Am 1. Februar wird Großbritannien etwas erleben, das einem Generalstreik im 21. Jahrhundert sehr nahekommt. Neben Hunderttausenden von Lehrkräften aus Schulen und Universitäten sowie Staatsbediensteten wird auch das Eisenbahnpersonal die Arbeit niederlegen, das mit seinen Arbeitskämpfen schon seit Wochen das Schienennetz lahmlegt. Fünf Tage später werden die Krankenschwestern und -pfleger einen zweitägigen Ausstand beginnen, während sich der Streikkalender der Rettungssanitäter und -sanitäterinnen bis weit in den März hinein erstreckt.
Dies ist keine politisierte Massenbewegung im französischen Stil. Den Gewerkschaftsführern ist es gesetzlich untersagt, Arbeitskampfmaßnahmen zu organisieren, und die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind – aufgrund der Streikrechtseinschränkungen durch die konservative Regierung – gezwungen, zumindest ein Mindestmaß an Dienstleistungen aufrechtzuerhalten. Aber um mit Galileo zu sprechen: Eppur si muove – und sie bewegt sich doch.
Der plötzliche Kampfgeist bei den Gewerkschaften ist zum Teil auf die zweistellige Inflationsrate zurückzuführen. Beispielsweise liegt das Realeinkommen von Assistenzärzten und -ärztinnen 26 Prozent unter dem Niveau von 2009, das von Krankenschwestern und ‑pflegern acht Prozent unter dem von 2010. Den Schätzungen der Akademikergewerkschaft Universities and Colleges Union zufolge ist das Gehalt der Lehrbeauftragten seit 2009 um 20 Prozent gesunken.
Der Personalmangel ist nicht allein dem Brexit geschuldet.
Und das geht mit einem strategischen Fachkräftemangel einher: Überall – von Eisenbahnen bis Notfallstationen – ist man auf freiwillige Mehrarbeit oder Leiharbeit angewiesen. Dieser Personalmangel ist nicht allein dem Brexit geschuldet, der das Angebot an qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften vom europäischen Festland stark reduzierte, sondern der Tatsache, dass sich die Höhe der Arbeitsentgelte zwischen öffentlichem und privatem Sektor stark unterscheidet.
In der Pandemie gewannen die Belegschaften in profitablen Geschäftsfeldern die Oberhand und konnten nicht nur bessere Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, sondern auch höhere Löhne und Gehälter aushandeln. Mit größeren Gewinnspannen als je zuvor und vollen Auftragsbüchern waren die Betriebe allein schon durch den Konkurrenzkampf um Fachkräfte gezwungen, die Löhne und Gehälter zu erhöhen.
So gewinnen die Gewerkschaften abseits der Schlagzeilen in Hunderten privatwirtschaftlichen Betrieben Lohn- und Gehaltserhöhungen von fast zehn Prozent und können dazu noch Prämienzahlungen und freiwillige Zusatzleistungen aushandeln. Aber im öffentlichen Sektor, wo der Personalbestand und die Höhe der Gehälter schon fast ein Jahrzehnt lang von Sparmaßnahmen und Reallohnkürzungen geprägt sind, hat sich die Tory-Regierung verschanzt und verweigert Verhandlungen.
Im öffentlichen Sektor ist der Personalbestand und die Höhe der Gehälter schon fast ein Jahrzehnt lang von Sparmaßnahmen und Reallohnkürzungen geprägt.
Die Krise wird als ein Problem der Arbeitsbeziehungen ausgegeben, aber sie geht tiefer. Seit den Unterhauswahlen von 2019 basiert fast jedes Versprechen der Regierung auf der Voraussetzung, dass ein ausreichendes Arbeitskräfteangebot zur Verfügung steht. Dem ist aber nicht so. Der ehemalige Premierminister Boris Johnson kündigte an, dass pro Jahr ein neues Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Dabei gibt es nicht einmal genug qualifizierte Arbeitskräfte, um das eine Atomkraftwerk fertigzustellen, das seit zehn Jahren im Bau ist. „Wir werden für die Oberstufen Mathematik zum Pflichtfach machen“, sagt der jetzige Amtsinhaber Rishi Sunak. Aber es gibt nicht einmal genug Lehrkräfte für Mathematik, um den Unterricht für diejenigen zu sichern, die dieses Fach in der Oberstufe als Wahlfach belegen wollen.
Ob man einen Pub führt oder einen Hochgeschwindigkeitszug baut, die mittlere Führungsebene ist sich bewusst, dass die Fachkräftesicherung oberster Sachzwang ist. Also „horten“ sie, was sie haben, indem sie Lohnbeschränkungen mit Flexibilität bei den Arbeitszeiten und -bedingungen ausgleichen.
Die Regierung hat keine auf berufliche Qualifikationen ausgerichtete Gesamtstrategie.
In Bezug auf Arbeit und Arbeitskräfte ist die neoliberale Politik in ihrem Kern jedoch völlig realitätsfern. Die Regierung hat keine auf berufliche Qualifikationen ausgerichtete Gesamtstrategie. Und das ist ihr auch nicht möglich, denn ihrer Einstellung nach besteht ökonomische Steuerung darin, den Wettbewerb zu fördern, die Investitionskosten zu senken und Regulierungen zu beseitigen. Abgesehen vom Verteidigungsbereich gibt es in keiner Branche der britischen Wirtschaft etwas, das einer industriepolitischen Strategie auch nur ähnelt. Die durch Pflichtabgaben von Unternehmen finanzierten Ausbildungseinrichtungen, die ein Merkmal der keynesianischen Ära waren, wurden größtenteils abgeschafft.
Während eine Qualifikationsstrategie für die Wirtschaft immer dringlich und konkret ist, war und ist sie für die aufeinanderfolgenden Regierungen der Konservativen im Wesentlichen abstrakt: Man finanziere so und so viele Hochschulabsolventen pro Jahr und man bekommt – fast in einer Persiflage des Marxismus – ein verfügbares Angebot an „abstrakt menschlicher Arbeit“, das von den Marktbeteiligten nach eigenem Gutdünken beschäftigt werden kann.
Selbst in Bereichen, in denen der Personalmangel offensichtlich ist – wie in Pflege und Medizin –, sind die Konservativen aufgrund ihrer Treue zur Rotstiftpolitik gezwungen, perverse Entscheidungen zu treffen. Dazu gehörte die Abschaffung der jährlichen Stipendien in Höhe von 8 000 Pfund für Auszubildende in der Krankenpflege (die jetzt wieder eingeführt wurden) und die willkürliche Beschränkung der Studienplätze in den medizinischen Fachbereichen der Universitäten.
Nach 30 Jahren Aufspaltung und Rückzug gibt es kein handlungsbereites Netzwerk für gewerkschaftliche Organisierungskampagnen an der Basis.
Diese abstrakte, praxisferne, von Sparmaßnahmen getriebene Arbeitsmarktpolitik der Regierung ist gründlich nach hinten losgegangen. Die Minister und Ministerinnen haben Glück, dass es nach 30 Jahren Aufspaltung und Rückzug kein handlungsbereites Netzwerk für gewerkschaftliche Organisierungskampagnen an der Basis gibt wie in den 1970er-Jahren, als die Mitglieder selbst die gewerkschaftliche Strategie bestimmten und die Regierung mit Massenstreiks in die Knie zwangen. Die Gewerkschaften, die heute an vorderster Front der Arbeitskämpfe stehen, sehen sich gezwungen, auf ihren Webseiten für ihre Mitglieder, für die Streiken etwas völlig Neues ist, grundsätzliche Fragen und Antworten über Arbeitsniederlegungen zu veröffentlichen und Online-„Streikschulen“ für neu rekrutierte Organisierer zu betreiben.
Sunaks Regierung ist technokratisch, aber schwach. Bisher ist sie einem ideologischen Kampf mit den Gewerkschaften ausgewichen und hat es vorgezogen, mit Worten zu beschwichtigen und keinen Schritt nachzugegeben. Im Kampf um die öffentliche Meinung war es eines der kontraproduktivsten Argumente der Regierung, auf die Gesamtsumme der geforderten Lohnabschlüsse hinzuweisen. Nach Berechnungen des Kabinetts würde es sieben bis neun Milliarden Pfund kosten, die Lohnforderungen des Pflegepersonals zu erfüllen – was in etwa der Summe entspricht, die im Regierungshaushalt für den Wohnungsbau vorgesehen ist. Aber genau das kommt dabei heraus, wenn man den Pflegeberuf zu einem akademischen Beruf macht, was eine Idee der Konservativen war, und den staatlichen Gesundheitsdienst NHS als zentralisierten Arbeitgeber beibehält.
Bei einer Zahl von 758 000 Krankenschwestern und Hebammen, Tendenz steigend, kennt fast jeder in Großbritannien eine von ihnen, und natürlich wurde jeder schon einmal von einer behandelt. In der britischen Regierungspraxis wurde es schon immer als Torheit erachtet, einen Streit mit so einem ikonischen, hoch angesehenen und tief verankerten Berufsstand zu führen – weshalb es in den letzten zwei Jahrzehnten zu keinem größeren Streik von Krankenschwestern und -pflegern gekommen ist.
Der Weg zu einer Deeskalation wird nicht leicht werden.
Der Weg zu einer Deeskalation wird nicht leicht werden. Nach der Krise auf den Aktienmärkten, die während der kurzen Amtszeit von Ex-Premierministerin Liz Truss ausbrach, verordnete der neue Finanzminister Jeremy Hunt eine Sparpolitik, die Sunaks Kabinett die Hände bindet. Wenn die Inflationsrate sinkt und sich die schlimmsten Vorhersagen für eine Rezession nicht bewahrheiten, wird der Frühjahrshaushalt meiner Einschätzung nach dem Kabinett einen größeren Spielraum gewähren, um bessere Angebote machen zu können.
Wenn das nicht passiert, werden die Streikneulinge irgendwann zu Streikgeübten und es wird zu einem Anstieg an Militanz wie zwischen 1968 und 1974 kommen. Aus einer Fachkräftekrise dieser Größenordnung gibt es keinen anderen Ausweg als die Entwicklung einer Strategie – was wiederum institutionelle Veränderungen erforderlich macht, für die den Torys die Zeit und der politische Wille fehlt.
Was die Labour-Partei angeht, werden all ihre angekündigten Regierungspläne – von grüner Energie über Wohnungsbau bis hin zur Lösung der NHS-Krise – einen umfassenden nationalen Qualifizierungsplan erfordern, der sich über alle Branchen, Regionen und Generationen erstreckt. Dazu ist eine Willenskraft vonnöten, wie sie die britische Regierung während des Krieges an den Tag legte. Kann die Labour-Führung so einen Willen aufbringen?
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Ina Goertz