Die Fragen stellte Thomas Greven.
Überall auf der Welt haben Gewerkschaften große Schwierigkeiten, Beschäftigte in der sogenannten Plattformökonomie zu organisieren, obwohl diese sich durchaus gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen wehren. In Deutschland hat gerade der Lieferdienst Gorillas 350 Beschäftigte entlassen, weil ihr „wilder“ Streik nicht vom deutschen Arbeitsrecht gedeckt war. Ver.di hilft dem Gorillas Workers Collective (GWC). Was ist da los?
Mit den Entlassungen hat sich das Unternehmen selbst geschadet, weil Gorillas ohne Personal sein Lieferversprechen nicht mehr einhalten kann – zehn Minuten! Im harten Verdrängungswettbewerb in der Branche nutzen die Konkurrenten das aus. Gorillas verbrennt jetzt noch mehr Geld als ohnehin schon. Übrigens war dies nicht der erste „wilde“ Streik der Gorillas-Beschäftigten. Erst diesmal hat das Unternehmen mit Entlassungen reagiert.
Wenn Beschäftigte für die Verbesserung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen eintreten, kommt es zunächst einmal auf ihre „strukturelle Macht“ an, also darauf, wieviel Druck sie mit dem Entzug ihrer Arbeit ausüben können. Die Probleme des Unternehmens zeigen, dass diese Macht durchaus da ist, oder?
Ganz genau, ohne die „Picker“ in den Lagern und die „Rider“, die die Waren in zehn Minuten an die Wohnungstür bringen sollen, geht es nicht. Ich rechne deshalb auch nicht damit, dass viele der Entlassenen auf Wiedereinstellung klagen werden, obwohl die Kündigungen wohl nicht rechtmäßig sind. Die meisten haben längst neue Jobs in der Branche gefunden. Die Konkurrenten der Gorillas reagieren mit besserer Bezahlung und unbefristeten Verträgen.
Die große Medienaufmerksamkeit für die Anliegen der Gorillas-Beschäftigten hat sicher dazu beigetragen, dass manche gedacht haben, man brauche weder die Unterstützung der großen Gewerkschaft noch das komplizierte deutsche Streikrecht.
Zunächst aber haben sie ihre Arbeit verloren, und längst nicht überall ist die Position von Beschäftigten in der Plattformökonomie so gut. Woran hat es gelegen, dass die Streikenden nicht die Organisationsmacht z.B. von ver.di und die institutionelle Macht der Beschäftigten, d.h. den Schutz durch das Arbeitsrecht – das legale Streiks ja möglich macht –, genutzt haben? Gibt es eine grundsätzliche Entfremdung zwischen den meist jungen Beschäftigten in diesen Branchen und den gewerkschaftlichen Großorganisationen und dem Staat?
Da muss ich etwas ausholen. Die „Rider“ und „Picker“ bei Gorillas waren zunächst mit unserer Schwestergewerkschaft Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) im Gespräch. Zusätzlich gibt es im Umfeld der Workers Collective auch andere Organisationen und Berater wie z.B. die FAU (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union), die sich als Basisgewerkschaft organisieren will. Als ver.di ihre Unterstützung anbot, traf das auf ein gewisses Misstrauen – geschürt von außen durch falsche Beratung. So wurden die Beschäftigten zum Beispiel nicht über die Folgen von bestimmten Handlungen aufgeklärt. Die große Medienaufmerksamkeit für die Anliegen der Gorillas-Beschäftigten hat dann sicher auch noch dazu beigetragen, dass manche gedacht haben, man brauche weder die Unterstützung der großen Gewerkschaft noch das komplizierte deutsche Streikrecht und könne mit direkten und spontanen Formen die Auseinandersetzung gewinnen. Das ist leider schiefgegangen, und die betroffenen Beschäftigten standen schutzlos da.
Gewerkschaftsarbeit ist erfolgreich, wenn gemeinsam mit den Beschäftigten die Arbeitsbedingungen verbessert werden.
In der Zusammenarbeit zwischen ver.di und dem Gorillas Workers Collective und allen anderen Beschäftigten geht es vor allem um gegenseitiges Vertrauen. Die Identifikation der Aktivisten und vieler Beschäftigter mit der GWC ist sehr hoch, obwohl das Collective nicht homogen ist und es verschiedene Flügel gibt. In Deutschland ist Gewerkschaftsarbeit erfolgreich, wenn gemeinsam mit den Beschäftigten und vor allem unseren Mitgliedern die Arbeitsbedingungen verbessert werden. So wie es z.B. nach und nach bei Amazon gelingt. Die Erwartungshaltung an uns war aber eine andere: Ver.di sollte ausschließlich als Dienstleister auftreten, die Streiks im Nachhinein „legalisieren“ – was nicht möglich ist – Flugblätter drucken und sich ansonsten zurückhalten. Das ist aber nicht unser Selbstverständnis von erfolgreicher Gewerkschaftsarbeit im Betrieb.
Ist es inzwischen gelungen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen?
Es ist ein Auf und Ab, aber ja, es gibt nun einen Wahlvorstand, der die Wahl eines Betriebsrats vorbereitet, die im November stattfinden soll. Aber das Misstrauen – dass ver.di das GWC „schlucken“ und nur neue Mitglieder gewinnen will – ist noch vorhanden. Dabei können wir die Auseinandersetzung mit der Unternehmensleitung nur gewinnen, wenn wir gegebenenfalls genügend Mitglieder zum Streik aufrufen können, um die Ziele der Beschäftigten durchzusetzen. Die basisdemokratische Kultur der Aktivisten sowie die Abstimmungsprozesse mit ihren Beratern, die zusätzlich eigene Agenden verfolgen, haben viel Zeit gekostet. Es muss zum Beispiel klar sein, dass ein Wahlvorstand kein politisches Gremium ist, sondern spezifische gesetzliche Regeln einhalten muss auf dem Weg zur Gründung eines Betriebsrats und einer tariffähigen Gewerkschaft, die dann auch legal streiken kann. Wir hoffen, dass unser Rat angenommen wird. Beschäftigte und Aktivisten des GWC müssen sich besser kennenlernen. Für den Betriebsrat gibt es keine eigene ver.di-Liste, aber einige unserer Mitglieder kandidieren.
Welche Rolle spielt, dass viele Beschäftigte einen Migrationshintergrund haben, nicht oder wenig Deutsch sprechen und vielleicht auch andere Vorstellungen von gewerkschaftlicher Arbeit und Streiks haben?
Die Kommunikation muss zu 95 Prozent auf Englisch stattfinden, dass ist auch für ver.di eine Herausforderung, weil z.B. Gesetzestexte und andere wichtige Materialien nicht auf Englisch vorliegen und die ad hoc-Übersetzung manchmal schwierig ist. Dies ist natürlich weit entfernt von den schnellen Erfolgen, die einigen am Anfang möglich schienen, auch wegen der großen medialen Aufmerksamkeit. Hinzu kommt: Die basisdemokratische Kultur des GWC mit verschiedenen Flügeln und mehr oder weniger ausgeprägten politischen Vorstellungen birgt ein gewisses Misstrauen gegenüber großen Gewerkschaften.
Ganz wichtig ist die richtige Technik für die Kommunikation mit den Beschäftigten.
Was haben Sie von internationalen Erfahrungen von Gewerkschaften in der Plattformökonomie gelernt und was kann aus Ihren Erfahrungen gelernt werden? Was kann man besser machen?
Ganz klar braucht man gewerkschaftliche Organizer mit einem Hintergrund in der Branche. Das kommt. Dazu sind solide Kenntnisse des jeweiligen Geschäftsmodells notwendig. Und ganz wichtig ist bessere und vor allem die richtige Technik für die Kommunikation mit den Beschäftigten, die ja zum Teil in mehreren prekären Jobs arbeiten und dadurch nicht viel Zeit haben. Mit den Gorillas-Ridern und -Pickern wurde zuerst über E-Mails kommuniziert, das hat nicht gut funktioniert. Jetzt nutzen wir erfolgreich den Telegram Messenger. Dabei sind Tools für Übersetzungen und Abstimmungsprozesse notwendig, damit man schneller zu tragfähigen Entscheidungen kommt.