Jeder Protest ist ein Kind seiner Zeit. An den Slogans auf den Protestschildern sowie an den in Reden und Schriften artikulierten Forderungen lässt sich ablesen, welche gesellschaftlichen Missstände bestehen und wie diese aus Sicht der Protestierenden behoben werden sollen. Die zentralen Slogans bei den Bürgerrechtsdemonstrationen in den 1960er Jahren lauteten: „End segregation“, „Equal rights, now“, „Equal education“, „Jobs for all“ und „Decent housing“.

Bei den Black-Lives-Matter-Demonstrationen im Frühsommer 2020 dominieren neben „Black Lives Matter“ hingegen Schilder mit Aufschriften, die die Abschaffung des Systems fordern, allen voran: „Defund the police“ oder „No justice, no peace, abolish the police“. Ergänzt werden sie durch zahlreiche Slogans, die sich gegen die gesellschaftliche Stellung der Weißen richten, wie „White silence is violence“, „End white supremacy“, „White privilege is racism“, „Use your white privilege to end your white privilege“ oder „Abolish whiteness“.

Während in den 1960er Jahren in erster Linie Afroamerikaner auf die Straße gingen, um die Beendigung eklatanter Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz der amerikanischen Verfassung herbeizuführen, so demonstrieren 2020 viele weiße an der Seite schwarzer Amerikaner. Insbesondere die auf die Abschaffung weißer Privilegien abzielenden Slogans wurden zumeist von Weißen hochgehalten. Das ist kein Zufall, sondern bringt das Selbstverständnis dieser sich als „woke“ – also als äußerst wachsam gegenüber Rassismus – verstehenden Weißen zum Ausdruck.

Wer woke ist, zeichnet sich dadurch aus, dass er das Denken und Handeln von Weißen als nahezu alleinentscheidend für die Lebenschancen von Afroamerikanern erachtet. Und woke Weiße fühlen sich schuldig für ihre Hautfarbe, weil aus ihrer Sicht mit dieser in allen Lebenslagen Privilegien verbunden sind, welchen sie nicht entrinnen können, solange die Strukturen bestehen, die ihnen diese Privilegien verleihen. Sie sind davon überzeugt, dass von Weißen geschaffene Systeme so strukturiert seien, dass sie automatisch Weiße privilegierten.

Da nun das politische, ökonomische, soziale und kulturelle System der USA überwiegend von Weißen geschaffen wurde, glauben diejenigen, die sich als woke verstehen, dass Menschen anderer Hautfarbe durchgehend benachteiligt würden. Als Beleg für diese These führen sie jede statistische Diskrepanz an, die zwischen Menschen weißer Hautfarbe und sogenannten BIPoCs (Black, Indigenous and People of Color) besteht. Allerdings gehen sie dabei selektiv vor, indem sie nur Unterschiede thematisieren, die eine Benachteiligung von BIPoCs nahelegen.

Da nun das politische, ökonomische, soziale und kulturelle System der USA überwiegend von Weißen geschaffen wurde, glauben diejenigen, die sich als woke verstehen, dass Menschen anderer Hautfarbe durchgehend benachteiligt würden.

Zur Illustration ein Beispiel: Woke Weiße machen für das geringere Einkommen, über das schwarze Haushalte im Vergleich zu weißen Haushalten verfügen, das von Weißen geschaffene kapitalistische Wirtschaftssystem verantwortlich. Sie lassen dabei jedoch geflissentlich außer Acht, dass asiatischstämmige Amerikaner mit 87 194 Dollar ein deutlich höheres Haushaltseinkommen erzielen als Weiße mit 70 642 Dollar. Wäre ihre These korrekt, dürften Asiaten, die als People of Color klassifiziert werden, nicht über höhere Einkommen verfügen als Weiße. Ein weiterer Fakt, der ihr Thesengebäude durchkreuzt, ist, dass auch die Strukturen des Sport- und Musikbetriebs von Weißen geschaffen wurden, also zwei Bereiche, in denen gerade Afroamerikaner reüssieren.

Noch wackliger wird die These, wenn man den Bildungserwerb, die Arbeitsmarktposition sowie das Einkommen von afrikanischen Einwanderern und ihren Nachkommen mit Afroamerikanern vergleicht. Wären rassistische Strukturen der entscheidende Faktor, dürfte es keine massiven Unterschiede zwischen diesen beiden afrikanischstämmigen Gruppen geben. Aber genau diese gibt es, angefangen beim Bildungserwerb: Die Kinder afrikanischer Einwanderer gehören zu den im Bildungssystem erfolgreichsten Gruppen, die der Afroamerikaner zu den am wenigsten erfolgreichen. Last but not least kann die These nicht erklären, warum ein deutlich gewachsener Teil der Afroamerikaner erfolgreich aufgestiegen ist, während einem anderen Teil dieser Aufstieg nicht gelingt

