„Your alarm bells, they should be ringing“, sang Thom Yorke 2003 auf dem Radiohead-Album „Hail to the Thief“. Es war eine scharfe Kritik an der Kriegstreiberei und dem christlichen Fundamentalismus des damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Nur eine Minderheit der Amerikanerinnen und Amerikaner hatte ihn gewählt – inzwischen die Regel für republikanische Präsidenten. Man reibt sich die Augen, wenn eben dieser George W. Bush heute als respektabler Staatsmann durchgeht. Zu erklären ist dies nur durch den augenfälligen Kontrast zu seinem Nach-Nachfolger Donald Trump und mit Blick auf den heutigen Zustand der Republikanischen Partei. In großen Teilen befindet sie sich in unbedingter Gefolgschaft zu Trump und akzeptiert dessen „big lie“ von der angeblich gestohlenen Wahl 2020.
Die Alarmglocken schrillen nun also deutlich lauter. „Unsere Demokratie steht auf dem Spiel,“ so endet der Aufruf von zahlreichen renommierten Demokratieforscherinnen vom 1. Juni 2021. Sie fordern den US-Kongress auf, mit nationalen Regeln den konzertierten Angriff der Republikaner auf die demokratischen Institutionen abzuwehren. Unter dem Vorwand, die „election integrity“ zu wahren, versuchen diese, mit hunderten von Gesetzesvorhaben in republikanisch dominierten Einzelstaaten nicht nur die Wahlbeteiligung von Minderheiten zu beschränken, sondern auch die Durchführung der Wahlen in die Hände der Parteien zu geben. Die Einzelstaatsparlamente sollen gar in die Lage versetzt werden, Wahlergebnisse zu überstimmen, wenn Zweifel an deren Rechtmäßigkeit bestehen – mit anderen Worten: wenn wider Erwarten die Demokraten gewonnen haben. Dies, so sieht es nicht nur Donald Trump, kann nämlich ganz grundsätzlich nur auf Wahlfälschung beruhen.
Bei den Demokraten bricht inzwischen offene Panik aus, denn es bleibt nur wenig Zeit, die durch diese (und andere) Manipulationen drohende Niederlage bei den Kongresswahlen 2022 abzuwenden. Und für die von den Wissenschaftlern und unter anderem auch vom ehemaligen Präsidenten Barack Obama geforderte Abschaffung des Filibusters im US-Senat, ohne die ein bundeseinheitliches Wahlrecht nicht beschlossen werden kann, fehlt den Demokraten bisher die für eine Mehrheit notwendige Geschlossenheit in den eigenen Reihen. Joe Manchin aus West Virginia und Kyrsten Sinema aus Arizona wollendiesen Schritt nämlich nicht mitgehen.
Es droht den USA inzwischen gar die fortgesetzte Tyrannei einer Minderheit, wenn es nicht endlich zu einer grundlegenden Reform der demokratischen Institutionen kommt.
Der Filibuster gibt jedem und jeder der 100 Senatoren die Möglichkeit, Gesetzesvorhaben zu blockieren, bis 60 von ihnen die Blockade aufheben. Berühmt geworden ist der Vorgang durch Frank Capras Film „Mr. Smith geht nach Washington“ von 1939, in dem James Stewart den Senator Smith und dessen heldenhaften Widerstand verkörpert. Tatsächlich aber ist er ein zentrales Element der jahrzehntelangen Aufrechterhaltung der Rassendiskriminierung im Süden der USA. Der Filibuster ist ein zusätzliches Element der „checks and balances“ im amerikanischen Regierungssystem, den ausgleichenden Blockademöglichkeiten und Gewaltenverschränkungen, mit denen die Verfassungsväter eine „Tyrannei der Mehrheit“ verhindern wollten. Nicht nur scheint die dieser Haltung innewohnende Demokratieskepsis seit langem überholt. Es droht den USA inzwischen gar die fortgesetzte Tyrannei einer Minderheit, wenn es nicht endlich zu einer grundlegenden Reform der demokratischen Institutionen kommt und die Verantwortung für die Durchführung der Wahlen für die amerikanische Bundesregierung den Einzelstaaten nicht wenigstens teilweise entzogen wird.
Die Panik der Demokraten und die Sorge der Professorinnen wären nämlich auch dann gut begründet, wenn die meisten der geplanten Gesetzesänderungen in den Einzelstaaten scheitern sollten. Die Republikaner genießen derzeit alle Vorteile der diversen Ausgleichsmechanismen im amerikanischen Regierungssystem: Im Electoral College, weil dort die von den Republikanern dominierten bevölkerungsarmen Staaten überrepräsentiert sind. Landesweit hatte Joe Biden über sieben Millionen Stimmen Vorsprung vor Donald Trump; im Electoral College waren es in den drei entscheidenden Staaten zusammen gerade einmal 45 000.
Dies erklärt, warum Trump so entschlossen darauf drängte, mit allen Mitteln die nötigen Stimmen „zu finden“ – so viele fehlten ihm eben gar nicht, um ein Patt im Electoral College zu bekommen und gemäß der Verfassung die Präsidentschaftswahl im Repräsentantenhaus zu entscheiden. Dort hat jeder Staat für diese besondere Abstimmung nur eine Stimme und die eigentlich minoritären Republikaner dadurch die Mehrheit. Merkwürdig? Ja, aber es geht noch weiter: Im Senat greift die gleiche Logik. Die von den Republikanern dominierten bevölkerungsarmen Staaten haben ebenso zwei Senatoren wie die „großen“ Staaten. 30 republikanische Senatoren vertreten zum Beispiel ebenso viele Amerikanerinnen wie die zwei Demokraten aus Kalifornien. Weil Republikaner auch Staaten wie Florida und Texas dominieren, ist ihr Vorteil in der Summe nicht ganz so deutlich. Aber klar ist: Die Demokraten müssen signifikante Mehrheiten gewinnen, um zu regieren, die Republikaner müssen das nicht. Dies gilt auch im Repräsentantenhaus, wo die Republikaner durch eine Kombination aus gezielten Wahlkreiszuschnitten und dem Wohnverhalten der Wähler ebenfalls einen bedeutenden Vorteil genießen.
Die Republikaner könnten sich an ihren strukturellen Vorteilen erfreuen und ihre Wählerbasis vorsichtig über die schrumpfende weiße, christliche Bevölkerung hinaus erweitern. Dies war auch die Empfehlung einer internen Kommission nach den Niederlagen gegen Barack Obama. Doch mit Donald Trump knüpften sie stattdessen an die aggressive Spaltungsstrategie an, mit der sie seit langer Zeit verlässlich Wahlen gewinnen: immigrationsfeindlicher Nativismus, mehr oder weniger expliziter Rassismus, Anti-Establishment-Populismus, Islamfeindschaft (früher: Anti-Katholizismus), Instrumentalisierung diverser kultureller Kampfthemen wie Abtreibung und Homo-Ehe und so weiter. Neben seinem Starstatus und seiner Bereitschaft zur Entmenschlichung und Dämonisierung politischer Gegner fügte Trump diesem Mix noch Skepsis gegenüber Freihandel und Militäreinsätzen hinzu, womit er sich von der republikanischen Orthodoxie ausreichend absetzte, um von einem Außenseiterstatus zu profitieren.
Angesichts des dramatischen Verfalls der demokratischen Kultur in der Republikanischen Partei muss ein weiteres Szenario vorbereitet werden: dass ein Sieg der Demokraten von einem großen Teil der Bevölkerung schlicht nicht akzeptiert würde.
Die Republikaner – egal ob pragmatische Machtpolitiker wie Senatsminderheitsführer Mitch McConnell oder mögliche Trump-Erben wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis – scheinen auch nach der Abwahl Trumps fest entschlossen, an ihrem aggressiven Kurs festzuhalten, auch weil Trump Abweichlern glaubhaft damit droht, die auf ihn eingeschworene Wählerbasis in den Vorwahlen gegen sie aufzuhetzen. Weil mit dieser Strategie und der damit verbundenen vollständigen Blockadehaltung im Kongress aber der Minderheitenstatus zementiert wird, brauchen die Republikaner mehr Möglichkeiten, demokratische Wählergruppen, vor allem Afro- und Latinoamerikanerinnen, am Wählen zu hindern und die Auszählung der Stimmen parteipolitisch zu kontrollieren. Aktuell tun sie dies schon bei der zigsten Nachzählung des 2020er Ergebnisses in Arizona. Das Ganze folgt frei Stalins Motto: Es kommt nicht nur darauf an, wer wählt, sondern auch darauf, wer zählt. Mit wenigen Ausnahmen wie Liz Cheney, die für ihren Widerspruch ihren Führungsposten verlor, nehmen die Republikaner für den Machterhalt den Zerfall der amerikanischen Demokratie billigend in Kauf.
Die Demokraten haben angesichts dieser Herausforderungen bisher keine einheitliche Strategie gefunden. Präsident Biden will anscheinend die Wähler vor allem durch gute Politik überzeugen, stößt aber zunehmend an Grenzen, diese durchzusetzen. Zudem steht zu befürchten, dass der Comedian Bill Maher recht hat, wenn er sagt, dass die Wählerinnen mit ihren Stimmen oft genug nicht „thank you“ sagen, sondern „f..k you“ (eine Erfahrung, die leider auch die deutsche Sozialdemokratie gut kennt).
Die notwendige Mobilisierung wird bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zudem leichter fallen als bei den „Zwischenwahlen“ 2022, wo es aber für viele Abgeordnete und Senatorinnen Spitz auf Knopf steht. Und es bleibt die Frage, womit man jenseits der guten Biden-Politik mobilisieren kann. Im Gespräch mit Ezra Klein hat Barack Obama unlängst darauf hingewiesen, dass er in der Auseinandersetzung mit der Tea Party – einem rechtspopulistischen Vorläufer des Trumpismus – bewusst vermieden hat, den mutmaßlich mitschwingenden Rassismus der Protestbewegung zu thematisieren. Es sei politisch damit nichts zu gewinnen, sagte er, und gewinnen müsse man, um überhaupt gute Politik machen zu können. Dieser progressive Pragmatismus hat auf dem linken Flügel der Demokratischen Partei derzeit keine Konjunktur.
Angesichts des dramatischen Verfalls der demokratischen Kultur in der Republikanischen Partei muss ein weiteres Szenario vorbereitet werden: dass ein Sieg der Demokraten von einem großen Teil der Bevölkerung schlicht nicht akzeptiert würde und es in der Folge zu politischer Gewalt kommt. Trumps kurzzeitiger Nationaler Sicherheitsberater Michael Flynn, wegen Falschaussagen verurteilt und später begnadigt, regte vor wenigen Tagen die Fantasie vieler gewaltbereiter Trumpisten und Verschwörungsgläubiger an, als er den Militärputsch in Myanmar zum möglichen Modell erhob, bevor er kurze Zeit später zurückruderte. Der Sturm auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 muss kein Einzelfall bleiben.