Auch wenn die aufgeheizte Rhetorik sich an diesem Thema festmacht: Bei den Campus-Protesten, die sich inzwischen auf Universitäten in allen Teilen der USA ausweiten, geht es nicht nur um den Krieg zwischen Israel und der Hamas. Die meisten protestierenden Studentinnen und Studenten wissen nur wenig über den Konflikt, seine Geschichte und die Konsequenzen für die internationale Politik. Bis zu dem entsetzlichen Angriff der Hamas auf israelische Bürgerinnen und Bürger am 7. Oktober 2023 und der militaristischen Reaktion der israelischen Regierung trieb das Problem nur wenige ernsthaft um. Die treibende Motivation hinter den Protesten sind vielmehr zwei historische Dynamiken, die weitaus älter sind als die momentane Situation: Entfremdung und Radikalisierung.
Die Entfremdung zwischen Hochschulstudierenden – in den USA und anderswo – und den älteren Generationen ist stärker als bei ihren Vorgängern in vergangenen Jahrzehnten. Entscheidende Jahre in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung wurden ihnen durch Corona verdorben, weil sie in dieser Zeit gezwungenermaßen nur digital und nicht in direkter Interaktion miteinander verkehren konnten. Sie knüpften Verbindungen zu anderen jungen Menschen, die in einer ähnlichen Lebenssituation steckten, aber bauten keine Beziehungen zu Lehrkräften, Trainern, Vorgesetzten oder anderen erwachsenen Mentoren auf. Sie fühlten sich allein und im Stich gelassen. In sehr vielen Gesellschaften gibt es den kollektiven Wunsch, die Corona-Zeit zu vergessen. Für junge Menschen bedeutet dieser Wunsch, dass sie nicht darüber sprechen können, was diese Zeit mit ihnen gemacht hat. Ihre Realitätserfahrung wird von den meisten Erwachsenen negiert – und das lässt die Studentinnen und Studenten zynisch werden. Ich beobachte das in meinen eigenen Kursen, in denen viele begabte und trotzdem einigermaßen hoffnungslose junge Menschen sitzen.
Viele Studierende haben das Gefühl , Zielscheibe von Politikerinnen und Politikern im eigenen Land zu sein.
Zynismus und Hoffnungslosigkeit wurden zum Nährboden für Wut (und mitunter Gewalt), weil viele Studierende mit Problemen kämpfen und das Gefühl haben, Zielscheibe von Politikerinnen und Politikern im eigenen Land zu sein. An anderer Stelle habe ich darüber geschrieben, dass die Republikanische Partei seit mindestens zehn Jahren einen Krieg gegen die Universitäten führt. Gewählte Mandatsträger wie Mike Johnson, Präsident des Repräsentantenhauses, die Abgeordnete Elise Stefanik, Senator Ted Cruz, Floridas Gouverneur Ron DeSantis und sein texanischer Amtskollege Greg Abbott schießen sich auf Lehrkörper und Studentenschaft ein und machen ihnen zum Vorwurf, dass sie sich gegen Rassismus und für Geschlechtergerechtigkeit engagieren, die exorbitanten Studienbeitragsdarlehen erlassen haben wollen und den Zugang zu sicheren Abtreibungen fordern. Die Positionen der Republikanischen Partei sind das diametrale Gegenteil dessen, was die überwältigende Mehrheit der College-Studierenden denkt.
Das ist der Grund, warum Republikaner überall in den USA dabei sind, Hürden für die politische Partizipation junger Menschen zu schaffen. Die Republikaner wollen sie schlicht am Wählen hindern, und wenn sie doch wählen, unterstellen die Republikaner oftmals „Betrug“. Manche Beispiele für die Unterdrückung von Wählerstimmen sind besonders eklatant: Bundesstaaten wie Florida oder Texas verlangen, dass Wählerinnen und Wähler sich einen Monat im Voraus anmelden und einen festen Wohnsitz nachweisen, was für viele Studierende ein schwieriges Unterfangen ist. Durch das sogenannte Gerrymandering werden Wahlkreise außerdem derart zusammengestellt und verschoben, dass ländliche Gebiete mit älterer Wahlbevölkerung überrepräsentiert und urbane Ballungsgebiete mit jüngerer Wählerschaft unterrepräsentiert sind. Zudem suchen Florida, Texas und andere US-Staaten die Orte für die Wahllokale so aus, dass sie in der Nähe von älteren Wählerinnen und Wählern liegen und von Hochschulen und innerstädtischen Wohngebieten weiter entfernt sind. Überall in den USA wollen die Republikaner obendrein die vorzeitige Stimmabgabe und die Briefwahl einschränken – also genau jene flexiblen Möglichkeiten der Stimmabgabe, die in Vollzeit arbeitende und studierende junge Menschen sehr gerne nutzen.
Die tiefe Kluft zwischen ihnen und den republikanischen Politikerinnen und Politikern ist einer der Gründe dafür, warum sehr viele Studierende kein Vertrauen zu ihren Hochschulleitungen haben, die sich in vielen Fällen dem Druck der Republikaner fügen (beispielsweise beim erzwungenen Rücktritt der Präsidentinnen der Harvard University und der University of Pennsylvania) oder den Forderungen von republikanisch gesonnenen Geldgebern nachgeben. Fast flächendeckend werfen Studierende den Führungen ihrer Hochschulen vor, sie beugten sich genau jenen Interessen, durch die junge und gut ausgebildete Staatsbürger sich missachtet und entrechtet fühlen.
Auch der Demokratischen Partei gelingt es nicht, die Unterstützung der jungen Generation für sich zu gewinnen.
Leider gelingt es auch der Demokratischen Partei nicht, die Unterstützung der jungen Generation für sich zu gewinnen. Das Problem ist nicht, dass die Demokraten Positionen vertreten würden, die junge Leute verprellen, sondern dass die Parteistruktur von älteren Mainstream-Politikern dominiert wird. In den Augen der jungen Generation sind die demokratischen Politikerinnen und Politiker Langweiler, die keinerlei Bezug zu ihrer Lebenswelt haben, allzu oft kompromittiert sind und prinzipienlos agieren. Präsident Joe Biden ist für die Studierenden ein achtbarer, aber alter Mann und eher ein politischer Maschinist als eine moralische Führungsinstanz bei den Themen, die ihnen am Herzen liegen: Klimawandel, die soziale Gerechtigkeit und der Humanitarismus.
An diesem Punkt kommt der Krieg zwischen Israel und Hamas ins Spiel, der bei den Protesten eine so immense Rolle spielt. Bei aller extremer Gewalt und bei allem Leid im Nahen Osten frustriert viele College-Studierende die weitgehend bedingungslose Unterstützung der USA für Israel. Warum ist ein demokratischer Präsident nicht in der Lage, seinen Einfluss stärker geltend zu machen und zu erreichen, dass die israelische Regierung ihr Verhalten im Gazastreifen ändert, wo die Zivilbevölkerung in diesen Tagen Hunger leidet? Wieso schafft ein demokratischer Präsident es nicht, seine arabischen Verbündeten – allen voran Ägypten und Saudi-Arabien – so unter Druck zu setzen, dass sie der Zivilbevölkerung Hilfe leisten? In der Wahrnehmung von Studierenden, die sich nicht mit den komplexen Verwicklungen der internationalen Politik auseinandersetzen, spielt das Weiße Haus ein altes Spiel – in einer Welt, die vor drängenden neuen Problemen steht.
Die Campus-Proteste sind heute wie in den 1960er Jahren eine Form der Opposition außerhalb des Politikbetriebs.
Zwischen den Republikanern und den Demokraten – nur diese beiden Optionen stehen im politischen System der USA zur Wahl – fühlen junge Menschen sich heimatlos. Sie radikalisieren sich, weil sie überzeugt sind, dass sie neue Wege finden müssen, ihre Forderungen unter Umschiffung der Parteien zu artikulieren. Die Campus-Proteste sind heute wie in den 1960er Jahren eine Form der Opposition außerhalb des Politikbetriebs. Die Studierenden wollen die Republikaner ins Abseits drängen und die Demokraten zwingen, nach links zu rücken. Die Forderung nach „Divestment“ zielt darauf ab, die Macht der Banken und Finanzinteressen innerhalb der Demokratischen Partei zu schwächen und dafür zu sorgen, dass die einfachen Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Einfluss bekommen. Die Rufe nach einem Ende der Unterstützung für Israel sind Teil einer Agenda, die das Ziel hat, die US-Außenpolitik von ihren traditionellen Verbündeten und von der Realpolitik zu lösen.
Tragisch ist, dass der radikale Impuls sich häufig als Antisemitismus manifestiert – was zu verurteilen ist. In ihrer Naivität sehen viele Protestierende an den Hochschulen die amerikanischen Juden als Kernbestandteil der etablierten Demokratischen Partei und somit als eine Ursache, warum die Partei sich gegen ihre progressiveren Impulse sperrt. Bidens seit Langem bestehende Verbundenheit mit Israel scheint diese verfehlte Sicht der Dinge noch zu bestätigen. Den Protestierenden kommt es so vor, als seien „die Juden“ die Mächtigen in Washington und Jerusalem und trügen deshalb die Verantwortung dafür, dass die von ihnen verzweifelt herbeigewünschten Veränderungen blockiert werden. Diese Meinung formulieren viele Studierenden in einer Sprache, die personenbezogen, beleidigend und für alle Juden bedrohlich ist.
Der Kreislauf von Protest und Gegenreaktion führt mehr und mehr in eine Spirale aus Wut, Antisemitismus und Gewalt.
Liberale und konservative Juden sind empört über den Antisemitismus, den sie an den Universitäten erleben. Die Republikaner nutzen den Antisemitismus unter den Protestierenden aus, um Studierende und Hochschulen einmal mehr zu verurteilen. Sie setzen die Leitungen der Universitäten unter Druck und fordern sie auf, mit Gewalt gegen die Protestierenden vorzugehen, und loben die Polizisten, die die studentischen Protestcamps auflösen, für ihr beherztes Handeln. Durch das harte Durchgreifen werden die Studierenden noch weiter entfremdet und radikalisiert, und der Kreislauf von Protest und Gegenreaktion führt mehr und mehr in eine Spirale aus Wut, Antisemitismus und Gewalt.
Historikern kommt das alles sehr bekannt vor. In Situationen wie der heutigen, in der es eine Diskrepanz gibt zwischen den grundsätzlichen Rahmenbedingungen für die aufstrebenden und gut ausgebildeten Mitglieder der Gesellschaft und den etablierten Institutionen, die Macht und Einfluss haben, kommt es oft zu einem solchen Kreislauf von Protest und Reaktion. Junge Menschen fühlen sich ausgeschlossen, nicht vertreten und in die Enge getrieben. Sie haben das Gefühl, dass sie Veränderungen nur dadurch bewirken können, dass sie die Institutionen infrage stellen – und genau das tun sie gerade. Die Älteren und Etablierteren in der Gesellschaft sympathisieren vielleicht punktuell mit ihnen, halten aber an den bestehenden Institutionen fest, sperren sich gegen wichtige Reformen und rufen am Ende nach der Polizei.
Durchbrechen lässt sich dieser Kreislauf erst, wenn eine neue Generation Macht gewinnt und auf wirkliche Reformen hinarbeitet. Genau das geschah in vielen Gesellschaften nach den 1960er Jahren – eingeleitet durch das Ende des Vietnamkriegs und das Aufkommen der Entspannungs- und Ostpolitik. Heute brauchen wir vergleichbare Reformen in Politik und Machtgefüge. Die Uhr in die Zeit vor Corona oder vor dem 7. Oktober zurückdrehen können wir nicht.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld