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Mir gehen die beiden Familien durch den Kopf, die wir Amerikaner in den vergangenen zwei Wochen näher kennengelernt haben. Hier die Familie Biden – sie wirkt emotional aufgeschlossen, wurde durch tragische Schicksalsschläge empfindlich getroffen und sucht das Verbindende – und dort die Familie Trump: emotional verschlossen, isoliert in ihrer Feindseligkeit und angetrieben von einem mächtigen Drang, andere zu beherrschen.

Ein weibliches Mitglied der Familie Trump war dieser Tage hin und wieder bemüht, den Kopf aus dem Wertesumpf ihrer Familie zu erheben und sich von der menschlichen Seite zu zeigen – ein Impuls, der bei Donald, Don Jr. und Eric Trump nicht festzustellen war.

Der Wertekanon der Familie Trump ist vom sogenannten „Mean-World-Syndrom“ bestimmt. Das „Gemeine-Welt-Syndrom“ ist ein Begriff, den in den 1970er-Jahren der Kommunikationswissenschaftler George Gerbner prägte und der besagt: Wer sich im Fernsehen immer wieder schonungslose Gewalt anschaut, findet die Welt über kurz oder lang gefährlicher als sie ist.

In den 1990er-Jahren begann die Mean-World-Kultur, sich nicht mehr primär aus Gewaltdarstellungen im Fernsehen zu speisen, sondern aus dem Reality-TV, das den Eindruck verbreitet, der Mensch sei von Natur aus manipulativ, egoistisch und kleinkariert. Wer mit Reality-Serien aufwächst oder darin mitspielt, glaubt irgendwann automatisch, dass man anderen Menschen grundsätzlich nicht über den Weg trauen darf.

Inzwischen ist die Mean-World-Kultur allgegenwärtig. Sie zeigt sich als eine Art Bunkermentalität: Überall lauern Gefahren, und wir stehen kurz vor der Katastrophe. Der Parteitag der Republikaner war ein viertägiger Daueraufmarsch von Panikmachern, die von der Niedertracht der Welt überzeugt sind.

Der Parteitag der Republikaner war ein viertägiger Daueraufmarsch von Panikmachern, die von der Niedertracht der Welt überzeugt sind.

Die Überzeugung, dass die Welt gemein ist, speist sich aus Ängsten und pflanzt sich durch das Übersteigern dieser Ängste fort. Die dazugehörige rhetorische Masche ist das Schwarzmalen im apokalyptischen Tonfall. Beim Parteitag der Republikaner behaupteten viele Redner, dass die Demokraten nicht einfach nur falsch liegen, sondern „unsere Republik zersetzen“, die Suburbs im Stich lassen, die westliche Zivilisation zerstören und eine kommunistische Diktatur à la Fidel Castro errichten wollen. Nach den Worten von Matt Gaetz, der für Florida im Repräsentantenhaus sitzt, wollen die Demokraten „dir die Waffen wegnehmen, die Gefängnisse leerräumen, dich zu Hause einsperren und im Nachbarhaus eine gewalttätige Latino-Gang einquartieren.“

Die Maskottchen der Mean-World-Kultur sind Mark und Patricia McCloskey aus St. Louis. Als sie Black-Lives-Matter-Demonstranten an ihrer Villa vorbeilaufen sahen, wähnten die Eheleute sich mitten im Rassenkrieg, bauten sich auf ihrer Terrasse auf und fuchtelten mit ihren Schusswaffen herum.

Das Mean-World-Syndrom kann Menschen von Grund auf verändern. Als 2004 Kimberly Guilfoyle zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Gavin Newsom, der heute Gouverneur von Kalifornien ist, in der Charlie-Rose-Show zu Gast war, wirkte sie ausnehmend freundlich und normal. Inzwischen beherzigt sie die Spielregeln der Mean-World-Kultur und führte sich beim Parteitag der Republikaner wie eine schreiende Irre auf.

