Wir Ukrainerinnen und Ukrainer leben alle im Kriegszustand. Zur russischen Invasion im Februar 2022 kommt für die Menschen in der Ukraine noch eine weitere Bedrohung hinzu: Seit März des vergangenen Jahres erleben wir einen Großangriff auf die Rechte aller Erwerbstätigen im Land, der leider zum dominierenden Narrativ der Gegenwart passt, das in den vergangenen Jahren nichts von seiner Aggressivität eingebüßt hat. Dass in der Arbeitswelt nach dem 24. Februar nicht alles beim Alten bleiben konnte und Veränderungen und Reformen anstanden, war klar. Niemand konnte allen Ernstes fordern, dass die vor Kriegsbeginn geltenden Arbeitsbedingungen, Rechte und Garantien ohne Abstriche bestehen bleiben würden. Für das Verbot von bis dahin gängigen Praktiken wie Streiks und friedlichen Kundgebungen gab es ebenfalls logische Gründe.
Kurz nach Kriegsbeginn verabschiedete das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, ein Gesetz über die „Organisation der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter Kriegszustandsbedingungen“. Leider wurde damit in bestimmten Fragen eine exzessive Liberalisierung des Arbeitsrechts in Gesetzesform gegossen. Doch nur wenige Bestimmungen in diesem Gesetz dienen tatsächlich der Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Staates im Kriegszustand. Etliche Bestimmungen schränken die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter ein, die seit Kriegsbeginn an der Heimatfront arbeiten. Ein besonders deutliches Beispiel ist die vom Gesetzgeber angeregte „Aussetzung“ von Arbeitsverhältnissen: Beschäftigte werden nicht formell entlassen, arbeiten de facto aber nicht mehr in ihrem Betrieb und erhalten auch keinen Lohn. Ein weiterer Punkt: Nach dem neuen Gesetz dürfen Unternehmen Tarifvertragsbestimmungen einseitig außer Kraft setzen – damit werden der Gewerkschaftsarbeit die Grundlagen entzogen. Diese Vorschriften sind jetzt bittere Realität für Tausende von Menschen, die sich in der Vergangenheit aktiv für demokratische Veränderungen an ihren Arbeitsplätzen eingesetzt haben. Inzwischen werden sogar in Betrieben, die für die Verteidigung der Ukraine von strategischer Bedeutung sind, Arbeitsverhältnisse ohne Angabe von Gründen „ausgesetzt“.
Nach dem neuen Gesetz dürfen Unternehmen Tarifvertragsbestimmungen einseitig außer Kraft setzen.
Skandalös ist auch eine Bestimmung des im Juli 2022 verabschiedeten Gesetzes über „Veränderungen einiger ukrainischer Rechtsakte betreffend die Optimierung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“, der zufolge Unternehmen nicht länger verpflichtet sind, den für die Landesverteidigung mobilisierten Beschäftigten den Durchschnittslohn zu zahlen. Im Sommer verabschiedete die Werchowna Rada ein weiteres Gesetz, das die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern in kleinen und mittleren Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten massiv beschneidet. Für diese Unternehmen gilt fortan eine Sonderregelung: Maßgeblich für das Arbeitsverhältnis ist der individuelle Arbeitsvertrag. Was bedeutet, dass die Angestellten gezwungen werden, alle Besonderheiten ihres Beschäftigungsverhältnisses direkt mit dem Unternehmen auszuhandeln. Dabei wurde das Arbeitsrecht gerade zu dem Zweck geschaffen, um einen kollektiven Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter zu gewährleisten, weil es unmöglich ist, mit Großkonzernen effektiv alle Konditionen des Arbeitsverhältnisses auszuhandeln.
Eine weitere Neuerung, die während des Kriegszustands beschlossen wurde, ist die Einführung von „Verträgen mit nicht festgelegter Arbeitszeit“, die im Westen als „Null-Stunden-Verträge“ bekannt sind. Hierbei wird keine feste Arbeitsstundenzahl festgelegt, sondern die Angestellten arbeiten „auf Abruf“. Die Urheber des Gesetzes behaupten, damit solle die Arbeit von Freiberuflern und Selbstständigen geregelt werden, aber in der Umsetzung wird es auf alle Kategorien von Beschäftigten angewendet.