Dass die Vorstellung allmächtiger weißer Strukturen trotz dieser offensichtlichen empirischen Schwächen gerade von Studierenden und Hochschulabsolventen vertreten wird, ist ein Ergebnis der Ausbreitung der Critical Race Theory an den Universitäten. Die Vertreter der Critical Race Theory zeichneten sich von Anbeginn durch die Neigung aus, auf faktenbasierte Argumente, die ihrer Theorie widersprechen, nicht mit Gegenargumenten zu reagieren, sondern die Person, die sie vorbringt, mit dem Mittel der moralischen Diskreditierung sozial auszugrenzen. Damit haben sie die Grundlagen für die heutzutage um sich greifende „Cancel Culture“ – eine „Kultur“, die radikal Andersdenkende ausgrenzt – gelegt, die vor circa zehn Jahren an den Universitäten ihren Ausgang nahm, aber inzwischen auch die Medien und den Kulturbetrieb erfasst hat.

Die Vorantreiber der „Cancel Culture“ betrachten Andersdenkende nicht als legitime Diskursteilnehmer. Selbst wer die Meinungsfreiheit als Menschenrecht und als notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie verteidigt, wird vom moralischen Furor der Cancel-Culture-Aktivisten erfasst. Aus Sicht der Aktivisten ist die Ausgrenzung Andersdenkender notwendig, um Rassismus auszumerzen. Dabei gilt die Formel: Alles, was von Aktivisten als rassistisch gedeutet wird, ist rassistisch.

Selbst wer die Meinungsfreiheit als Menschenrecht und als notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie verteidigt, wird vom moralischen Furor der Cancel-Culture-Aktivisten erfasst.

Insbesondere Äußerungen, die bei BIPoCs Gefühlsverletzungen hervorrufen könnten, sind strikt zu unterbinden. „Von Rassismus betroffenen Personen“, so das Dogma, darf grundsätzlich nicht widersprochen werden. Wer dies tue beziehungsweise wer behaupte, jedem stünde ein Widerspruchsrecht zu, dem ginge es nur darum, seine weißen Privilegien auf Deutungshoheit zu verteidigen. Weißen, aber auch andersdenkenden BIPoCs (denen regelmäßig der Stempel „Verräter“ an der eigenen Gruppe aufgedrückt wird), wird das Rederecht abgesprochen. Ihnen wird verordnet, den sich als marginalisiert verstehenden BIPoCs und ihren weißen Unterstützern zuzuhören, um daraus die „richtigen“ Lehren zu ziehen – also das Programm der Aktivisten zu übernehmen.

Warum nun aus den Dogmen der Critical Race Theory eine „Woke Culture“ entstehen konnte, die ihrerseits die Entfaltung einer „Cancel Culture“ nach sich zog, wird nachvollziehbar, wenn man die in den späten 1960er Jahren entstandene identitätslinke Läuterungsagenda in den Blick nimmt. Bei dieser Agenda handelt es sich um eine spezifische Form der Identitätspolitik, die Menschen nach dem Merkmal Hautfarbe eine Opfer- oder Schuldidentität zuweist.

Ihre Vertreter sehen alle Weißen als Träger einer Schuldidentität und erklären alle Schwarzen zu Trägern einer Opferidentität. Das Ziel der weißen Vertreter ist es, ihre moralische Integrität, die sie aufgrund des Unrechts, das Weiße Schwarzen antaten, als kompromittiert ansehen, durch Läuterungsbekundungen wiederherzustellen. Den schwarzen Vertretern dieser Identitätspolitik geht es darum, solche Läuterungsbekundungen einzufordern. Diese können symbolischer Natur sein, beispielsweise indem sich Weiße – wie bei den Black-Lives-Matter-Demonstrationen – zu ihren weißen Privilegien bekennen und damit anerkennen, dass sie Rassisten sind, weil sie von diesen rassistischen Privilegien profitieren (ein in den USA vieldiskutiertes Paradebeispiel für diese Art der Läuterungsbekundung liefert Robin DiAngelo in ihrem 2018 erschienenen Beststeller „White Fragility“). Läuterung kann aber auch durch Verzichtsbereitschaft bekundet werden, indem Weiße zum Beispiel die Bevorzugung von Schwarzen bei der Personalrekrutierung unterstützen.

In den USA hat auf der linken Seite des politischen Spektrums in den letzten Jahrzehnten ein regelrechtes Mainstreaming dieses identitätspolitischen Denkens stattgefunden. Dementsprechend verlagerte sich das Ziel linker Gleichstellungspolitik sukzessive von gleichen Chancen, für deren Erreichung Weiße und Schwarze gemeinsam die Verantwortung tragen, hin zur Abschaffung weißer Privilegien, wofür allein Weiße zuständig sind.

Ablesbar ist diese Zielverlagerung nicht zuletzt an der in den letzten Jahren stark gewachsenen Zahl an Programmen und Workshops, mit denen Institutionen ihr schuldbehaftetes Weißsein überwinden möchten. Beispielhaft sei hier die Stadt Seattle genannt, die kürzlich für ihre weißen Mitarbeiter einen Workshop veranstaltete, der den aufschlussreichen Titel „Interrupting Internalized Racial Superiority and Whiteness“ trug. Den weißen Mitarbeitern wurde beigebracht, dass internalisierte weiße Überlegenheit Perfektionismus, Individualismus, Intellektualisierung und Objektivität umfasst. Zudem wurde ihnen nahegelegt, diese Eigenschaften dadurch zu überwinden, dass sie Beziehungen zu anderen Weißen beenden und die Kontrolle über das Land sowie ihre „garantierte körperliche Sicherheit“ aufgeben.

Wollen die Demokraten die Wahlen im November gewinnen, müssen sie sich, um für breite Schichten wählbar zu sein, klar von diesen radikalen Kräften abgrenzen, die eine massive Aushöhlung der Verfassungswerte sowie einen grundlegenden Systemwechsel anstreben.

Der Bruch mit den Idealen der Bürgerrechtler um Martin Luther King, die dafür kämpften, dass Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe bewertet werden, könnte nicht größer sein. Hinzu kommt, dass der radikale Teil der Antirassismus-Aktivisten Zulauf erhält. Insbesondere ihre Forderung nach einem grundlegenden Systemwechsel fällt bei einer steigenden Zahl an – vor allem jungen, gutausgebildeten – Menschen auf fruchtbaren Boden. Ihr Ziel lautet: Alles, was von Weißen geschaffen wurde, muss beseitigt werden, weil ansonsten keine rassismusfreie Gesellschaft verwirklicht werden kann.

Insbesondere das kapitalistische Wirtschaftssystem soll beseitigt werden, da es als die Wurzel allen Übels gilt. Dies ist kein neuer Gedanke, sondern knüpft an den bereits in den 1960er Jahren von Malcolm X propagierten Slogan „You can’t have capitalism without racism“ an. Ein sozialistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wird als Allheilmittel gegen den strukturellen Rassismus gepriesen, wobei übersehen wird, dass auch der Sozialismus das Produkt weißer Denker ist, also eigentlich – folgt man den theoretischen Prämissen der Aktivisten – weiße Privilegien schützt.

Ein besonders radikaler Teil der Aktivisten hält noch nicht einmal mehr die politischen Grundwerte der USA, also Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaat, für erhaltenswert. Für sie sind das in Sünde geborene Werte, weil die US-Verfassung zu einem Zeitpunkt in Kraft trat, als Sklaverei und Rassismus weitverbreitet waren. Ein anderer radikaler Teil der Aktivisten will die Grundwerte nicht gänzlich über Bord werfen, aber er will sie an die eigene identitätspolitische Agenda anpassen. Konkret: Freiheitsrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Chancengleichheit und demokratische Teilhaberechte sollen nicht mehr für Individuen, sondern für Kollektive gelten. Menschen mit weißer Hautfarbe wären solange zu benachteiligen, bis ein gesellschaftlicher Zustand erreicht sei, in dem weiße Amerikaner in keinem Bereich mehr besser dastünden als Afroamerikaner. Die Priorisierung von Kollektivrechten würde offenkundig eine solche Pervertierung der amerikanischen Verfassungswerte bedeuten, dass dies ihrer Abschaffung gleichkäme.

All das wirft die Frage auf: Warum kann eine auf moralische Läuterung und Wiedergutmachung ausgerichtete Identitätspolitik zur geistigen Triebfeder für einen Systemwechsel umfunktioniert werden? Den Kern zur Radikalisierung trägt jede Identitätspolitik – auch eine gut gemeinte – in sich. Das liegt daran, dass Identitätspolitik Menschen aufgrund von Abstammungsmerkmalen kollektiviert, und damit in Identitätsgefängnisse einsperrt, aus denen sie nicht entkommen können. Für die Weißen, die unter ihrem identitätspolitisch verordneten Schuldstatus leiden, wird es zum obersten Ziel, diesen abzustreifen. Je stärker sich die Rassismusdebatte von individuellen rassistischen Handlungen zum strukturellen Rassismus verschoben hat, desto mehr rückte das System in den Fokus der Läuterungsaktivisten, welches sie nun für ihren Schuldstatus verantwortlich machen. Deshalb lautet ihre Lösung: Macht kaputt, was euch zu Schuldigen macht.

Wollen die Demokraten die Wahlen im November gewinnen, müssen sie sich, um für breite Schichten wählbar zu sein, klar von diesen radikalen Kräften abgrenzen, die eine massive Aushöhlung der Verfassungswerte sowie einen grundlegenden Systemwechsel anstreben. Der Versuch, diese Kräfte einzubinden oder sie durch ostentatives Entgegenkommen als Wähler zu gewinnen, ist nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern auch fatal, weil er an liberale und moderate Wähler das Signal sendet, dass die Verfassungswerte zur Disposition stehen.