Am 26. September wartete ein Großteil der Welt mit angehaltenem Atem auf die Ergebnisse der Wahl in Deutschland, die zum wichtigsten Urnengang seit einer Generation ausgerufen worden war. Dabei war den meisten deutschen Wählerinnen und Wählern das weltweite Interesse anscheinend gar nicht bewusst.

Statt einer Partei ein klares Mandat zu geben, verteilte die Wählerschaft ihre Gunst auf sechs Parteien und machte keine von ihnen zur eindeutigen Siegerin. Die bestplatzierten Parteien, SPD und CDU/CSU, beanspruchen beide den Auftrag zur Regierungsbildung.

Den meisten deutschen Wählerinnen und Wähler war das weltweite Interesse anscheinend gar nicht bewusst.

In den meisten Ländern der Welt wäre dies kein ungewöhnliches Ergebnis. So etwas geschieht andauernd. Doch für die Deutschen, die es gewohnt sind, dass die Stimmen schnell ausgezählt werden und die Ergebnisse eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale so gut wie sicher feststehen, ist das eine verwirrende Situation. Da die beiden großen Parteien jeweils nur etwa ein Viertel der Stimmen erhielten, ist jede von ihnen bei der Bildung der nächsten Regierung auf die Unterstützung durch eine Kombination der kleineren Parteien angewiesen.

In Wahrheit kommen nur zwei Parteien als „Königsmacher“ in Frage. Leider hat jede dieser beiden Parteien eine ganz eigene Philosophie, die sich mit der Philosophie der anderen nicht wirklich verträgt. Sie unter einen Hut zu bekommen ist eine Herkulesaufgabe. Doch einen anderen Ausweg gibt es nicht.

Die FDP vertritt einen abgewandelten Manchester-Kapitalismus und steht mit ihrer Agenda für niedrige Steuern, wenig Regulierung und individuelle Freiheit. Die Grünen sind aus der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung der 1980er Jahre hervorgegangen und haben sich erst in jüngerer Zeit dem politischen Mainstream in Deutschland angenähert. Mittlerweile stehen sie sogar zur NATO.

Wir erleben gegenwärtig, wie die europäische Welt mit ihren 500 Millionen wohlhabenden und gut ausgebildeten Bewohnern vor unser aller Augen neu erschaffen wird.

Vor vier Jahren hatte Angela Merkel versucht, eine sogenannte Jamaika-Koalition zwischen der CDU und eben diesen beiden Parteien zu schmieden. Nach wochenlangen Gesprächen scheiterte das Vorhaben, sodass die CDU notgedrungen erneut eine „Große Koalition“ mit der SPD bildete.

Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass Olaf Scholz vor einigen Jahren im Kampf um den Parteivorsitz unterlag, weil die SPD-Basis dramatisch nach links rückte. Ob er – wenn er denn die Chance bekommt – seiner Partei die Zustimmung zu einer Koalition wird abringen können, der nach dem Wahlergebnis vom 26. September unweigerlich die FDP angehören wird? Und angenommen, die SPD zieht zähneknirschend mit: Wird Scholz überhaupt einen Konsens zwischen der FDP und den Grünen zustande bekommen? Und könnte es auf der anderen Seite Armin Laschet von der CDU gelingen, mit den Grünen eine gemeinsame Basis zu finden?

Laut Umfragen haben die Wählerinnen Olaf Scholz ihre Stimme nicht deswegen gegeben, weil die SPD sich nach links bewegt hat oder sie der FDP und den Grünen nichts abgewinnen konnten. Seine Anziehungskraft hatte genau gegenteilige Ursachen: Der ruhige, konservative Hamburger beeindruckte die Öffentlichkeit mit seiner auffallenden Ähnlichkeit mit Angela Merkel. Sogar viele ehemalige CDU-Wähler gaben ihm den Vorzug vor dem eigenen Kandidaten, weil sie Scholz am ehesten zutrauen, den Regierungsstil fortzuführen, für den Angela Merkel stand und der – das sollten wir nicht vergessen – von vielen Beobachtern als gefährlich statisch eingestuft wurde.