Die genannten Gesetzesänderungen stehen im offenen Widerspruch zur EU-Mitgliedschaft, die von der Ukraine angestrebt wird.
Die genannten Gesetzesänderungen stehen im offenen Widerspruch zur EU-Mitgliedschaft, die von der Ukraine angestrebt wird. Im Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine heißt es in Artikel 296: „Keine Vertragspartei mindert oder reduziert den in ihrem jeweiligen Recht garantierten Umwelt- oder Arbeitsschutz, um den Handel oder die Investitionen zu fördern, indem sie in einer den Handel oder die Investitionen zwischen den Vertragsparteien beeinflussenden Weise von der Anwendung ihrer Gesetze, sonstigen Vorschriften oder Normen absieht oder abweicht oder diese Möglichkeiten vorsieht.“ Es ist offensichtlich, dass die jüngsten Gesetzesänderungen in der Ukraine unser kriegführendes Land nicht näher an die große europäische Familie heranführt.
Die unkoordinierte Arbeitspolitik der ukrainischen Regierung führt zu einem Mischmasch aus extrem nachteiligen Vorschriften einerseits und begrüßenswerten Reformschritten andererseits. Besonders positiv zu bewerten ist zum Beispiel ein Gesetz über Maßnahmen zur Bekämpfung von Mobbing am Arbeitsplatz.
Die Ukraine war schon vor dem Krieg für ein skandalöses Ausmaß an Schwarzarbeit bekannt.
Neben dem gesetzgeberischen Aspekt müssen auch die praktischen Aspekte im Blick behalten werden. Zu einem effektiven Schutz der Rechte von Angestellten waren die Institutionen in der Ukraine bereits vor dem Krieg weitgehend nicht in der Lage. Zum einen fehlt es an der gebührenden Rechtsprechung. Zum anderen führte der Versuch, die Arbeitsaufsichtsbehörden entgegen den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) lahmzulegen, schon in Friedenszeiten dazu, dass pflichtvergessene Unternehmen straffrei ausgingen. Die Ukraine war schon vor dem Krieg für ein skandalöses Ausmaß an Schwarzarbeit bekannt: 2021 war jede fünfte ukrainische Arbeitskraft in der Schattenwirtschaft beschäftigt – ohne Rechte und ohne jede Absicherung.
Das sind nur einige der Herausforderungen, mit denen die ukrainische Regierung sich beim Arbeitsschutz auseinandersetzen muss. Der Kampf für Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern begann schon lange vor dem Krieg mit einem Feind von außen. Ein auskömmliches Leben für jeden Erwerbstätigen in der Ukraine zu gewährleisten, ist ein Gemeinschaftsziel, bei dem alle an einem Strang ziehen müssen: die staatlichen Institutionen, die sich auf ihre gesellschaftliche Aufgabe besinnen müssen, die Unternehmen, denen es bislang vor allem auf den Erhalt der Arbeitskraft im Krieg und nach dem Krieg ankam, und die Gewerkschaften, die als treibende Kraft nicht nur die bestehenden Rechte verteidigen, sondern auch neue Rechte für die abhängig Beschäftigten erkämpfen müssen.
Die Schaffung würdiger Arbeitsbedingungen, die den europäischen und internationalen Vorschriften entsprechen, und die Ausarbeitung einer effektiven staatlichen Politik, welche die Rechte von Angestellten schützt und verteidigt – das sind die beiden Eckpfeiler, die in Kriegszeiten die nationale Sicherheit der Ukrainerinnen und Ukrainer gewährleisten und dafür sorgen, dass nach dem Krieg die nötigen Arbeitskräfte für den Wiederaufbau des Landes zur Verfügung stehen. Der Krieg darf nicht als Rechtfertigung für die Beschneidung der Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern missbraucht werden.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld