Am Ende war es nicht einmal knapp: Nur 738 Beschäftigte im Amazon-Logistikzentrum in Bessemer, Alabama, wollten sich durch die Einzel- und Großhandelsgewerkschaft RWDSU vertreten lassen. Mehr als doppelt so viele sprachen sich dagegen aus. Das Ergebnis der wichtigsten US-Gewerkschaftskampagne der letzten Jahre ist enttäuschend, kommt angesichts der ungleichen Wettbewerbsbedingungen aber nicht überraschend. Da halfen auch prominente Unterstützer wie Präsident Joe Biden nicht. Insgesamt tun sich Gewerkschaften in den USA schwer damit, die großen technologiegetriebenen Unternehmen zu organisieren.

Der Schauplatz der Auseinandersetzung in den USA ist auf den ersten Blick unscheinbar. Bessemer, Alabama, ist eine Kleinstadt mit 27 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, knappe 20 Autominuten von Birmingham entfernt. Dort steht BHM1, eines von mehr als 100 Amazon-Logistikzentren im Land. Amazon hatte der Kleinstadt mit dem Bau 1 500 neue Jobs versprochen. Dazu sollte es einen Mindestlohn von 15 US-Dollar pro Stunde für seine Beschäftigten geben. Die Vorfreude in der Region war gut nachvollziehbar. Bei einem Mindestlohn von nur 7,25 US-Dollar und einer lokalen Armutsrate von mehr als 25 Prozent ist der Großraum um Birmingham für jede neue Unternehmensansiedlung dankbar.

Amazon ließ sich den Deal versüßen. Zur Anwerbung des Dienstleisters gab es unter anderem Steuergeschenke von mehr als 40 Millionen US-Dollar. Dies ist in den USA nicht ungewöhnlich. Amazon hat in den letzten 20 Jahren fast 3,8 Milliarden US-Dollar an öffentlichen Zuschüssen für seine Standortansiedlungen erhalten.

Das Logistikzentrum BHM1 öffnete im März 2020, inmitten der Coronapandemie. Und Amazon stellte weit mehr Beschäftigte ein, als der Konzern versprochen hatte. Dank des geänderten Konsumverhaltens in der Pandemie profitierte Amazon massiv von der Krise. Heute arbeiten fast 5 800 Beschäftigte im Zentrum in Bessemer. Mehr als acht von zehn Beschäftigten sind Afroamerikaner. Sie sind Teil der Wertschöpfungskette, die den Amazon-Gründer Jeff Bezos zum reichsten Mann der Welt gemacht hat. Laut Forbes ist sein aktuelles Vermögen dank steigender Aktienkurse auf 177 Milliarden US-Dollar angewachsen – 64 Milliarden mehr als noch vor einem Jahr.

Amazon hat in den letzten 20 Jahren fast 3,8 Milliarden US-Dollar an öffentlichen Zuschüssen für seine Standortansiedlungen erhalten.

Bezos’ Erfolg beruht im Wesentlichen auf der Flexibilität des Unternehmens und darauf, dem Kundenwunsch nach einer schnellen Lieferung alles andere unterzuordnen. Beschäftigte werden wie eine von Algorithmen kontrollierte Maschine behandelt und sind jederzeit austauschbar. Da Amazon seine Verteilzentren während der Pandemie nicht nur weiterlaufen ließ, sondern expandierte und zudem fahrlässig beim Arbeitsschutz war, infizierten sich in den USA allein in den ersten sechs Monaten der Pandemie fast 20 000 Amazon-Beschäftigte mit dem Coronavirus. Dazu kommen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen. Jennifer Bates, Ausbilderin bei Amazon BHM1, sagte bei einer Senatsanhörung im März 2021: „Auch die Arbeit selbst ist zermürbend. Wir müssen mit dem Tempo mithalten. Mein Arbeitstag fühlt sich jeden Tag wie ein neunstündiges, intensives Training an.“

Am schwersten wiegt für Bates, wie für viele Beschäftigte, dass sie sich vom Unternehmen respektlos behandelt und in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt fühlen. „Wir sind keine Roboter, die nur leben, um zu arbeiten“, so Bates weiter. „Wir, die Arbeiter, verdienen es, mit Würde und Respekt behandelt zu werden.“

Amazon nimmt die Kritik gelassen. Sein Businessmodell möchte sich der Versandhändler von niemandem diktieren lassen. Jeder Versuch der Beschäftigten, sich gewerkschaftlich zu organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen einzutreten, wird aktiv bekämpft. Bisher ist noch keines der US-Logistikzentren gewerkschaftlich organisiert.

Bisher ist noch keines der US-Logistikzentren gewerkschaftlich organisiert.

Rückendeckung erhält das Unternehmen dabei vom schwachen US-Arbeitsrecht. Denn Gewerkschaften müssen jeden Betrieb einzeln organisieren. Das macht Gewerkschaftskampagnen in großen Unternehmen mit vielen Standorten wie bei Amazon besonders schwer. Daneben wuchs in den letzten 30 Jahren eine ganze Industrie an Beratungsfirmen, die sich darauf spezialisiert haben, Unternehmen gewerkschaftsfrei zu halten. Auch Amazon engagiert professionelle Anti-Gewerkschaftsberater, auch bekannt als „Union Buster“.

Amazon nutzte konsequent das schwache US-Arbeitsrecht aus, richtete eine Website gegen die Gewerkschaftswahl ein und setzte die Beschäftigten in Bessemer unter Druck. „Wir wurden zu sogenannten Gewerkschaftsschulungen gezwungen“, so Jennifer Bates. „Sie dauerten bis zu einer Stunde und wir mussten manchmal mehrmals pro Woche hingehen. Die Firma bombardierte uns mit Gründen, warum die Gewerkschaft schlecht sei. […] Überall im Betrieb hatte Amazon gewerkschaftsfeindliche Schilder und Botschaften aufgestellt. Sie schickten Textnachrichten an die Beschäftigten. Sie hatten sogar Schilder in den Toiletten angebracht. Kein Ort war tabu.“

Die Organisationskampagne der Gewerkschaft RWDSU machte wegen ihrer möglichen Signalwirkung landesweit Schlagzeilen und erhielt prominente Unterstützung. Präsident Joe Biden veröffentlichte im Februar ein Kurzvideo, in welchem er Amazon nicht beim Namen nannte, aber deutlich machte, dass Beschäftigte frei von Druck durch den Arbeitgeber entscheiden können müssen, ob sie sich von einer Gewerkschaft vertreten lassen wollen. Senator Bernie Sanders lud Jennifer Bates zur Senatsanhörung ein und reiste mit einer kleinen Gruppe progressiver Kongressabgeordneter nach Bessemer, um die Kampagne zu unterstützen.

Rückendeckung erhält das Unternehmen dabei vom schwachen US-Arbeitsrecht.

Es gab bisweilen sogar kuriose Auseinandersetzungen, wie die zwischen dem demokratischen Abgeordneten Mark Pocan und Amazon. Pocan warf dem Konzern auf Twitter vor, dass Amazon-Beschäftigte nicht genügend Zeit hätten, auf die Toilette zu gehen, und in der Not zu Flaschen greifen müssten, um bei der Auslieferung der Waren nicht zu viel Zeit zu verlieren. Nachdem der Konzern das zunächst als absurd abstritt, entschuldigte er sich später bei Pocan, der mit folgendem Tweet antwortete: „Hier geht es nicht um mich, sondern um eure Beschäftigten, die ihr nicht mit genügend Respekt und Würde behandelt.“

Nach der verlorenen Abstimmung kündigte die RWDSU an, das Wahlergebnis anzufechten. Auch wenn noch unklar ist, ob die Wahl für ungültig erklärt werden wird, ist sicher, dass die Niederlage in Bessemer nicht das Ende, sondern der Startschuss für verstärkte Bemühungen um eine gewerkschaftliche Organisation in den USA sein wird. „Die Leute sollten die Ergebnisse der Wahl nicht falsch interpretieren“, sagte RWDSU-Präsident Stuart Appelbaum. „Ich denke, was die Abstimmung wirklich gezeigt hat, waren der starke Einfluss, den Einschüchterung und Einmischung durch den Arbeitgeber haben können, sowie Amazons Fähigkeit, den Leuten Angst zu machen, für die Gewerkschaft zu stimmen.“

Mit Blick auf die Zukunft äußerte sich Appelbaum optimistisch: „Die Gewerkschaft wird nicht verschwinden. Diese Kampagne ist noch lange nicht vorbei. Sie ist auch das beste Argument, warum wir eine Arbeitsrechtsreform in den Vereinigten Staaten brauchen. Wir sind stolz darauf, dass wir eine globale Debatte über die Art und Weise, wie Amazon operiert, angestoßen haben. Ich denke, es ist ziemlich klar, dass Amazon diese Debatte verliert. Und das ist vielleicht das folgenreichste Ergebnis dessen, was in Bessemer passiert ist. Wir haben die Art und Weise aufgedeckt, wie Amazon seine Mitarbeiter behandelt, und ich denke, die Leute sind davon ziemlich angewidert.“