Das Gerede in der Presse über ein Vakuum nach der Merkel-Ära oder Deutschlands Weigerung, eine Führungsrolle zu übernehmen, läuft größtenteils am Thema vorbei.

Können Sie mir noch folgen? Denn das ist ein wichtiger Punkt. Das bedeutet nämlich: Ungeachtet der ganzen Diskussionen über Klimawandel und digitale Souveränität sind die deutschen Wählerinnen offenbar der Meinung, dass über Europas Zukunft von einer Koalition von Parteien entschieden werden sollte, die sich in allen Punkten uneinig sind und von deren Führung man sich anscheinend genau jenen „Stillstand“ verspricht, den nicht nur die SPD, sondern auch die FDP und die Grünen für unbrauchbar erklärt haben.

Ein Blick in die Welt zeigt: Deutschland steht vor vielen Herausforderungen, die ein innovativeres Führungsverhalten verlangen als das, was Merkel anzubieten bereit war. Dieser Umstand spielte jedoch als Beweggrund für die deutschen Wählerinnen und Wähler offenbar keine Rolle. Sie sind mit ihrem Leben, so scheint es, rundum zufrieden – und haben, wie schon erwähnt, mehrheitlich für Scholz statt für seinen Rivalen Armin Laschet gestimmt, weil Scholz Merkel so ähnlich ist.

Damit stellt sich die Frage: Warum machen wir alle uns darüber überhaupt Gedanken? Warum wartete die Welt mit größerer Spannung als je zuvor auf das deutsche Wahlergebnis? Ganz einfach: Aufgrund seiner geografisch zentralen Lage und seiner Wirtschaftskraft fällt Deutschland seit eh und je die natürliche Führungsrolle in Europa zu. Das ist der Hauptgrund, warum Maggie Thatcher und François Mitterrand 1990 so heftig gegen die deutsche Wiedervereinigung opponierten. Präsident Biden wusste genau, was er tat, als er den Streit um die Nord Stream-Pipeline durch einen behutsamen Kompromiss beigelegt und nur wenige Wochen später Präsident Macron zutiefst gekränkt hat, indem er einem französischen U-Boot-Deal einen Strich durch die Rechnung machte, um Australien ein US-Fabrikat zu verkaufen. Für die Franzosen noch schmerzlicher: Biden holte bei dem Deal obendrein auch noch die Briten mit ins Boot.

Wer auch immer die nächste deutsche Regierung anführt, wird Macht und Einfluss erben.

Hier ist also gerade etwas im Gange, was den Rahmen der biederen Gemütlichkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft sprengt. Wir erleben gegenwärtig, wie die europäische Welt mit ihren 500 Millionen wohlhabenden und gut ausgebildeten Bewohnern vor unser aller Augen neu erschaffen wird – allerdings nicht nach dem Vorbild der bisherigen EU, die deutliche Alterungserscheinungen zeigt. Die Ursache liegt vielmehr in Deutschlands Fähigkeit und Entschlossenheit, sein Gesellschaftsmodell zu behaupten, was auch immer die anderen darüber denken.

Mit anderen Worten: Das Gerede in der Presse über ein Vakuum nach der Merkel-Ära oder Deutschlands Weigerung, eine Führungsrolle zu übernehmen, läuft größtenteils am Thema vorbei. Wer auch immer die nächste deutsche Regierung anführt, wird Macht und Einfluss erben. Deutschland ist das drittwichtigste Land der Welt. Es wird ein maßgeblicher Akteur des Weltgeschehens sein – ganz gleich, welche Parteien oder Führungsfiguren in der Regierung das Sagen haben werden. Deutschlands Freunde und Gegner täten gut daran, sich diesen Grundbaustein der neuen Weltordnung bewusst zu machen. Ganz unabhängig von der Verwirrung, die die Wählerinnen und Wähler mit ihrem Stimmverhalten gestiftet haben – die Welt will schon jetzt, dass sich Deutschland der Bedürfnisse der Welt annimmt. Aber genau dazu scheint Deutschland nicht gewillt zu sein.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld