ressentiments erklären auch, warum führende Regierungsvertreter in Texas beschlossen, dass in jedem Landkreis nur eine „drop-off box“ für Wahlzettel aufgestellt werden darf – eine Maßnahme, die allein dazu dient, Schwarze und Latinos davon abzuhalten, sich an der Wahl zu beteiligen und die Demokraten ins Amt zu bringen.
Drei Viertel der Trump-Befürworter sind der Meinung, dass die Aufstiegsschwierigkeiten von Schwarzen „deren eigene Schuld“ und weder auf „Diskriminierung“ noch auf Amerikas Geschichte des strukturellen Rassismus zurückzuführen seien. Trumps Gefolgsleute sind fest entschlossen, alle weiteren Fortschritte auf dem Weg zu mehr Gleichheit zu blockieren.
Wenn Trump – was im Augenblick wahrscheinlich ist – am Wahltag abblitzt, werde ich mich wie Millionen andere Amerikanerinnen und Amerikaner von einem verstörenden Kapitel unserer Geschichte befreit fühlen. Dennoch ist mir bewusst, dass nach der Wahl die republikanische Partei noch mehr in Aufruhr geraten wird, wenn es um Abtreibung, einen angeblichen Staat im Staat und die wachsende Wählermacht eines multikulturellen Amerika geht, das sich für Gerechtigkeit zwischen den Bevölkerungsgruppen starkmacht. Die Reformer im demokratischen und im republikanischen Lager haben Recht, wenn sie der Zeit nach Trump mit Zuversicht entgegenblicken, aber sie müssen entschlossen ihre Ziele im Blick behalten und gut gerüstet sein für die Schwierigkeiten, die in der rauen politischen Landschaft, die Trump hinterlässt, auf sie warten.
© The Atlantic
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld