Wenn in den USA jetzt schon Präsidentschaftswahlen wären, könnte Donald Trump sie durchaus gewinnen. Nach diversen Umfragen legt er derzeit gegenüber Joe Biden zu, würde fünf von sechs Swing States gewinnen und sich dort die Stimmen von rund 20 Prozent der schwarzen und rund 40 Prozent der hispanischen Wahlberechtigten holen.
Von linksliberaler Seite hört man oft, Trumps anhaltender Erfolg belege, dass sich viele Menschen in den USA von der Demokratie entfremdet haben und für extreme Ideologien empfänglich sind. Hillary Clinton nannte Trump eine „Bedrohung“ für die Demokratie, Biden bezeichnete ihn als „einen der rassistischsten Präsidenten unserer modernen Geschichte“.
Auf Seiten der Rechten sehen sie Trumps Erfolg als Hinweis darauf, dass die Menschen für radikalere Politikformen offen sind. Nach Trumps Wahlsieg 2016 posaunte der russische Philosoph Alexander Dugin, das amerikanische Volk habe eine „Revolution“ gegen den politischen Liberalismus losgetreten. Der ultrarechte Rassist Richard Spencer erklärte sich und seine weißen Mitstreiter zur „neuen Trump-Vorhut“.
Doch beide Seiten interpretieren Trumps Erfolg grundfalsch. Trump liegt in den Swing States nicht vor Biden, weil sich die Amerikaner dem Autoritarismus unterwerfen wollen, und er hat auch nicht den Rückhalt eines maßgeblichen Anteils der schwarzen und hispanischen Wählerschaft, weil diese seine rassistische Ideologie gut fände. Aus seinem Erfolg lässt sich nicht ableiten, dass Amerika sich die Vorstellungen der extremen Rechten zu eigen machen möchte. Vielmehr erfreut sich Trump dauerhafter Unterstützung, weil ihn viele Wählerinnen und Wähler – oft aus gutem Grund – als zwar unberechenbaren, aber pragmatisch-gemäßigten Politiker wahrnehmen.
Aus seinem Erfolg lässt sich nicht ableiten, dass Amerika sich die Vorstellungen der extremen Rechten zu eigen machen möchte.
Trumps ungezügelte Phrasendrescherei, seine ständigen Protokollverstöße und sein Hang, Fachwissen in Frage zu stellen, empfinden Anhänger beider politischer Parteien als zutiefst beunruhigend. Seine Präsidentschaft war häufig von Chaos geprägt und fand im Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 in diesem Sinne seinen „Höhepunkt“. Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf hat Trump angekündigt, Biden einen Sonderstaatsanwalt auf den Hals zu hetzen. Nach wie vor behauptet er, man habe ihm die Wahl 2020 gestohlen, und Amerika sei derzeit „keine großartige Demokratie“. Auch seine Vorliebe für aufrührerische Reden hat er sich bewahrt.
Aber man sollte nicht vergessen, dass es in Trumps Präsidentschaft neben oft maßlosen Tiraden und unberechenbarem Verhalten auch eine Vielzahl moderater politischer Entscheidungen gab. Vom Gesundheitssystem bis hin zu Außenpolitik und Handel verwarf Trump ein aufs andere Mal besonders unpopuläre Konzepte beider politischer Parteien. Bei der Wählerschaft scheint das angekommen zu sein: Auf die Frage, ob Trump zu konservativ, nicht konservativ genug oder „keins von beidem“ sei, gaben in einer kürzlich durchgeführten Umfrage 57 Prozent der Befragten „keins von beidem“ an. Nur 27 Prozent hielten ihn für zu konservativ.
Eine solche Einschätzung mag Trump-Kritiker verblüffen. Aber auch seine provokantesten Äußerungen seit seinem Ausscheiden aus dem Amt – er werde vom ersten Tag seiner zweiten Amtszeit an „Diktator“ sein oder der ehemalige Generalstabschef Mark Milley habe für „einen Akt des Landesverrats“ die Todesstrafe verdient – wiegen für viele Wählerinnen und Wähler nicht so schwer wie sein Regierungsstil in der ersten Amtszeit. Man hat sich an seine großspurigen Sprüche gewöhnt und sieht ihn heute, wie er damals war: kein ideologischer Kämpfer, sondern ein geschmeidiger Geschäftsmann mit einem Faible für Verhandlungen und Kompromisse. Diese Sichtweise könnte mehr als jeder andere Faktor erklären, warum so viele Menschen zu ihm halten und warum uns womöglich eine zweite Amtszeit Trumps erwartet.