Die implizite Botschaft des Republikaner-Parteitags lautete: Joe Biden ist zu alt, zu soft oder zu empathisch, um sich in dieser gemeinen Welt zu behaupten. Er wird vor der steigenden Kriminalität kapitulieren, sich von den radikalen Linken unterbuttern lassen und im Strudel der Ereignisse untergehen. Vizepräsident Mike Pence brachte es so auf den Punkt: „In Joe Bidens Amerika werdet ihr nicht sicher sein.“

Das ist das schlagkräftigste Argument der Republikaner – vor allem dann, wenn die Mordrate weiter steigt und die chaotischen Zustände, die wir in Portland und Kenosha erlebt haben, im bevorstehenden Herbst zur Normalität werden. Dummerweise ließen die Demokraten es so weit kommen, dass man sie als Polizeigegner hinstellt in einer Zeit, in der in Amerika jede Menge Angst herumwabert, die sich trefflich instrumentalisieren lässt.

Dummerweise ließen die Demokraten es so weit kommen, dass man sie als Polizeigegner hinstellt in einer Zeit, in der in Amerika jede Menge Angst herumwabert, die sich trefflich instrumentalisieren lässt.

Wichtig ist aber auch, die wahren Gefahren beim Namen zu nennen. In vielerlei Hinsicht geht es bei der Wahl im November um zwei gegenläufige Arten der Bedrohungswahrnehmung. Die Wahl gewinnen wird am Ende die Partei, die am überzeugendsten benennt, wovor wir Amerikaner Angst haben sollten.

Es steht außer Frage, dass radikale Linke sich beschämende, brutale physische und verbale Ausfälle geleistet haben, die auf Twitter weite Kreise zogen. Viel gefährlicher als das ist jedoch ein Präsident, der so sehr damit beschäftigt ist, einen Kulturkampf auszufechten, dass er es nicht schafft, auf eine Pandemie und eine Wirtschaftskrise zu reagieren oder auch nur die elementarsten Regierungsaufgaben zu erledigen. Was ist für Donald Trump an 180 000 Corona-Toten so schwer zu verstehen?

Die große Gefahr ist, dass wir in einen Polarisierungsstrudel geraten. Derzeit schaukeln linke und rechte Mean-World-Fanatiker sich gegenseitig hoch. Das Chaos, das Trump anrichtet, legitimiert und stärkt die linken, diskriminierungsempfindlichen Protestler, und die Protestler wiederum liefern Trump die Rechtfertigung für seine rechtsautoritäre Politik und stärken ihn dadurch ebenfalls.

Letztlich macht der Krieg gegen die „gemeine Welt“ das normale politische Leben zunichte, höhlt die Mitte aus und zersetzt die moralischen Standards der Gesellschaft. Im Windschatten dieser aufpolierten Du-oder-ich-Mentalität werden Normen ihrer Bedeutung beraubt, die Wahrheit mit Füßen getreten und die Borniertheit salonfähig gemacht – und die Politik gerät zu einem Kampf, bei dem es darum geht, die Gegenseite kulturell auszumerzen.

Die Wahl gewinnen wird am Ende die Partei, die am überzeugendsten benennt, wovor wir Amerikaner Angst haben sollten.

Joe Biden wird die weit verbreitete Angst um die persönliche Sicherheit aufgreifen und immer wieder deutlich machen müssen, dass die wahre Gefahrenquelle Trumps wirre Inkompetenz ist und dass sein Mean-World-Extremismus die Ordnung der Gesellschaft zersetzt. Und wenn sich die Ordnung der Gesellschaft auflöst, bedeutet das Leid für die Menschen.

Biden könnte klarmachen, dass die Spannungen auf der Linken und der Rechten nur zunehmen werden, solange Trump im Weißen Haus sitzt. Er könnte klarmachen, dass Mitgefühl kein Zeichen von Schwäche ist und dass es nichts Mutigeres gibt, als sich dem geballten Hass entgegenzustellen und beharrlich Güte und Rücksichtnahme einzufordern.

In einer zivilisierten Gesellschaft schafft man Recht und Ordnung nicht, indem man mit einer Politik der harten Hand die Menschen kujoniert, sondern durch die gelassene und ordnungsgemäße Durchsetzung von Anstand, damit alle in der Gesellschaft sich wie lautere und in sich gefestigte Menschen benehmen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

(c) The New York Times