Auch wenn der eigentliche Anlass des Ersten Mai in den USA weniger bekannt und der Tag ja auch kein Feiertag ist, bleibt die Organisation der Beschäftigten weltweit richtig und wichtig. Dafür konnte in den USA ein weiterer Meilenstein erzielt werden. Ende April stimmten die Beschäftigten am Volkswagen-Standort in Chattanooga, Tennessee, mit großer Mehrheit dafür, von der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) vertreten zu werden. Zwar hat die Gewerkschaft bereits 2015 eine kleine Betriebseinheit bei VW organisiert, doch erst jetzt gelang dies für die Beschäftigten des gesamten Standorts. Damit können die UAW einen historischen Erfolg verbuchen, der Signalwirkung haben könnte.
Was aber macht diesen Sieg so bedeutsam? Zum einen ist er deutlich: Drei Viertel der abgegebenen Stimmen sprachen sich für eine Vertretung durch die UAW aus. Insgesamt beteiligten sich an der Wahl über 80 Prozent der 4 300 Arbeiterinnen und Arbeiter in der Produktion. Zum anderen gab es bei VW in Tennessee in der Vergangenheit bereits zwei gescheiterte Organisierungskampagnen (2011 bis 2014 und 2019). Und auch der Mini-Erfolg 2015 führte nicht zu einem Tarifvertrag. Das Werk galt lange als der aussichtsreichste Standort für die UAW, ein nicht-amerikanisches Automobilunternehmen im Süden der USA zu organisieren. Dass dies trotz Unterstützung durch die IG-Metall dennoch nicht gelang, lag nicht nur am Widerstand durch das VW-Management und an der Politik sowie am Right to Work-Status des US-Bundesstaats. Zusätzlich hakte es auch zwischen dem deutschen Betriebsrat von VW, der IG-Metall und den UAW. Unterschiedliche strategische Ansätze und Missverständnisse mit Blick auf die hartnäckige Gewerkschaftsfeindlichkeit im Süden sowie auf das US-Arbeitsrecht – das unter anderem die Bildung eines Betriebsrats ohne gewerkschaftliche Organisierung unmöglich macht – taten ihr Übriges.
Der Sieg der UAW ist vor allem aber in seiner historisch-geografischen Dimension bedeutsam.
Der Sieg der UAW ist vor allem aber in seiner historisch-geografischen Dimension bedeutsam: Er gelang im quasi gewerkschaftsfreien Süden der USA. In Tennessee zum Beispiel sind heute nur sechs Prozent der Beschäftigten in der Privatindustrie Gewerkschaftsmitglied. Die bereits genannte Right to Work-Gesetzgebung trägt wesentlich zum niedrigen Organisationsgrad bei. Demnach müssen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht Teil einer Gewerkschaft sein, um in organisierten Betrieben deren Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Das Resultat: Die Gewerkschaften haben nur wenige Mitglieder und niedrige Einnahmen.
Das Wirtschaftsmodell des gewerkschaftsfeindlichen Südens ist zudem eng mit der Geschichte der Sklaverei verknüpft. Der frühere Chefökonom des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, William „Bill“ Spriggs, hatte deshalb einen sehr kritischen Blick auf europäische Unternehmen, die sich im Süden der USA ansiedeln: Er warf ihnen vor, mit ihren Investitionen ein politisches und wirtschaftliches Modell zu unterstützen, das vor allem afroamerikanische Beschäftigte ausbeute und gewerkschaftliche Organisierung mit allen Mitteln bekämpfe.
Bis heute erhält dieses Wirtschaftsmodell politische Unterstützung – vor allem durch die Republikaner. Sechs ihrer Gouverneure behaupteten in einem kurz vor der Betriebsratswahl im VW-Werk veröffentlichten Brief, dass die Gewerkschaftskampagne von „Fehlinformationen und Panikmache“ getrieben sei, und sie warnten davor, dass eine gewerkschaftliche Organisierung Arbeitsplätze gefährden würde. Der Brief zeugt nicht nur von Verachtung und der absoluten Unkenntnis darüber, was gewerkschaftliche Vertretung ausmacht und welche Rolle sie im demokratischen Prozess spielt. Indem die Gouverneure von „Südstaatenwerten“ sprechen, stellen sie sich in die direkte Tradition der Ausbeutung afroamerikanischer Beschäftigter. Statt mit „freier“ Sklavenarbeit werden die Beschäftigten heute mit Niedriglöhnen abgespeist. Und noch immer soll ihnen die Möglichkeit vorenthalten werden, dieses System durch kollektive Anstrengungen zu beseitigen. Die Gouverneure bedienen auch das im Süden der USA oft genutzte Scheinargument, Gewerkschaften würden als „unnötige Mittler“ zwischen dem Management und den Beschäftigten stehen. Nach dieser Logik wäre auch eine politische Interessenvertretung der Bevölkerung durch gewählte Politikerinnen und Politiker unnötig.
Die öffentliche Unterstützung für Gewerkschaften in den USA befindet sich auf einem Höchststand.
Trotz alledem gelang den United Auto Workers 2024 der Sieg – was also ist heute anders als bei den vorangegangenen Organisationsbemühungen? Zum einen war der Widerstand der Republikaner gemäßigter, trotz des zitierten Briefs. Das hat sicherlich auch mit der aktuellen Popularität von Gewerkschaften zu tun. Die öffentliche Unterstützung für Gewerkschaften in den USA befindet sich auf einem Höchststand: Laut einer Umfrage vom August 2023 stehen fast sieben von zehn Amerikanerinnen und Amerikanern Gewerkschaften positiv gegenüber. Zum anderen agierten die UAW geschickter, vor allem hinter den Kulissen, und auch VW hielt sich an seine eigene Neutralitätsverpflichtung im Vorfeld der Wahl. Politische Unterstützung kam und kommt auch von US-PräsidentJoe Biden und vielen Demokraten. Nach dem Erfolg bei VW sagte er, die gewerkschaftlichen Erfolge hätten effektiv zu einer Lohnerhöhung beigetragen und einmal mehr bewiesen, dass die Mittelschicht Amerika aufgebaut habe und Gewerkschaften den Arbeitern zu mehr Wohlstand verhelfen.
Den wichtigsten Unterschied aber machten sicher die UAW selbst aus, bzw. ihre neue Gewerkschaftsführung, die nicht von Korruptionsskandalen geplagt ist. Die von Präsident Shawn Fain geführte Gewerkschaft konnte im Herbst 2023 mit Rekordtarifverträgen bei den drei großen US-Herstellern General Motors, Ford und Stellantis punkten. Zwar erhöhte unter anderem Volkswagen im Zuge der Abschlüsse bei den „Dreien aus Detroit“ die Löhne seiner in der Produktion Beschäftigten um elf Prozent – der Stundenlohn beträgt in der höchsten Grundklasse nun 32,40 US-Dollar, das Jahresgehalt stieg auf etwas mehr als 67 000US-Dollar. Damit liegt das Einkommen bei VW über dem mittleren jährlichen Haushaltseinkommen in der Region Chattanooga, das bei 54 500 US-Dollar liegt. Bei General Motors liegt der Lohn nach dem Tarifabschluss allerdings bei 36 US-Dollar pro Stunde bzw. knapp 75 000 US-Dollar pro Jahr (ohne Sozialleistungen und Gewinnbeteiligung).
Neben den bestehenden Lohnunterschieden zum Norden der USA haben auch weitere Aspekte eine Rolle für den Wunsch der Beschäftigten gespielt, zukünftig gewerkschaftlich organisiert zu sein. Bei den bereits von den UAW organisierten Daimler-Beschäftigten, die Trucks und Busse herstellen, konnte die Gewerkschaft einen Erfolg erzielen: Am 26. April lief der Tarifvertrag für die 7 300 Beschäftigten in Werken in North Carolina, Georgia und Tennessee aus, und allein die Streikandrohung der UAW brachte das Management dazu, ein historisches Angebot vorzulegen. Es beinhaltet Lohnerhöhungen von 25 Prozent über vier Jahre sowie erstmalig Zuschläge zum Inflationsausgleich und eine Gewinnbeteiligung.
Die UAW haben erheblichen Rückenwind in den historischen Organisierungskampagnen bei 13 bisher nicht gewerkschaftlich organisierten Autoherstellern.
Fest steht schon jetzt, dass die UAW erheblichen Rückenwind in den historischen Organisierungskampagnen bei 13 bisher nicht gewerkschaftlich organisierten Autoherstellern in den USA haben. Spannend wird nun die anstehende Gewerkschaftswahl im SUV-Werk von Mercedes-Benz in Vance, Alabama. Dort klagen die Beschäftigten über die Arbeitsbedingungen sowie über Vergeltungsmaßnahmen für gewerkschaftliche Tätigkeit durch das Management. Sollten die UAW im Mai auch bei den 5 200 Beschäftigten dieses Werks erfolgreich sein, ließe sich sicher von einer Trendwende sprechen. Nach VW und Mercedes-Benz plant die Gewerkschaft, auch weitere Automobilhersteller zu organisieren. Umworben werden die insgesamt fast 150 000 Beschäftigten bei BMW, Honda, Hyundai, Lucid, Mazda, Nissan, Rivian, Subaru, Tesla, Toyota und Volvo.
Harold Meyerson, Herausgeber des American Prospect und Urgestein der gewerkschaftsnahen US-Linken, wies zu Recht darauf hin, dass US-Gewerkschaften neue Mitglieder traditionell nicht schrittweise dazugewinnen, sondern in Mobilisierungswellen. Der Moment für eine solche Welle scheint gekommen. Oder um es mit Shawn Fains Worten zu sagen: „Stay ready to stand up and keep winning big.“