Ist Kanada ein Bollwerk gegen die wachsenden globalen Kräfte des Rechtspopulismus? Premierminister Justin Trudeau jedenfalls scheint dieser Ansicht zu sein. „In einer Zeit, in der politische Bewegungen aus realen Ängsten ihrer Bürgerinnen und Bürger Kapital schlagen, hat sich Kanada gegen Zynismus und für Mut und Engagement entschieden“, sagte er jüngst in einer Rede vor der französischen Nationalversammlung.

Einmal abgesehen von der dümmlichen Scheinheiligkeit dieser Aussage (würde sich auch nur ein Politiker offen für Zynismus und gegen Mut und Engagement aussprechen?), betrachtet Trudeau Kanada offenkundig als Spezialfall. Damit ist er nicht allein. Ein Artikel, der im vergangenen Jahr in der New York Times unter der Überschrift „Kanadas Geheimrezept gegen die populistische Welle“ erschien, strich den inklusiven Charakter des kanadischen Nationalismus heraus und verwies darauf, dass die ethnischen Minderheiten in Kanada politisch so ungebunden seien, dass sämtliche Parteien um sie werben müssten.

Trudeau betrachtet Kanada offenkundig als Spezialfall. Damit ist er nicht allein.

Und nun kommt Doug Ford daher und vermiest dieses Zusammenspiel neiderfüllter Blicke aus dem Ausland und blasierter Selbstzufriedenheit aufseiten der kanadischen Linken. Bekannter als Doug Ford ist vielleicht sein verstorbener jüngerer Bruder Rob, einst Bürgermeister von Toronto, der den Konsum von Crack einräumte und zur Erklärung „einen möglichen Vollrausch“ anführte. Seiner Beliebtheit in Toronto tat das keinen Abbruch, denn die Bürgerinnen und Bürger kauften Rob Ford ab, dass er auf der Seite des einfachen Volkes gegen die uralten Interessen der herrschenden Klasse in Toronto und die Selbstbedienungsmentalität in der Kommunalpolitik kämpfe.

Doug Ford gilt als stabilere und weniger plumpe Version seines Bruders, obwohl er einer Meldung der Zeitung The Globe and Mail zufolge in den 1980er Jahren mit Drogen dealte; Ford bestreitet das. Heute ist er drauf und dran, die Regierung von Kanadas bevölkerungsreichster und wirtschaftlich mächtigster Provinz Ontario zu übernehmen. Anfang des Jahres eroberte er überraschend den Chefsessel der Progressive Conservative Party von Ontario, nachdem der Parteichef nur Monate vor der Wahl im Juni wegen mutmaßlichen sexuellen Fehlverhaltens zurücktreten musste. Umfragen zufolge liegt Ford deutlich vor Kathleen Wynne, der Premierministerin von Ontario, deren Liberal Party dort seit fast 15 Jahren regiert.

Fords Wahlprogramm wird von typisch konservativen Inhalten beherrscht, doch in seinen Reden beruft er sich gern auf das „einfache Volk“ und greift die „Eliten“ aus allen politischen Parteien an. „Ich muss wohl definieren, was ich unter Elite verstehe“, sagte Ford, als ein Radiomoderator ihn auf seinen persönlichen Reichtum ansprach. „Das sind Menschen, die auf die einfachen Leute hinabblicken, weil sie glauben, dass sie schlauer sind und alles besser wissen, die uns erzählen, wie wir zu leben haben, und die sich, wenn sie mit abgespreiztem kleinen Finger ihren Champagner schlürfen, für etwas Besseres halten: Das sind die Eliten.“ Ford wirft Wynne vor, die Provinz Ontario zugrunde zu richten, und bezeichnet ihre Regierung als die politisch korrupteste der kanadischen Geschichte. Wynne wiederum vergleicht Ford mit dem US-Präsidenten. „Doug Ford klingt wie Donald Trump. Und das liegt daran, dass er wie Donald Trump IST“, tweetete sie.

Aber stimmt das auch? Ist Ford eine kanadische Version Trumps, gleicht er dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der Parteichefin des französischen Front National Marine Le Pen oder anderen Rechtspopulisten rund um den Erdball, die politisch gerade Aufwind haben? Und wenn es so ist, bröckelt dann das kanadische Bollwerk?

Die meisten Kanadier sind stolz auf die ethnische Vielfalt ihres Landes, und die Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen sind, genießen eine breite Akzeptanz. Allerdings ist die Zahl derer, die nach Kanada gekommen sind, relativ klein.

Beginnen wir mit dem wichtigsten Argument gegen die Ähnlichkeit Fords mit Trump oder einem der anderen. Rechtspopulistische Politiker überall auf der Welt betonen die ethnische oder religiöse Vorherrschaft einer Gruppe. Sie führen xenophobe Bewegungen an, die Angst machen und Minderheiten ausschließen. Ford aber hat in Toronto und den Vororten die breite Unterstützung ethnischer Minderheiten aus Gründen, die zu erklären seine Kritiker sich schwertun. Der Gegner, auf den er sich rhetorisch einschießt – die mit abgespreiztem kleinem Finger Champagner schlürfende Elite – ist zwar ebenso ein Mythos wie der von den syrischen Flüchtlingen und ihrer angeblichen Gefahr für die nationale Identität Ungarns, der Orbán im April zum Sieg verhalf, doch diese Elite ist kein Feind, der sich durch Hautfarbe oder Religion auszeichnet.

In Kanada bewarb sich durchaus schon einmal eine Politikerin mit rassistischer Hetze um ein hohes politisches Amt: Als Kellie Leitch für die Führung der Konservativen Partei kandidierte, sprach sie sich dafür aus, sämtliche Einwanderer, Besucher und Flüchtlinge in Kanada nach ihren „kanadischen Werten“ zu befragen. Sie ging damit baden und beendete das Rennen um den Parteivorsitz als Sechste. Das ist wichtig zu wissen, schließt aber noch lange nicht aus, dass sich Fords wahrscheinlicher Sieg in Ontario negativ auf die kanadische Demokratie auswirken wird. Populismus kann, auch wenn er in einer relativ milden Variante daherkommt, Schaden anrichten.

Einen guten Überblick über dieses Phänomen gibt Harvard-Professor Steven Levitsky, der gemeinsam mit seinem Kollegen Daniel Ziblatt das Buch Wie Demokratien sterben verfasst hat. Populisten, so Levitsky, verschafften sich Glaubwürdigkeit bei ihren Anhängern, indem sie gegen etablierte Normen verstießen. Eine dieser Normen besage, dass man politische Gegner toleriert und ihre Legitimität anerkennt, eine andere sei Nachsicht, also der Verzicht darauf, alle rechtlich zur Verfügung stehenden Instrumente zu nutzen, um Gegner zu vernichten und die eigenen Themen voranzubringen; dazu gehört das Besetzen wichtiger Richterposten mit politisch genehmen Juristen oder auch der Missbrauch präsidialer Erlasse. Wer aber mit dem Mandat gewählt wurde, das Establishment zu zerstören, so Levitsky jüngst in einem Vortrag, hat, wenn er erst im Amt ist, wenig Anlass, Nachsicht walten zu lassen.

Das zweite Problem, das sich aus Populismus ergibt, ist die Polarisierung, die entsteht, wenn Gegner dämonisiert und entlegitimiert werden. „Wer den Sieg eines Gegners als unerträglich empfindet, rechtfertigt auch außergewöhnliche Mittel, um ihn zu verhindern“, sagte Levitsky in seinem Vortrag. Fords Rhetorik zielt in diese Richtung. Mit schon fast revolutionär klingenden Floskeln kündigt er an, die jahrzehntelange Unterdrückung des einfachen Volkes beenden zu wollen. Wynne, so Ford, säße schon lange im Gefängnis, wenn sie nicht in der Politik aktiv wäre, und andere Liberale gehörten ebenfalls dorthin. Wynne übt sich in der Öffentlichkeit weder in Zurückhaltung noch in Respekt, aber sie ist keine Populistin. Sie kann ja auch nicht gegen ein politisches Establishment Wahlkampf machen, dem sie selbst ein Gesicht gibt. Fords Aufstieg spiegelt somit einen konservativen Populismus in Kanada, nicht aber seine Schattenseite, die Xenophobie.

Die meisten Kanadier sind stolz auf die ethnische Vielfalt ihres Landes, und die Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen sind, genießen eine breite Akzeptanz. Allerdings ist die Zahl derer, die nach Kanada gekommen sind – seit November 2015 etwa 40 000 – relativ klein, verglichen mit den Hunderttausenden, die nach Deutschland kamen, eine Zahl, die dort zur Erstarkung fremdenfeindlicher Politik beitrug. Obwohl Kanada also offenbar durchaus anfällig ist für den Populismus, der sich im wahrscheinlichen Wahlsieg Doug Fords niederschlägt, bleibt das Land doch eine Festung der multikulturellen Toleranz. Ernsthaft unter Beschuss geraten ist diese Festung bislang nicht.

Übersetzung: Anne Emmert