Trumps moderate Ausrichtung ist leicht zu übersehen, weil er vom Stil her kein gemäßigter Politiker ist. Doch er ähnelt mit seiner Haltung Richard Nixon, der ein kampflustiges Temperament und ausgeprägte Ressentiments mit einem Gespür für politische Realität und einer Bereitschaft zu Verhandlungen mit ideologischen Gegnern verband. Unvergessen ist, wie der glühende Antikommunist Nixon seinen Pragmatismus mit einer China-Reise unter Beweis stellte. Seine pragmatische Haltung zeigte sich auch darin, dass er die New Deal-Ordnung akzeptierte, die viele Konservative bis heute ablehnen.
Trumps moderate Ausrichtung ist leicht zu übersehen, weil er vom Stil her kein gemäßigter Politiker ist.
Ähnlich verhält es sich mit Trump. Betrachten wir zunächst seine Haltung in der Gesundheitspolitik, die den Vorstellungen der Demokraten ebenso widerspricht wie denen der Republikaner. Auf die Frage, ob er ein Gesundheitssystem für alle unterstütze, antwortete er 2015: „Jeder muss versichert sein“ und „Der Staat wird das bezahlen“. Im Amt schlug er eine Alternative zu Obamacare vor, die konservative Kongressabgeordnete als „republikanischen Sozialhilfeanspruch“ geißelten. Als er vor einem Monat erneut Obamacare kritisierte, betonte er, er wolle das Programm nicht „einstellen“, sondern „durch ein viel besseres Gesundheitssystem ersetzen“.
Mit seinen Ansichten zu Medicare, der Krankenversicherung für Senioren, und Social Security, der gesetzlichen Rentenversicherung, vertritt Trump eine ähnlich gemäßigte Position. Im derzeitigen Vorwahlkampf der Republikaner wirft Trump dem Gouverneur von Florida Ron DeSantis vor, „Rollstühle über die Klippe“ schieben zu wollen, und beruft sich dabei auf das Abstimmungsverhalten von DeSantis als Kongressabgeordneter in Gesetzgebungsverfahren, in denen Medicare durch Gutscheine für private Versicherungen ersetzt und das Mindestalter für den staatlichen Rentenbezug angehoben werden sollte.
In Sachen Handel brach Trump mit der bei demokratischen und republikanischen Eliten beliebten reinen Lehre des freien Marktes, die jedoch in weiten Teilen des ländlichen Amerika höchst unbeliebt ist. Er warf China unfaire Handelspraktiken vor und verhängte Zölle auf chinesische Waren im Wert von mehr als 300 MilliardenUS-Dollar. Joe Biden behielt diese Zölle bei und legitimierte so über die Parteigrenzen hinweg Trumps Entscheidung.
Seine Wirtschaftsbilanz ist für das Wahljahr 2024 Trumps wichtigstes Argument. Gerade unter dem Eindruck des Inflationsdrucks, den viele Wirtschaftsfachleute unterschätzt haben, könnten Wählerinnen und Wähler das Bauchgefühl des Geschäftsmannes der Fachausbildung der Ökonomen vorziehen.
Trumps rechte Kritiker werfen ihm oft vor, nicht ausreichend hinter konservativen gesellschaftlichen Positionen zu stehen.
In der Außenpolitik legte Trump eine Besonnenheit und Verhandlungsbereitschaft an den Tag, die im Widerspruch zu der aggressiven Politik beider Parteien nach dem 11. September 2001 standen. So behauptete er sich 2019 gegen Kriegstreiber wie seinen Außenminister Mike Pompeo und seinen Nationalen Sicherheitsberater John Bolton, als er nach der Zerstörung einer US-Drohne durch den Iran einen geplanten Gegenschlag absagte. Trump fand, ein Raketenangriff, der 150 Menschen das Leben kosten könnte, sei „im Verhältnis zum Abschuss einer unbemannten Drohne unverhältnismäßig“.
Bei Demokraten wie auch bei Republikanern hatte das Gebot, Gegner als Kriegsverbrecher und Terroristen zu verurteilen, die konventionelle Kunst der Diplomatie zunehmend abgelöst. Mit seiner Vorliebe für Deals stemmte sich Trump gegen diesen Trend. Im Juli wies er Forderungen zurück, Wladimir Putin als Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen, und warnte, wer ein solches Vorgehen befürworte, gehe das Risiko einer Eskalation ein, weil dadurch „Friedensverhandlungen unmöglich wären“.
Auch in gesellschaftlichen Fragen hat sich Trump als eine Art Gemäßigter positioniert. Zwar sprach er sich für die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade aus und warf den Demokraten vor, sie befürworteten Gesetze, die es erlauben, das Ungeborene im neunten Schwangerschaftsmonat „aus dem Mutterleib zu reißen“, aber er hat sich auch mit Abtreibungsgegnern angelegt. Als Ron DeSantis in Florida das Gesetz für ein Abtreibungsverbot nach der sechsten Woche unterschrieb, bezeichnete Trump das als „einen schrecklichen Fehler“. Trumps rechte Kritiker werfen ihm oft vor, nicht ausreichend hinter konservativen gesellschaftlichen Positionen zu stehen. Das könnte stimmen – aber es dürfte für die Wahl kein Nachteil sein. Indem sich Trump sowohl gegen Spätabbrüche als auch gegen besonders weitgehende Abtreibungsverbote ausspricht, nimmt er die konfuse Stimmung im Großteil seiner Wählerschaft auf.
Denken wir auch an die Kontroversen zu Gender und Sexualität. Trump genehmigte, ohne zu zögern, Beschränkungen für Transgender-Personen im Militär. Aber man darf ihn nicht mit bibelgläubigen Evangelikalen oder Moralisten aus dem Mittleren Westen in einen Topf werfen. Sein pietätloses Auftreten und sein Versprechen, „unsere LGBTQ-Mitbürger zu schützen“, erinnern daran, dass er bei aller politischen Inkorrektheit in der New Yorker Immobilien- und Medienwelt eben doch so etwas wie Toleranz gelernt hat. (Darauf bezog sich auch Senator Ted Cruz aus Texas, als er Trump 2016 vorwarf, „New Yorker Werte“ zu verkörpern.) Somit steht Trump für einen Konservatismus, der sich mit Diversität arrangiert hat, auch wenn er die Sicht der Linken, was unter „Diversität“ zu verstehen ist, nicht teilt.
Natürlich pflegt Trump Kontakte zu Mitgliedern des bizarren rechten Randes.
Auf beiden Seiten des politischen Spektrums vertreten viele, die Trumps gemäßigte Position übersehen, fälschlicherweise die Ansicht, er habe seinen Aufstieg randständigen Ideologien zu verdanken. Natürlich pflegt Trump Kontakte zu Mitgliedern des bizarren rechten Randes. Doch Trump unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von den Extremisten, mit denen er manchmal gleichgesetzt wird. So hat er sich zum Beispiel mit der Unterzeichnung des First Step Act – eines parteiübergreifenden Gesetzes, das Ron DeSantis als „Gefängnisausbruchsgesetz“ anprangerte – für eine Strafjustizreform eingesetzt. Eine Position, mit der er sich ausdrücklich an schwarze Amerikaner wandte.
Natürlich war Trump nicht immer und nicht in jedem Bereich gemäßigt. Für eine zweite Amtszeit versprechen er und sein Strategieteam, mit dem US-Militär Drogenkartelle in Mexiko anzugreifen und Regularien für den öffentlichen Dienst zu ändern, um den Verwaltungsapparat des Bundes umzukrempeln. Seine Ankündigung, „einen richtigen Sonderstaatsanwalt“ für Ermittlungen gegen Biden zu ernennen, sollte eine ernsthafte Debatte darüber anschieben, ob Sonderstaatsanwälte mit der US-Rechtstradition überhaupt vereinbar sind.
Behauptungen aus Trumps Wahlkampfteam, die ehrgeizigsten seiner Wahlversprechen seien „rein spekulativ“ und „nur als Vorschläge“ zu verstehen, könnten dem Versuch dienen, Trumps Bestrebungen in ihrem ganzen Ausmaß zu verschleiern. Vielleicht spiegelt sich darin auch seine langjährige Verhandlungsstrategie wider, große Töne zu spucken, um anschließend bescheidenere Deals abzuschließen. Eine zweite Amtszeit Trumps könnte durchaus radikaler und weniger pragmatisch ablaufen als die erste. Das Wahlvolk sollte diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Seine erste Amtszeit gibt jedoch Anlass zu glauben, dass es nicht so kommen wird.
Am Thema Migration entscheidet sich, was man von Trumps Spielart gemäßigter Politik tatsächlich erwarten kann. Er verspricht nun, umfassender und effektiver gegen illegale Einwanderung vorzugehen als in seiner ersten Amtszeit, was auch den Bau von Internierungslagern einschließt. In der Einwanderungsfrage vertrauen laut einer aktuellen Umfrage 53 Prozent der registrierten Wählerinnen und Wähler Trump mehr als Biden, nur 41 Prozent geben Biden den Vorzug.
Vielleicht spiegelt sich in diesen Zahlen mangelnde Kenntnis über das Ausmaß von Trumps Plänen. Vielleicht verweisen sie aber auch auf eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Status quo. Im Oktober hatte es die US-Zoll- und Grenzschutzbehörde an der Südgrenze mit mehr als 240 000 Menschen zu tun, die versuchten, in die Vereinigten Staaten einzureisen, und zwischen Oktober 2022 und September 2023 wurden 169 Personen, deren Namen auf der Terrorliste standen, bei dem Versuch verhaftet, die Grenze zu überqueren.
Tatsächlich wird die Radikalität von Trumps Vorgehen beim Thema Einwanderung gern überzeichnet.
Tatsächlich wird die Radikalität von Trumps Vorgehen beim Thema Einwanderung gern überzeichnet. Biden behielt die aus der Covid-Zeit stammende Title 42-Regelung bei, mit der Trump Abschiebungen beschleunigt hatte, und er weitete sie sogar noch aus, bevor er sie in diesem Jahr auslaufen ließ. Obwohl Biden 2021 erklärte, „der Bau einer massiven Mauer, die die gesamte Südgrenze abdeckt, ist keine ernsthafte politische Lösung“, verlängerte er die Trump-typischen Maßnahmen.
Bidens Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas räumte im Oktober ein, es sei „akut und unmittelbar notwendig, physische Barrieren zu errichten“, um „illegale Einreisen zu verhindern“. Nicht einmal Trumps Wahlversprechen, Internierungslager zu errichten, steht in völligem Widerspruch zur derzeitigen Politik: In diesem Herbst hat die Biden-Regierung zwei Lager wiedereröffnet, um minderjährige Migranten unterzubringen.
Mit der Ansicht, dass Trump eine existenzielle Bedrohung für die Demokratie darstellt, sind nun auch außergewöhnliche rechtliche Schritte gegen ihn verknüpft. Auch wenn die vier Strafverfahren gegen Trump juristisch unterschiedlich gelagert sind, haben sie angesichts ihres Timings und Trumps anhaltender Popularität dieselbe politische Wirkung: Sie legen den Schluss nahe, dass zur Verteidigung der Demokratie einer der beiden führenden Kandidaten zum Schweigen gebracht oder gar ins Gefängnis gesteckt werden muss. Dies trifft auch auf Klagen in mehreren Bundesstaaten zu, in denen argumentiert wird, Trump sei für ein Amt nicht geeignet.
Wenn der Rückhalt für Trump wirklich auf einen beginnenden Radikalismus in der US-Wählerschaft hindeuten würde, wären solche rechtlichen Schritte verständlicher. Auch schwerwiegende politische Folgen ließen sich leichter rechtfertigen. Aber selbst wenn man einige der Anklagen gegen Trump für gut begründet hält, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass eine Strafverfolgung wegen des möglichen Anscheins einer parteiischen Motivation zu viele Nachteile mit sich brächte – dass sie eine Gefahr für die demokratischen Normen wäre, vor der sie angeblich schützen soll.
Wer ernsthaft die Bewahrung der demokratischen Traditionen im Auge hat, betrachtet solche drastischen Maßnahmen als überflüssig. Ungeachtet Trumps Sprengkraft belegt sein Erfolg auch den Wunsch der US-Wählerschaft nach einer gemäßigten Politik und ihre Skepsis gegenüber extremen Ideologien. Im November könnten die Menschen entscheiden, dass sie lieber Joe Biden haben wollen als Donald Trump. Aber wenn die USA wirklich eine Demokratie sind, können sie diese Wahl frei treffen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.
Aus dem Englischen von Anne Emmert