Was sich lange abgezeichnet hat, ist seit kurzem offiziell: Donald Trump ist designierter Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Noch gut vier Monate muss er sich gedulden, dann werden ihm die Delegierten seiner Partei auf der Bühne des Fiserv-Forums zu Milwaukee offiziell den Spitzenplatz auf ihrem presidential ticket antragen. Trump – so steht zu erwarten – wird annehmen, eine (je nach Parteitagsterminologie) feurige oder patriotische Rede halten, für diese viel Applaus entgegennehmen und so seinen Eintrag in den Geschichtsbüchern um einen neuen Passus erweitern. Nur wenige US-Präsidenten haben sich je um ein Comeback bemüht, keiner davon in den letzten acht Jahrzehnten. Und lediglich einem ist es am Ende gelungen: Grover Cleveland, der als New Yorker Gouverneur die Wahlen 1884 gewann, 1888 von Benjamin Harrison abgelöst wurde und diesen dann seinerseits 1892 schlug. Für Trump eine offensichtliche Blaupause, zumal ihn mit dem Demokraten Cleveland nicht nur Leibesfülle und Heimatstaat verbinden, sondern auch eine beachtliche Vorwahldominanz.

Vermutlich ist umstandslos das richtige Wort, um die Beiläufigkeit zu beschreiben, mit der der 77-Jährige diesmal seine innerparteiliche Konkurrenz beiseitegeräumt hat. Ron DeSantis, der wahrscheinlichste Brutus, der monatelang den Dolch gewetzt hatte? Strich nach der ersten Vorwahl in Iowa die Segel. Mike Pence, einstiger Vizepräsident und erklärter Liebling der Evangelikalen? Schaffte es erst gar nicht so weit, sondern gab noch vor den Vorwahlen auf. Vivek Ramaswamy, jugendlicher Hoffnungsträger der Partei mit indischen Wurzeln? Stimmte immer wieder Loblieder auf seinen nominellen Rivalen an und hofft nun auf einen Platz am Kabinettstisch. Und Nikki Haley, die letzte im Rennen verbliebene Kandidatin, die Wolfram Weimer noch im Dezember zu seiner Person der Woche kürte („Ihre Umfragewerte steigen nicht bloß, sie springen nach oben“)? Wurde von Trump in South Carolina – dem Staat, dem sie einst als Gouverneurin vorstand – mit mehr als 20 Prozentpunkten Unterschied abgewatscht und bald darauf von ihren wohl bedeutendsten Geldgebern als Fehlinvestition abgeschrieben.

In der Folge blieb auch ihr nichts anderes übrig, als sich dem übermächtigen Rivalen geschlagen zu geben. Wenn auch mit schmollendem Unterton: Sie könne ihren Wählern derzeit nicht die Unterstützung Trumps empfehlen, verkündete sie. Vielmehr müsse dieser in den kommenden Monaten hart dafür arbeiten. Ein durchsichtiges Manöver, um den Rest politischen Kapitals zu bewahren, den sich Haley als last (wo)man standing zusammengeklaubt hat. Nur dass sie hier bei Trump an den Falschen geraten sein dürfte, denn dieser verlangt bekanntlich bedingungslose Loyalität und hat keinen allzu langen Geduldsfaden für die Machtspielchen einer Gescheiterten. Gleiches gilt übrigens für DeSantis, der sich nach seiner Kapitulation widerwillig hinter seinen vormaligen Gönner gestellt hat und dem das Geziere der Ex-Kontrahentin sichtlich aufzustoßen scheint: „Jetzt nach Hause gehen und den Ball mitnehmen, das geht nicht.“

Trump weiß anders als bei seiner ersten Kandidatur seine Partei fast geschlossen hinter sich.

Indes läuft für den Wahlfloridianer Trump auch ohne Haley als Sekundantin vieles nach Plan. So etwa die Umfragen, in denen er inzwischen meist vor Amtsinhaber Joe Biden rangiert – und die insofern ein Novum darstellen, als seine bisherige Rolle ja immer die des Underdogs war, des Mannes, dem niemand im Vorfeld eine Chance gibt (und der diese „Nicht-Chance“ dann nutzt). Jetzt aber prasseln die guten Werte wie ein warmer Regen auf ihn ein, während der historisch unbeliebte Biden einen Nackenschlag nach dem anderen hinnehmen muss. Dabei stemmt der Präsident sich mit aller Kraft gegen den Trend und lässt keine Gelegenheit aus, die Bilanz seiner Regierung in ein günstiges Licht zu rücken. Zuletzt funktionierte er gar die alljährliche Rede zur Lage der Nation in eine kämpferische Kampagnenansprache um, was von der Presse auch entsprechend goutiert wurde. Nur an den Zahlen hat sein Auftritt denkbar wenig geändert.

Zusammengefasst gilt also: Donald Trump ist Präsidentschaftskandidat. Er weiß, anders als bei seiner ersten Kandidatur (die ja von diversen Nickligkeiten und Sabotageversuchen begleitet war), seine Partei fast geschlossen hinter sich. Er liegt augenscheinlich in Front und hat gute Aussichten auf eine baldige Revanche. Sollten da, fragt man sich, nicht längst alle Alarmglocken schellen? Vor acht Jahren genügte schon das Gedankenspiel, dieser Reality-TV-Zampano könnte tatsächlich den Sieg davontragen, um in Redaktionen und Regierungskreisen wahlweise kalten Angstschweiß oder hysterische Lachsalven hervorzurufen. Nun aber tut sich bis auf einige Unkenrufe vergleichsweise wenig, was natürlich auch daran liegen mag, dass es im Moment einfach genug andere Krisenfelder zu beackern gibt. Dennoch: Irgendwie scheint die Luft aus dem Thema raus zu sein, scheint Apathie statt Aufregung an der Tagesordnung.

Nur weshalb? Ganz unvermittelt kommt einem hier die Äsop’sche Fabel vom Hirtenjungen und dem Wolf in den Sinn. In ihr narrt der titelgebende Hirtenjunge die Bewohner seines Dorfes ein ums andere Mal mit falschen „Wolf“-Rufen, sodass sie ihm keinen Glauben schenken, als der Wolf eines Tages tatsächlich auftaucht und die ganze Schafsherde reißt. Versucht man sich an der naheliegendsten Analogie, erscheinen die unzähligen Warner und Fabulanten der letzten Jahre als leichtsinnige Jungen und Trump als ausgedachter Wolf. Zu oft haben sie die Paniktrommel geschlagen, zu schrill waren ihre Schreckensvisionen, seine Wahl vor acht Jahren würde einen dritten Weltkrieg auslösen oder die Errichtung einer faschistischen Diktatur nach sich ziehen. Trump im Oval Office, so hieß es, wäre eine Revolution, eine Zäsur, eine gewaltige Farce mit verheerendem Ausgang. Ein Paradebeispiel: Die Journalistin Anne Applebaum, die im März 2016 in einem vielbeachteten Kommentar klagte, sie könne sich in ihrem ganzen Erwachsenenleben an keinen „Moment erinnern, der so dramatisch war, wie dieser“.

Noch immer gibt die Mehrheit der europäischen NATO-Partner deutlich zu wenig für Verteidigung aus.

Da stand Trump (anders als heute) zwar noch nicht als republikanischer Kandidat fest, doch Applebaum bediente sich bereits munter aus dem Füllhorn düsterer Ahnungen: „Wir sind zwei oder drei Wahlen entfernt vom Ende der NATO, dem Ende der EU sowie dem Ende des liberalen Westens, wie wir ihn kennen.“ Damals ließ sich eine solche Position schon ob des fehlenden Erfahrungswerts noch halbwegs vermitteln. Doch wie bei der Geschichte mit dem Jungen und dem Wolf wird auch die schönste Bedenkenträgerei schal, wenn sie sich immer wieder als übertrieben herausstellt – und zugleich die Sinne für jene Konstellationen abstumpfen, in denen Bedenken tatsächlich angebracht sein könnten. Gerade im Falle Trumps – der einst im Wahlkampf versprochen hatte, „weitaus schlimmere“ Verhörtechniken als Waterboarding abzusegnen, Massenabschiebungen durchzuführen und eine gewaltige, von Mexiko finanzierte Mauer entlang der Grenze zu bauen – lehrt der vielzitierte gesunde Menschenverstand, nicht jede unsinnige Aussage direkt auf die Goldwaage zu legen.

Das gilt namentlich auch für den neuesten Kurzzeitaufreger, nämlich die Haltung des Kandidaten zur NATO. Geradezu seltsam mutet hier die Annahme an, derselbe Mann, dem man jahrelang in Faktenchecks Lug und Trug vorgehalten hat, lasse sich irgendwie auf einen dahingeschluderten Wahlkampfhalbsatz festnageln. Zumal eine gewisse Kaltschnäuzigkeit gegenüber den eigenen Ergüssen bei ihm seit jeher zum guten Ton gehört: Wenn „die Partner fair spielen“, bleibe man dem Bündnis natürlich „zu 100 Prozent“ treu, stellte er jüngst in einem Fernsehgespräch mit der Brexit-Ikone Nigel Farage klar. Jede anderslautende Aussage sei nichts als Taktik, um die anderen Mitgliedstaaten zu diesem Fairspielen zu bewegen, also zum Einhalten des 2014 beschlossenen Zweiprozentziels. Der Ton mag dahingehend ruppig erscheinen, die Absicht aber ist kaum zu beanstanden: Noch immer gibt die Mehrheit der europäischen NATO-Partner deutlich zu wenig für Verteidigung aus und versteckt sich lieber hinter bestehenden US-Kapazitäten. Ein Umstand, der die Entscheidungsträger in Washington, D. C. schon seit einiger Zeit frustriert und Zweifeln an der Wertigkeit der Allianz Vorschub leistet.

In jedem Fall dürfte auch bei einer zweiten Trump-Präsidentschaft die alte (und auch im Fall Meloni gültige) Lebensweisheit zutreffen, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird. Die relative Unbetroffenheit, mit der man diesem Szenario entgegensieht, spricht dabei Bände – der Junge hat einmal zu oft geschrien und die Dorfbewohner sind misstrauisch geworden. Auch der gelegentlich zu hörende Einwand, diesmal sei wirklich alles anders, weil Trump entweder besser vorbereitet oder schlicht „radikaler“ sei als 2016, überzeugt nur bedingt. Denn selbst wenn außer Acht bleibt, dass es sich dabei vorrangig um Kaffeesatzleserei handelt, lassen sich gegen beide Punkte zahlreiche Einwände vorbringen: etwa, dass auch die Weltgemeinschaft dieses Mal besser vorbereitet ist, dass Trump im Amt lieber den Showman als den Ideologen spielt und dass ihm eine zum Durchregieren nötige Kongressmehrheit keineswegs sicher ist. Auch und gerade vor diesem Hintergrund erscheint (wachsame) Gelassenheit als Gebot der Stunde.