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Die Sowjetunion war ein Nährboden für politische Witze, die in der dortigen Gesellschaft eine ebenso breite Rolle spielten wie das spätabendliche Comedy-Sendungen in den USA tun. Ein beliebter Witz war, dass ein junger Mann, der auf dem Roten Platz ausrief, der altersschwache Leonid Breschnew sei ein Idiot, zu 25½ Jahren Gefängnis verurteilt wurde – sechs Monaten wegen Beleidigung des sowjetischen Staatsoberhaupts und 25 Jahren wegen Verrats von Staatsgeheimnissen.

Die wütende Reaktion der Trump-Regierung auf ein neues Buch des früheren nationalen Sicherheitsberaters John Bolton folgt einem ähnlichen Drehbuch. Das Buch gilt nicht so sehr deshalb als gefährlich, weil es Donald Trump beleidigt, sondern weil es zeigt, dass der Präsident zutiefst inkompetent und „erstaunlich schlecht informiert“ ist. Wenn es bisher noch nicht offensichtlich war, so weiß nun die ganze Welt, dass es den USA völlig an einer strategischen Ausrichtung oder in sich schlüssigen Führung durch die Regierung mangelt.

Tatsächlich erinnern viele Aspekte von Amerikas aktuellem annus horribilis an die Endjahre der Sowjetunion, angefangen bei der Verschärfung der sozialen und politischen Konflikte. Im Fall der Sowjetunion kochten lange unterdrückte ethnische Rivalitäten und konkurrierende nationale Aspirationen rasch hoch und drängten das gesamte Land in Richtung Gewalt, Sezession und Zerfall. In den USA hat Trumps Reaktion auf die landesweiten Proteste gegen Rassismus, Polizeigewalt und Ungleichheit die historische Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen weiter befeuert. Und wie beim Zusammenbruch des Sowjetreichs die Lenin-Statuen werden jetzt fast überall Standbilder führender Konföderierter umgeworfen.

Natürlich ist Amerikas riesiger Finanzdienstleistungssektor kein Äquivalent zu Gosplan (der staatlichen sowjetischen Planungskommission), aber er agiert doch häufig werteabschöpfend statt wertschöpfend.

Eine weitere Parallele betrifft die Wirtschaft. Die Sowjetunion hatte einen großen, komplizierten, für die Ressourcenverteilung zuständigen Planungsapparat, der die bestausgebildeten Mitglieder der Gesellschaft anlockte, nur um sie dann mit unproduktiven und häufig destruktiven Aufgaben zu betrauen. Die USA hat die Wall Street. Natürlich ist Amerikas riesiger Finanzdienstleistungssektor kein Äquivalent zu Gosplan (der staatlichen sowjetischen Planungskommission), aber er agiert doch häufig werteabschöpfend statt wertschöpfend und wird damit unweigerlich zum Bestandteil jeder Debatte über die Allokation von Ressourcen.

Bis unmittelbar zum Zusammenbruch des Sowjetsystems dachte kaum jemand, dass es tatsächlich soweit kommen könnte. Was die Zustandsbewertung des amerikanischen Systems angeht, sollte man nicht vergessen, dass Ökonomen keine besonders guten Prognostiker sind. Die komplette Fachdisziplin stützt sich auf die Extrapolation der bestehenden Bedingungen und geht dabei davon aus, dass sich die grundlegenden Rahmendaten des Analysegegenstands nicht ändern werden. Und weil sie genau wissen, dass dies eine unrealistische und absurde Annahme ist, eifern die Ökonomen häufig mittelalterlichen Theologen nach, indem sie ihre Prognosen in obskure Formulierungen und Fachbegriffe kleiden. Es braucht kein Latein, um sich als Prämisse der eigenen Prognosen auf ceteris paribus („unter sonst gleichen Umständen“) zu berufen.

Angesichts dieser gängigen Praxis sollten wir unser besonderes Augenmerk langfristigen kontraintuitiven Prognosen schenken, die sich tatsächlich verwirklicht haben. Ende der 1960er Jahre stellte der Ökonom Robert A. Mundell drei derartige Prognosen auf: dass die Sowjetunion zerfallen würde, dass Europa eine Gemeinschaftswährung einführen würde und dass sich der Dollar seinen Status als dominante internationale Währung bewahren würde. Angesichts der Tatsache, dass das bestehende Paritätensystem (der Goldstandard) bald darauf zusammenbrach, was eine Abwertung des Dollars auslöste, schienen dies weit hergeholte Vorhersagen zu sein. Doch sollte Mundell in allen drei Fällen Recht behalten.

Die Trump-Regierung hat in den letzten dreieinhalb Jahren eine Gegenreaktion gegen ihren Einsatz des Dollars als politische Waffe geradezu herausgefordert.

Die Umstände allerdings, denen der Dollar seine langjährige Hegemonie verdankt, sind im Wandel begriffen. Die COVID-19-Pandemie treibt eine stärker digitale Form der Globalisierung voran. Während die grenzüberschreitende Freizügigkeit von Personen und Waren steil abnimmt, fließen Informationen wie nie zuvor und läuten so eine zunehmend gewichtslose Wirtschaft ein.

Zudem hat die Trump-Regierung in den letzten dreieinhalb Jahren eine letztliche Gegenreaktion gegen ihren Einsatz des Dollars als politische Waffe geradezu herausgefordert. Finanzielle und sekundäre Sanktionen waren in ihrer ursprünglichen Form, als sie sich gegen kleine, isolierte Übeltäter wie Nordkorea richteten, hochgradig effektiv. Doch ihr umfassenderer Einsatz gegen den Iran, Russland und chinesische Unternehmen hat sich als kontraproduktiv erwiesen. Nicht nur Russland und China, sondern auch Europa haben rasch Schritte ergriffen, um alternative Mechanismen zur internationalen Zahlungsabwicklung zu entwickeln.

Auch nicht staatliche digitale Zahlungssysteme durchlaufen derzeit – insbesondere dort, wo der Staat schwach oder nicht vertrauenswürdig ist oder es ihm anderweitig an Glaubwürdigkeit mangelt – eine rasche Entwicklung. Am schnellsten wird die Zahlungsrevolution vermutlich in armen Ländern wie in Afrika oder einigen ehemaligen Sowjetrepubliken ablaufen. Neue digitale Technologien bieten diesen Gesellschaften schon jetzt die Mittel für den Schritt aus der Armut und institutionellen Unterentwicklung zu institutioneller Komplexität und der Chance auf Innovation und Wohlstand.

Nun, da die funktionalen Mängel des US-Systems bloßgelegt werden, könnte die übrige Welt anfangen, die grundlegende Kompetenz und staatliche Effektivität der USA in Frage zu stellen.

Die langjährige zentrale Stellung des Dollars spiegelte die weltweite Nachfrage nach einer starken, liquiden, sicheren Währung wider. Doch dieser Umstand wird verschwinden, wenn alternative „Safe Assets“ aufkommen, insbesondere wenn diese durch nichtstaatliche Anbieter unterlegt werden. Darüber hinaus beruhte die lange Herrschaft des Dollars über das internationale Finanzsystem auf der anhaltenden wirtschaftlichen Stabilität, finanziellen Glaubwürdigkeit und kulturellen Offenheit der USA. Nun, da die funktionalen Mängel des US-Systems bloßgelegt werden, könnte die übrige Welt anfangen, die grundlegende Kompetenz und staatliche Effektivität der USA in Frage zu stellen.

Ein Paradebeispiel hierfür ist die COVID-19-Krise. Was die Zahl der Infizierten und Toten und die wirksame Eindämmung des Virus angeht, schneiden die USA im Vergleich zu den meisten anderen Ländern – und zu allen entwickelten Ländern – schlecht ab. Unter Präsident Donald Trump lädt Amerika inzwischen international zum Fremdschämen ein.

Unter diesen Umständen wird der Dollar international an Kaufkraft verlieren, und er könnte sogar anfangen, wie der alte sowjetische Rubel auszusehen – und zwar selbst, wenn es in Bezug auf Führung und Strategie zu einer dramatischen Veränderung kommt. Schließlich folgte Michail Gorbatschow nicht unmittelbar auf Breschnew, und als er dann an die Macht kam und die Perestroika einführte, war es zu spät. Die Misere war da bereits tödlich geworden.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

(c) Project Syndicate