MSNBC-Journalistin Alex Wagner prophezeite nach der ersten TV-Debatte im US-Präsidentschaftswahlkampf dem kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom: „Sie werden jetzt andauernd die gleiche Frage gestellt bekommen: Ob Biden nicht abtreten sollte. Es macht sich Panik breit.“ Newsom wehrte ab: „Wir müssen diesem Präsidenten den Rücken stärken“, sagte er. „Wegen eines einzigen Auftritts lässt man niemanden fallen. Welche Partei würde das tun?“ Vielleicht eine Partei, die gewinnen will? Oder eine Partei, die einen Kandidaten nominieren will, dem das amerikanische Volk zutraut, dass er der Aufgabe gewachsen ist? Die Frage sollte vielleicht besser lauten: Welche Partei würde bei dieser Sachlage die Hände in den Schoß legen und nichts tun?

Im Februar äußerte ich die Meinung, Präsident Joe Biden sollte bei den Wahlen 2024 nicht antreten und die Demokraten sollten das tun, was politische Parteien bis in die 1970er Jahre bei Präsidentschaftswahlen getan haben: Bei einem Parteitag einen Kandidaten wählen. In der Öffentlichkeit erntete ich dafür wütende Reaktionen von führenden Demokraten. Ich sei ein Bettnässer und würde in einer Traumwelt leben. Hinter vorgehaltener Hand waren die Reaktionen nachdenklicher und ängstlicher. Niemand versuchte mir einzureden, Biden sei ein starker Kandidat. Stattdessen hieß es, man könne ihn nicht davon überzeugen, den Weg freizumachen. Selbst wenn er abtrete, werde Vizepräsidentin Kamala Harris die Wahl verlieren. Und wenn Harris bei einem Parteitag nicht nominiert und somit übergangen würde, werde das die Partei entzweien. Argumentiert wurde also nicht mit Bidens Stärke, sondern mit der Schwäche der Demokratischen Partei.

Die Demokraten sollten sich selbst etwas mehr zutrauen. Allein die Tatsache, dass Biden Präsident ist, beweist, dass die Partei in der Lage ist, strategisch zu handeln. Die Demokraten haben ihn 2020 nicht deswegen nominiert, weil ihm die Herzen der Parteiaktivisten zugeflogen wären. Die Unterstützung für Biden war nie so leidenschaftlich wie die für Bernie Sanders oder Elizabeth Warren oder selbst für Andrew Yang. Biden wurde deswegen nominiert, weil die Partei sich ganz nüchtern für den Bewerber entschied, der nach ihrer Einschätzung am besten geeignet war, Donald Trump zu schlagen. Biden wurde nominiert, weil die Demokraten taten, was sie tun mussten, und nicht, weil sie taten, was sie tun wollten.

Der amtierende Präsident war aber nicht der einzige ausschlaggebende Faktor. Während die Republikanische Partei in ihre Make America Great Again-Ära verfiel und mehrfach Möchtegern-Trumps nominierte, die anschließend Wahlen verloren, die durchaus gewinnbar waren, schickten die Demokraten konsequent Kandidatinnen und Kandidaten ins Rennen, die in schwer zu gewinnenden Bundesstaaten siegreich waren: Gretchen Whitmer in Michigan, Tony Evers in Wisconsin, Josh Shapiro und John Fetterman in Pennsylvania, Mark Kelly und Katie Hobbs in Arizona, Jon Ossoff und Raphael Warnock in Georgia. Seit 2018 sind die Demokraten auf der Siegerstraße, weil sie strategisch und die Republikaner impulsiv agierten. Andererseits haben dieselben Demokraten nicht genug Selbstvertrauen, um an den eigenen Erfolg zu glauben, sollte Biden sich zurückziehen.

Seit 2018 sind die Demokraten auf der Siegerstraße, weil sie strategisch und die Republikaner impulsiv agierten.

Ich habe Vertreter der Demokraten verschiedentlich gefragt, was ihrer Meinung nach passieren würde, wenn die Dinge eine schreckliche Wendung nehmen und Biden aus gesundheitlichen Gründen seine Kampagne beenden müsste. Würde die Demokratische Partei sich dann in eine Embryonalhaltung zurückziehen und Trumps Aufstieg hinnehmen? „Natürlich nicht“, war die Antwort. Dann hätten die Demokraten keine andere Wahl und würden sich auf einem Parteitag auf eine Nominierung einigen.

Es ist nicht so, dass in der Demokratischen Partei talentierte oder fähige Leute Mangelware wären. Woran es hapert, sind Kohärenz und Selbstvertrauen. Wofür ist die Partei da? Was Newsom in dem erwähnten Interview sagte, heißt implizit, die Partei sei dafür da, Biden zu unterstützen. „Wir müssen diesem Präsidenten den Rücken stärken.“ Die Kritik an Biden nannte Newsom nicht unbegründet, sondern „nicht hilfreich“. Noch erstaunlicher war eine Äußerung von Tim Walz, dem Gouverneur von Minnesota: „Ich finde, wir können von den Republikanern etwas lernen“, sagte er bei Fox News. „Die Republikaner werden Donald Trump nicht fallenlassen, auch wenn er noch so oft angeklagt wird.“

Wollen die Demokraten ernsthaft dem Vorbild der Republikanischen Partei der Trump-Ära folgen? Die Republikaner verloren 2018 und 2020 und schnitten 2022 weit unterdurchschnittlich ab. Im März wurde Lara Trump zur Ko-Vorsitzenden des Republican National Committee (RNC) gewählt – des nationalen Organisationsgremiums der Partei. Aus traditioneller Parteisicht ist sie für den Job nicht im Geringsten qualifiziert.

Betrachtet man das RNC als Vehikel für die Ambitionen und Marotten Donald Trumps, der Lara Trumps Schwiegervater ist, so ist sie allerdings bestens qualifiziert. Sie ist loyal gegenüber niemandem in der Partei, ihre Loyalität gilt ausschließlich Donald Trump. Sie sagt auch ganz klar, welche Rolle das RNC ihrer Meinung nach spielen sollte: „Jeder Groschen geht an die Nummer 1, und die einzige Aufgabe des RNC lautet: Donald J. Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten wählen und dieses Land retten.“

Das überzeugendste Argument gegen einen Austausch Bidens ist, dass ein solcher Austausch zu diesem späten Zeitpunkt riskanter wäre, als an ihm festzuhalten. Dies begründete die Entscheidung der Demokratischen Partei, Biden bei seiner Kandidatur für eine Wiederwahl zu unterstützen, obwohl die Umfragen reihenweise zeigten, dass die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung der Meinung ist, er sei für eine zweite Amtszeit zu alt.

Biden steuerte schon vor der Debatte auf eine Niederlage zu.

Es war ihre – wenn auch nachvollziehbare – Entscheidung, dass bei den Vorwahlen kein einziger prominenter Demokrat gegen ihn ins Rennen ging, obwohl laut Umfragen die Wählerschaft der Demokraten mehrheitlich dagegen war, dass Biden erneut antritt. Es war auch ihre Entscheidung, untätig zu bleiben, als führende Demokraten und das Weiße HausKamala Harris für zu schwach hielten, um zu kandidieren oder anstelle von Biden zu regieren.

Die Demokraten blieben die ganze Zeit bei ihrer Entscheidung, die offensichtlichsten Probleme, vor denen sie 2024 stehen, nicht anzupacken und untätig zu bleiben. Nun behaupten sie, sie könnten nichts tun; es sei zu spät. Inzwischen gilt es schon als „nicht hilfreich“, überhaupt nur zuzugeben, dass es diese Probleme gibt.

Ich behaupte nicht, es gebe für die Demokraten einen einfachen Weg. Es gibt kein Vorgehen, das nicht mit Risiken verbunden wäre. Ein ergebnisoffener Parteitag wäre ein Risiko. Auch Harris zu nominieren, wäre ein Risiko. Mit einem 81-Jährigen ins Rennen zu gehen, dessen Zustimmungsquote 38 Prozent beträgt und der in der ersten TV-Debatte schwer einstecken musste, ist jedoch ebenfalls ein Risiko. Biden steuerte schon vor der Debatte auf eine Niederlage zu, und durch die Debatte ist diese Niederlage noch wahrscheinlicher geworden. Sein Team hatte sich eine Theorie zurechtgelegt, wie man das Blatt wenden könnte. Diese Theorie lautete: Bei einer Debatte, die zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt stattfindet, würde die US-Bevölkerung sich ein Bild von Biden und Trump in Aktion machen können und sich daran erinnern, warum sie sich 2020 für Biden entschied. Diese Theorie ist gescheitert.

Politisch sehe ich einen Parteitag optimistischer als manch andere. Diese Option birgt Risiken, eröffnet aber auch Möglichkeiten. Möglich ist eine Kandidatur, die der Demokratischen Partei neue Energie gibt, die bei den Wählerinnen und Wählern Begeisterung weckt, während sie im Augenblick das Gefühl haben, keine guten Optionen angeboten zu bekommen. Aber es kann auch schlecht laufen, so wie Bidens Kampagne gerade schlecht läuft. Was mich umtreibt, ist eigentlich nicht die politische Seite – sondern dass ich im Grunde nicht davon überzeugt bin, dass Biden vier weitere Jahre Präsident sein sollte. Ich glaube nicht, dass er besser wäre als die Alternativen.

Die Partei kann nicht zaubern und es gibt keinen Einzelakteur, der Biden dazu bewegen könnte, den Weg freizumachen. Doch es gibt in der Partei viele, die Einfluss auf ihn haben. Biden spürt den Rückhalt, den er beim Rest der Partei genießt. Am Ende wird die Demokratische Partei vielleicht keine andere Wahl haben – vielleicht ist es tatsächlich schon zu spät. Aber sie sollte jetzt versuchen, eine andere Wahl möglich zu machen. Denn dass die Demokraten die Wählerinnen und Wähler irgendwie davon überzeugen können, dass der Mann, den sie am Donnerstag in der Debatte gesehen haben, weitere drei oder vier Jahre Präsident sein sollte, ist nicht anzunehmen. Um auf Newsoms Frage zurückzukommen: Welche Partei würde versuchen, nach Donnerstagnacht etwas zu ändern? Eine Partei, die ihre Aufgabe erfüllen will.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld