Mir ist bewusst, dass Ruth Bader Ginsburgs vakant gewordener Sitz im Supreme Court eine heftige und seit Langem erwartete Konfrontation zwischen Demokraten und Republikanern ausgelöst hat und dass nichts Geringeres auf dem Spiel steht als der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Ich sehe auch, dass das Thema in den sozialen Medien hohe Wellen schlägt, die genauso wenig zu stoppen sind wie die Fernsehkommentatoren. Mir ist auch klar, dass die Demokraten im Kongress sich gegen Trumps Nominierungspläne stemmen müssen. Trotzdem möchte ich allen, die ein offenes Ohr haben, eines vermitteln: Die Demokraten sollten die verbleibenden Wochen bis zur Wahl im November nicht darauf verwenden, nur noch über Richter, Mitch McConnell und den Supreme Court zu reden.
Ich will erklären, warum. Eine Fixierung auf den Supreme Court spaltet das Wahlvolk in zwei Lager eines „culture war“ und zwingt es, sich ideologisch scharf zu positionieren. Ein „Krieg der Kulturen“ lenkt die Wählerinnen und Wähler jedoch davon ab, dass der Präsident bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie und des daraus resultierenden Absturzes der Wirtschaft versagt, und bewirkt, dass sie sich stattdessen nur noch auf ihre tief verwurzelten „Stammesidentitäten“ besinnen. Es gibt Amerikaner, die sich als „pro-life“ oder gesellschaftlich konservativ verstehen und mit Blick auf Trumps stümperhaften Umgang mit der Pandemie trotzdem in Erwägung ziehen, Joe Biden ihre Stimme zu geben. Wenn aber die Alternative „konservative oder liberale Richter“ lautet, werden diese Wähler wohl eher den Republikanern treu bleiben.
Aufgrund des eigentümlichen US-Wahlsystems werden diese Unentschlossenen besonders ins Gewicht fallen – sogar mehr als die gut organisierten Leute in den liberalen Enklaven, die Feuer und Flamme für die Demokratische Partei sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Basis den Wahlkampf der Demokraten mit Rekordspenden unterstützt. Wenn Geld der einzige entscheidende Faktor wäre, säße Jeb Bush im Weißen Haus. Aus eigener Kraft kann die Basis der Demokraten die Präsidentschaftswahlen nicht entscheiden – und über die Mehrheit im Senat schon gar nicht. Das Wettrennen wird in einer Handvoll Bundesstaaten entschieden, und zwar von einer winzigen Anzahl von Parteilosen und enttäuschten Parteigängern wie den früheren „Reagan-Demokraten“, aus denen jetzt „Biden-Republikaner“ werden könnten. Die Aussicht auf „liberale Richter“ könnte diese Gruppe jedoch verschrecken, weil sie bei ihnen Assoziationen von Gesetzlosigkeit, Entartung und Chaos weckt.
Wenn Geld der einzige entscheidende Faktor wäre, säße Jeb Bush im Weißen Haus.
Die Republikanische Partei weiß, wie man mit polarisierender Rhetorik die Menschen in stammesähnliche Lager spaltet. Im Wahlkampf für die Zwischenwahlen 2018 tat Donald Trump vor allem eines: Er stilisierte die auf der Suche nach Asyl in Richtung US-Grenze marschierenden Flüchtlinge zur „Karawane“ hoch. Die Flüchtlinge waren von vornherein nicht sehr zahlreich und wurden, je näher sie der Grenze kamen, immer weniger. Trotzdem lieferten sie den Republikanern, die ihre Basis erinnern wollten, auf welcher Seite des ideologischen Grabens sie zu Hause sind, ein willkommenes Thema. Als Trump das US-Militär an die Grenze entsandte, war die anschließende Empörung einerseits berechtigt und andererseits eine Falle: Sie lenkte von den eigentlichen Problemen ab und brachte die Wähler auf den irrigen Gedanken, sie müssten sich zwischen Karawane, Kriminalität und illegaler Einwanderung auf der einen Seite und Tradition, Sicherheit sowie Recht und Ordnung auf der anderen Seite entscheiden.
In einigen wahlentscheidenden Bundesstaaten funktionierte dieser Trick. „Die Karawane hat ihm geholfen“, stellte die Ex-Senatorin Claire McCaskill aus Missouri nüchtern fest, nachdem sie gegen den Republikaner Josh Hawley verloren hatte. Auch die „Kavanaugh-Angelegenheit“ – also die von republikanischen Medien aufgetischte Geschichte vom aufrechten Konservativen, der den Schutz der Familie im Sinn hat und von gefährlichen Liberalen verleumdet wird – habe ihrem Rivalen in die Hände gespielt.
Einen Kulturkampf anzuzetteln, gelingt nicht überall. Wenn die Rechnung – wie zum Beispiel in all den sogenannten Suburban Districts, in denen bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus zentristische Demokraten die Mehrheit holten – nicht aufging, lag das in vielen Fällen allerdings nicht daran, dass die Kandidaten lautstark die Entsendung von Truppen an die Grenze verurteilten, sondern daran, dass sie andere Themen setzten. Sobald die unentschlossenen Wähler an Jobs und Gesundheitsversorgung dachten, stieg ihre Bereitschaft, von ihren bisherigen Gewohnheiten abzurücken und für die Demokraten zu stimmen.
Auch in anderen Teilen der Welt nutzen Politiker Kulturkämpfe zu ihrem Vorteil.
Auch in anderen Teilen der Welt nutzen Politiker Kulturkämpfe zu ihrem Vorteil. Auf den Philippinen gelang es Präsident Rodrigo Duterte, das Wahlvolk mit seiner schockierenden Strategie der Ermordung von Drogenhändlern gedanklich so in Beschlag zu nehmen, dass es nicht mehr über Armut oder Analphabetismus nachdachte, sondern darüber stritt, wer für Duterte (und somit für „Law & Order“) oder gegen ihn (und somit, wie Duterte formulieren würde, für „Kriminalität und Drogen“) war. Eine Studie kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass der italienische Populist Matteo Salvini unter anderem deswegen so erfolgreich war, weil er die Italiener selbst dann noch mit dem Migrantenthema polarisierte, als die realen Migrantenzahlen dramatisch zurückgingen. Polarisierung ist eine altbekannte autoritäre Taktik. Russlands Präsident Wladimir Putin lässt seine Staatsmedien lieber über die Niedertracht des Westens berichten als über den sinkenden Lebensstandard im eigenen Land, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan setzte vor den Wahlen auf anti-griechische Rhetorik, um nicht über die wirtschaftliche Misere in der Türkei sprechen zu müssen.
Die Demokraten sollten nicht in die gleiche Falle tappen. Ihre Politiker und Aktivisten und auch ihre Social Media nutzenden Wähler sollten sich, auch wenn das nicht leicht sein wird, nach Kräften auf die konkreten Fragen konzentrieren, mit denen die Menschen Tag für Tag konfrontiert sind: warum ihre Kinder nicht in der Schule sind, warum ihre Firma dichtmachen musste, warum sie nicht ausreichend krankenversichert sind und warum 200 000 Menschen sterben mussten – und warum es bei all diesen Themen einen entscheidenden Unterschied macht, wer Präsident ist.
Wenn man andere Themen in den Fokus rückt als den missbräuchlichen Umgang der Republikanischen Partei mit der Supreme-Court-Nominierung, heißt das nicht, dass diese Usurpation nicht zum Himmel schreit. Sie ist ein Angriff auf einen Grundwert der US-Verfassung: den unpolitischen Charakter des obersten US-Gerichts. Doch reagieren oder Abhilfe schaffen – zum Beispiel durch eine Änderung der Gesetzeslage oder der Geschäftsordnung des Senats – können die Demokraten nur, wenn sie nicht nur die Präsidentenwahl gewinnen, sondern sich auch die Mehrheit im Senat sichern. Und das wird nur gelingen, wenn ehemalige Wähler der Republikaner die Seiten wechseln. Das sollte man ihnen möglichst leicht machen. Auch wenn es sich seltsam anhört: Wem die Zukunft des Supreme Court am Herzen liegt, der sollte möglichst wenig Worte über den Supreme Court verlieren – zumindest bis November.
(c) The Atlantic
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld