Die Europäische Kommission hat das Jahr 2023 zum „Europäischen Jahr der Kompetenzen“ erklärt. In ihrer alljährlichen Rede zur Lage der Union (SOTEU) hob Ursula von der Leyen einmal mehr hervor, dass es weiterhin Investitionen in das Humankapital braucht, damit Europas Wirtschaft auch in Zukunft noch wettbewerbsfähig bleibt. Angesichts der disruptiven Entwicklungen im Bereich der Automatisierung und der KI-Technologien ist es gewiss nichts Neues, dass auf der europäischen Agenda die digitalen Kompetenzen ganz weit oben stehen. Die Meinung, das Bildungswesen bleibe hinter dem technologischen Fortschritt zurück, zieht sich seit mehr als einem Jahrzehnt wie ein roter Faden durch zahlreiche europäische Programme und Aktionspläne und deckt sich mit den Empfehlungen der Wirtschaft.
Der digitale Wandel verläuft nicht in allen Ländern, Branchen oder Organisationen gleich schnell. Noch lässt sich nicht sagen, welche Qualifikationen in naher Zukunft gefragt sein werden. Doch es mehren sich die Anzeichen, dass die zunehmende Automatisierung unweigerlich eine „Arbeitsplatzpolarisierung“ zur Folge haben wird: Arbeitsplätze der mittleren Qualifikationsniveaus werden wegfallen und die Schere zwischen hochqualifizierten Jobs und gering qualifizierten Arbeitsplätzen, deren Automatisierung zu kostenintensiv wäre, wird sich weiter öffnen. Das wiederum könnte nachteilige Folgen für die alternde Erwerbsbevölkerung in Europa haben – insbesondere für ältere Frauen.
In den meisten europäischen Ländern wird der Anteil der älteren Beschäftigten (55–64 Jahre) bis zum Jahr 2030 auf 55 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung ansteigen.
Nach Einschätzung der ILO werden 2070 auf jeden Arbeiter und jede Arbeiterin, der oder die 65 Jahre oder älter ist, nur noch zwei Personen im erwerbsfähigen Alter kommen – derzeit sind es mehr als drei. In den meisten europäischen Ländern wird der Anteil der älteren Beschäftigten (55–64 Jahre) bis zum Jahr 2030 auf 55 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung ansteigen, wobei ältere Frauen das am schnellsten wachsende Alterssegment bilden. Dieser demografische Wandel hin zu einer immer älter werdenden Bevölkerung führt dazu, dass ältere Arbeiter – insbesondere ältere Frauen – einen erheblichen Teil aller Erwerbstätigen ausmachen und einen substanziellen wirtschaftlichen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Damit dieses Potenzial genutzt werden kann, brauchen ältere Angestellte unbedingt mehr Flexibilität und Unterstützung, um ihr berufliches Profil an die neuen Marktanforderungen anpassen zu können.
Laut Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft 2022 haben nur 54 Prozent der europäischen Bevölkerung im Alter von 16 bis 74 Jahren zumindest Grundkenntnisse über die digitale Welt. Bei den älteren Erwachsenen ist der Prozentsatz deutlich niedriger. Zudem dürfte die Digitalisierung in den kommenden zehn Jahren dazu führen, dass die Kompetenzen älterer Beschäftigter schneller veralten, da der Altersunterschied bei der Nutzung digitaler Technologien umso stärker ins Gewicht fällt, je komplexer diese Technologien sind.
Schon heute haben ältere Menschen beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu unternehmerfinanzierter Weiterbildung mit zahlreichen Herausforderungen zu kämpfen. Während seit 20 Jahren die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen kontinuierlich steigt, sind viele ältere Arbeiter und Arbeiterinnen nach wie vor mit Diskriminierung und negativen Stereotypen seitens der Unternehmen konfrontiert, die der Meinung sind, dass ältere Angestellte weniger versiert, weniger produktiv, weniger flexibel und weniger innovativ seien als ihre jüngeren Kollegen und Kolleginnen. Bei älteren Erwerbstätigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, ist deshalb der Anteil der Langzeitarbeitslosen höher als in jeder anderen Altersgruppe.
Ältere Frauen sind sozial und wirtschaftlich in allen Bereichen noch stärker von Marginalisierung und Benachteiligung betroffen als ältere Männer.
Ältere Frauen sind sozial und wirtschaftlich in allen Bereichen noch stärker von Marginalisierung und Benachteiligung betroffen als ältere Männer. Sie haben in der Regel wechselvollere und weniger durchgängige Erwerbsbiografien als Männer: Teilzeitarbeit wird nach wie vor hauptsächlich von Frauen ausgeübt, Frauen erhalten im Durchschnitt einen niedrigeren Stundenlohn und Frauen unterbrechen eher ihre berufliche Laufbahn, um Betreuungsaufgaben wahrzunehmen. Das wird allem Anschein nach auch für die jüngeren Frauen von heute gelten, sobald sie ins fortgeschrittene Erwerbsalter vorrücken.
Diese Faktoren resultieren in einem geschlechtsspezifischen Rentengefälle, das deutlich größer ist als das geschlechtsspezifische Lohngefälle. Während Frauen pro Stunde im Durchschnitt 13 Prozent weniger verdienen als Männer, lag das geschlechtsspezifische Rentengefälle im Jahr 2022 EU-weit bei 30 Prozent. Grundsatz 15 der Europäischen Säule sozialer Rechte besagt, dass Frauen und Männer gleiche Rentenansprüche haben sollten und dass jeder Mensch im Alter das Recht auf Leistungen habe, die ein Leben in Würde gewährleisten. Faktisch jedoch ist in der EU das Armutsrisiko bei Rentnerinnen deutlich größer als bei Rentnern.
In der EU ist das Armutsrisiko bei Rentnerinnen deutlich größer als bei Rentnern.
Um den Bedürfnissen älterer Arbeiter und Arbeiterinnen gerecht zu werden und die digitalen Kompetenzen auszubilden, die für die Zukunft benötigt werden, sind politisch und wirtschaftlich innovative Alternativlösungen gefragt. Diese Lösungen sollten den Realitäten des alternden Europa, den Bedürfnissen der einzelnen Erwerbstätigen und insbesondere den Problemen der älteren berufstätigen Frauen Rechnung tragen. Wie dringlich es heute ist, das herkömmliche Wirtschaftsdenken auf den Prüfstand zu stellen, bringen die Autoren des Buches The Death of Human Capital? Its Failed Promise and How to Renew It in an Age of Disruption treffend auf den Punkt: „Angesichts der heutigen Ungleichheiten und der Tatsache, dass die menschlichen Fähigkeiten nicht ausgeschöpft werden, gewinnt man den Wettlauf zwischen Bildung und Technologie nicht dadurch, dass man Menschen für High-Tech-Jobs ausbildet. In einer Welt, die sich wirtschaftlich und sozial grundlegend wandelt, müssen Bildung, Arbeit und Arbeitsmarkt ganz neu gedacht werden.“
Wenn es darum geht, die Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften zu decken, sollte man nicht in erster Linie auf überzogene Prognosen hören, die eine allzu große Talentknappheit infolge des technologischen Wandels in allen Industriezweigen voraussagen. Stattdessen sollten die politischen Entscheidungsträger vor allem nach neuen Möglichkeiten suchen, wie sie – unterstützt durch konkrete Zusagen von Unternehmerseite – Mehrgenerationen-Arbeitsplätze nachhaltig fördern können. Für die Zukunft der zunehmend alternden Erwerbsbevölkerung in Europa noch wichtiger ist, dass die Unterstützung der Arbeiter und Arbeiterinnen Priorität haben muss – durch gerechte Entlohnung, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, körperliches und geistiges Wohlbefinden und eine gute Work-Life-Balance.
Aus dem Englischen von Christine Hardung