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Joe Biden wurde für die nächsten vier Jahre zum Präsidenten gewählt, aber Donald Trump wird uns als einflussreiche Figur erhalten bleiben. In den vier Jahren, in denen er seine Spaltungspolitik betrieb und eine intellektuellen-, wissenschafts- und politikfeindliche Rhetorik salonfähig machte, hat sich das, was wir „Trumpismus“ nennen, fest etabliert. Wie hat der zum Präsidenten mutierte Immobilienmogul das geschafft?
Erstens durch Lügen. Trump log so oft, dass man nicht mehr mitzählen kann: die Ablösung von Obamacare, das Einreiseverbot für Bürger aus muslimischen Ländern und vor allem Covid-19 – in all diesen Punkten hat er massiv gelogen. Zweitens gelang es ihm, die Ränder des konservativen Spektrums im politischen Mainstream zu verankern. Er hat Verschwörungstheorien verbreitet und wissenschaftliche Beweise glattweg negiert, was man bislang nur aus rechtsradikalen Radiosendungen von Leuten wie Alex Jones und Konsorten kannte.
Drittens hat Trump mit seinen Dauerattacken gegen die „Mainstream“-Medien das Vertrauen in traditionelle Nachrichtenquellen erheblich geschwächt, während er die Pressebriefings im Weißen Haus zu persönlichen Polit-Reality-Shows umfunktionierte. Und viertens hat Trump unsere demokratischen Institutionen gefährlich untergraben und vorgemacht, dass man gegen viele der ungeschriebenen Gesetze, die lange Zeit die Voraussetzungen für das Funktionieren des amerikanischen Regierungssystems mit seinem Zweiparteiensystem schufen, durchaus verstoßen darf.
Beispiele gibt es in Hülle und Fülle: Er schickte die Armee im eigenen Land auf die Straße, um friedliche Demonstranten auseinanderzutreiben, flirtete mit Autokraten wie Russlands Putin, Duterte auf den Philippinen und Nordkoreas Kim Jong-Un, spannte das Justizministerium für seine private juristische Verteidigung ein und machte es sich zu seinem politischen Vorteil zunutze.
Trump verschärfte die politische und kulturelle Polarisierung, die größtenteils schon vor seiner Präsidentschaft bestand.
Letztlich ließ Trump die Aushöhlung der US-Politik (und der politischen Institutionen) zu – er machte Verlogenheit und Unverstand auf höchster Regierungsebene zu legitimen Mitteln der Politik und ließ die zahllosen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, die das Fundament für das amerikanische System mit seiner verfassungsmäßig eingehegten Regierungsform bildeten, zur Makulatur werden.
Auch wenn Trump seinerzeit als Außenseiterkandidat mit der Ansage ins Rennen ging, er werde „den Sumpf von Washington trockenlegen“, hinterlässt er nach seiner vierjährigen Präsidentschaft seinerseits einen Regierungssumpf, der von Korruption, Vetternwirtschaft und mangelnder Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze geprägt ist und in dem in die eigene Tasche gewirtschaftet wird. Er verschärfte die politische und kulturelle Polarisierung, die größtenteils schon vor seiner Präsidentschaft bestand, und profitierte davon.
Mit seiner korrodierenden Wirkung auf unsere Politik und unsere Institutionen hat er den Sumpf vielleicht nicht geschaffen, aber mit Sicherheit größer und tiefer gemacht. Während seiner gesamten Amtszeit kultivierte er eine Art Stammesdenken, das dazu führt, dass Linke und Rechte nicht mehr imstande sind, miteinander zu kommunizieren oder gar über politische Lagergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten.
Der ehemalige Präsident des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, schrieb 2018: „Trumps Amerika und die postamerikanische Gesellschaft, für die die Anti-Trump-Koalition steht, können nicht miteinander koexistieren. Eines wird das andere besiegen. Für Kompromisse ist kein Platz. Das hat Trump von Anfang an genau begriffen.“ Am Ende seiner Amtszeit hat Trumps berühmt gewordenes Statement von 2016, er „könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschießen“, ohne Wählerstimmen einzubüßen, sich auf alarmierende Weise bewahrheitet: Trotz Amtsenthebungsverfahren und etlicher Skandale, die er durch Fehlverhalten, Missmanagement, Inkompetenz und Machtmissbrauch auslöste, holte Donald Trump 2020 rund elf Millionen Stimmen mehr als 2016.
Trump wird als prominente Figur und als Krankheitssymptom des gespaltenen politischen Amerika nicht von der Bildfläche verschwinden.
Trump wird als prominente Figur und als Krankheitssymptom des gespaltenen politischen Amerika nicht von der Bildfläche verschwinden. Zum einen hat der Präsident als „Lame Duck“ in Voraussicht seiner Vertreibung aus dem Weißen Haus schon angefangen, in seine politische Zukunft zu investieren (und zwar das Geld seiner Unterstützer). Bis zum 4. Dezember sammelte Trumps „Offizieller Wahlverteidigungsfonds“ (Official Election Defense Fund) mehr als 200 Millionen Dollar ein – angeblich zu dem Zweck, „die Wahl gegen Wahlbetrug zu verteidigen“.
Für die Finanzierung von Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Wahl wird aber nur ein Viertel der eingesammelten Gelder verwendet. Die restlichen 75 Prozent fließen in die Kassen von Trumps politischem Aktionskomitee „Save America“. Ein Experte für Wahlkampffinanzierung kommentiert: „Kleinspender, die Trump Geld geben in dem Glauben, sie würden einen ‚offiziellen Wahlverteidigungsfonds‘ finanzieren, beschaffen in Wahrheit die Mittel für Trumps politische Arbeit in der Zeit nach seiner Präsidentschaft.“ Es ist ganz offensichtlich, dass der 45. Präsident der USA nicht vorhat, sich zur Ruhe zu setzen oder, wie er im Oktober bei einer Wahlkampfkundgebung scherzte, „das Land zu verlassen“.
Andererseits begreifen die Republikaner inzwischen, dass Trump und ihre Partei zu Synonymen geworden sind und eine Art mutualistische Symbiose bilden. 2020 formulierte die ehedem so erhabene „Grand Old Party“ noch nicht einmal ein Wahlprogramm und verschrieb sich nur einem einzigen Wahlziel: der rückhaltlosen Unterstützung für Donald J. Trump. Zwar hatten die Bewegungen der republikanischen Trump-Gegner wie das „Lincoln Project“, die „Republican Voters Against Trump“ oder die „43 Alumni for Biden“ vielleicht einen Anteil daran, dass Biden bei der Wahl die Nase vorn hatte, aber rückblickend muss man feststellen: Mehr Gewicht als ihr Einsatz hatte die Tatsache, dass traditionell republikanische Werte in der Partei, die Trump unangefochten beherrscht, inzwischen verschroben anmuten und mit dieser Partei nichts mehr zu tun zu haben scheinen.
Seit Biden als Wahlsieger feststeht, blieb der Präsident seinem Stil treu: Er rief sich fälschlicherweise zum Sieger aus und behauptete, der Vorsprung des früheren Vizepräsidenten sei nur mit Betrug zu erklären. Traurigerweise bot die große Mehrheit der Republikaner (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen wie Mitt Romney) Trumps Affront gegen die demokratischen Institutionen der USA kein Paroli – nicht einmal diejenigen, die durch ihre eigenen Wahlsiege ausgesprochen wichtige Sitze im Repräsentantenhaus und im Senat verteidigen oder erringen konnten.
Traurigerweise bot die große Mehrheit der Republikaner Trumps Affront gegen die demokratischen Institutionen der USA kein Paroli.
Stattdessen stellen sie Bidens Sieg als unrechtmäßig hin und überlassen damit dem Kandidaten, der gegen den früheren Vizepräsidenten unterlag, für die Zeit nach der Wahl de facto die Kontrolle über die Republikanische Partei. Senator Lindsey Graham, der in South Carolina einen knappen Sieg errang, erklärte unumwunden: „Wenn wir das Wahlsystem der USA nicht in Frage stellen und verändern, wird nie wieder ein anderer Republikaner zum Präsidenten gewählt werden. Präsident Trump sollte sich nicht geschlagen geben.“
Wenn es noch eines Beweises bedurfte hätte, liefert ihn Trumps an eine Reality-Show erinnernder Coup ganz eindeutig: Die Republikanische Partei ist definitiv beim Personenkult angelangt. Und ebenso wie die neue Republikanische Partei steht auch die Basis vereint hinter Trump und brennt nach wie vor für die Trumpschen Grundthemen: den „Deep State“, die Einwanderung und die wachsende Angst der Wählerschaft vor einem multikulturellen Amerika, das sich der Rassengerechtigkeit verpflichtet fühlt.
Viele Demokraten hatten darauf gehofft, dem Trumpismus werde an den Wahlurnen eine klare Abfuhr erteilt. Die Wahlergebnisse sprechen jedoch eine andere Sprache: Mehr als 74 Millionen Amerikaner gaben Trump ihre Stimme – noch nie in der Geschichte der USA erhielt ein Kandidat so viele Stimmen (außer Joe Biden natürlich, der fast sieben Millionen Stimmen mehr holte als Trump). Normalerweise begrüßen wir eine hohe Wahlbeteiligung als Zeichen dafür, dass das Wahlvolk sich engagiert, aber die außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung von 2020 bedeutet mehr als eine politisch aktive Bürgerschaft. Für Dutzende Millionen Amerikaner ging es einfach um zu viel: Die Gegenseite gewinnen zu lassen, hätte ihrer politischen Agenda, ihrem Bild von Amerika und ihren ganz grundsätzlichen Vorstellungen von Richtig und Falsch einen nicht hinnehmbaren Schaden zugefügt.
Joe Biden hat sich auf eine hehre Mission begeben und will „die Seele der Nation heilen“. Das ist ein nobles Vorhaben, mit dem er dem Land einen großen Dienst erweisen würde. Doch Donald Trump hat uns etwas hinterlassen, was uns dauerhaft erhalten bleiben wird: einen Spiegel, aus dem uns eine bedrohlich gespaltene Gesellschaft entgegenblickt. Wenn die Amerikaner es nicht schaffen, zueinanderzufinden und den Trumpismus hinter sich zu lassen, wird der nächste radikale Populist, der in Trumps Fußstapfen tritt, nicht nur in der Republikanischen Partei die Macht übernehmen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld