Die Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) hat in den USA in Verhandlungen mit den drei großen Autokonzernen Ford, General Motors und Stellantis im Oktober historische Siege errungen: Die Löhne der Beschäftigten in der Produktion werden innerhalb von viereinhalb Jahren um 30 Prozent auf 42 Dollar pro Stunde angehoben (inklusive der kürzlich wieder eingeführten Lebenshaltungskosten-Zulagen). Darüber hinaus wird die Zeit, die benötigt wird, um in die höchsten Lohngruppen aufzusteigen, von acht auf drei Jahre verkürzt. Ebenso wird die vorherige zweistufige Struktur abgeschafft, die für Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach 2007 eingestellt wurden, einen niedrigeren Lohn festlegte. Zeitarbeiterinnen und -arbeiter werden nach neun Monaten automatisch zu Vollzeitbeschäftigten und die US-spezifischen Verfahren zur Gründung und Anerkennung von Gewerkschaftsgruppen in zukünftigen Batterie- und Elektrofahrzeugwerken wird einfacher. 

Die neuen Vereinbarungen markieren eine deutliche Abkehr von den vorherigen 50 Jahren, in der sich die Gewerkschaften stets mit großen Zugeständnissen ihrerseits zufrieden geben mussten. So ist die für die nächsten viereinhalb Jahre geplante Lohnerhöhung umfangreicher als alle Erhöhungen der letzten 22 Jahre zusammen. Wie konnte die UAW diesen Sieg erringen, nachdem sie zuvor fünf Jahrzehnte lang halbgare Deals seitens der Konzerne akzeptiert hatte?

Die für die nächsten viereinhalb Jahre geplante Lohnerhöhung ist umfangreicher als alle Erhöhungen der letzten 22 Jahre zusammen.

Ein angespannter Personalmarkt sowie die wachsende Wut über die Eskapaden der Wirtschaftselite kommen Gewerkschaften in der gesamten US-Wirtschaftslandschaft zugute und haben ihnen ideale Bedingungen für beeindruckende Zuwächse beschert. So kam es neben der Autobranche auch zu großen Streiks in Hollywood-Studios, bei Hotelketten und beim Paketzusteller UPS. Für den Erfolg der UAW war auch die Wahl einer neuen Gewerkschaftsführung ausschlaggebend, die mit dem Versprechen angetreten war, den Unternehmen aggressiv die Stirn zu bieten. Unter der neuen Führung wurde eine neue Streikstrategie, der sogenannte Stand up strike, angewandt: Die UAW gab die traditionelle Praxis auf, mit jeweils nur einem Unternehmen zu verhandeln. Stattdessen gab es Gespräche mit allen drei Autokonzernen gleichzeitig. Als die bisherigen Tarifverträge ausliefen, streikten die Beschäftigten umgehend in einer kleinen Zahl von Betrieben aller drei Unternehmen. Immer, wenn die Gespräche ins Stocken gerieten, startete die Gewerkschaft neue Streiks in weiteren Betrieben der jeweiligen Firma. Mit dieser Strategie – die der deutschen „Minimax-Strategie“ der Metaller in ihrem Streik für Arbeitszeitverkürzung 1984 ähnelt – konnten die Verhandlungsführer der Gewerkschaft die Unternehmen offensichtlich unter enormen Druck setzen und schließlich einen vorteilhaften Tarifabschluss erzielen.

Wichtig für den Erfolg der UAW war auch die Regierungspolitik der vergangenen Jahre. Sowohl Donald Trump als auch Joe Biden stehen für Protektionismus für den Automobilsektor, wodurch die US-Unternehmen weniger der ausländischen Konkurrenz ausgesetzt waren. Allerdings machte dies die Firmen auch weniger resistent gegen Forderungen nach Lohnerhöhungen. Darüber hinaus können laut dem Inflation Reduction Act von 2022 Unternehmen für den zukünftigen Bau und den Verkauf von Elektrofahrzeugen nur dann Subventionen erhalten, wenn sie ihren Belegschaften eine „gute Vergütung“ gemäß der Definition der Regierung bieten. Diese Subventionen will man bei Ford, GM und Stellantis offenbar nicht aufs Spiel setzen. Die Kombination dieser Umstände dürfte die Führungsriegen der Big Three zur Ansicht bewogen haben, dass der aktuelle Zeitpunkt sowohl aus ökonomischer als auch aus politischer Sicht denkbar ungünstig für einen aggressiven Kampf gegen die Arbeiterinnen und Arbeiter und ihre Gewerkschaft ist.

Die UAW ist aktuell in einer besseren Position, um bisher nicht organisierte Betriebe gewerkschaftlich zu organisieren. 

Was sind nun die Auswirkungen des Streiks und der Vereinbarungen bei den drei großen Autoherstellern? Erstens dürfte die UAW nun bessere Chancen haben, sich auch bei Tesla und in den von ausländischen Unternehmen geführten Werken im Süden zu organisieren. Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter dort könnten auf die nun errungenen beträchtlichen Gehaltserhöhungen verweisen, die das eigene Management nicht gewährt. Eine Garantie für Erfolg gibt es aber natürlich nicht. Die UAW muss weiterhin effektive Organisierungsaktionen durchführen, um bei Gewerkschaftswahlen bei diesen Firmen erfolgreich zu sein.

Denn die neuen UAW-Verträge sind dem Management anderer Betriebe ein Dorn im Auge. Auch ausländische Führungen aus Staaten mit einer langen Tradition der starken Sozialpartnerschaft (wie Deutschland) dürften sich gegen die gewerkschaftliche Organisierung zur Wehr setzen. Hier kann man auf die Gehaltsklausel im Inflation Reduction Act hoffen: Wenn die Führungskräfte ausländischer Unternehmen die Gewerkschaftsbildung unterstützen (oder zumindest zulassen), würden sie auch weiterhin in den Genuss von Subventionen für Elektrofahrzeuge kommen. Alles in allem ist die UAW aktuell also in einer besseren Position, um bisher nicht organisierte Betriebe gewerkschaftlich zu organisieren – aber es bleibt ein mühsames Unterfangen.

Zweitens ist es wahrscheinlicher, dass die UAW bei künftigen Verhandlungen weitergehende ökonomische Ziele verfolgt, zum Beispiel eine Arbeitszeitverkürzung. Die 32-Stunden-Woche war schon Teil der diesjährigen Forderungen, wurde aber letztendlich nicht erreicht. UAW-Präsident Shawn Fain hat sie bereits als „Kernforderung“ für die Tarifrunde 2028 ausgerufen. Hinzu kommt wichtige Symbolpolitik: Die UAW hat den 30. April 2028 als Ablaufdatum für den neuen Vertrag festgelegt, was bedeutet, dass ein folgender Streik am 1. Mai beginnen könnte. Fain selbst hat daran erinnert, der 1. Mai stehe in den USA „für den harten Kampf der damaligen Arbeiterinnen und Arbeiter für den Achtstundentag. Dieser Kampf ist heute noch genauso aktuell wie 1889.“

Drittens ist die UAW jetzt in einer besseren Position, um für Veränderungen zu kämpfen, die über den firmeninternen Verhandlungstisch hinausgehen. Fain betont, die Gewerkschaften „müssen es mit der Milliardärsklasse aufnehmen und die Wirtschaft so umbauen, dass sie zum Wohle der Vielen und nicht der Wenigen funktioniert“. Außerdem dürfte der Sieg der UAW andere Gewerkschaften dazu anspornen, selbst aggressiver bei der Formulierung von Forderungen und kreativer bei der Ausarbeitung von Strategien vorzugehen.

In den vergangenen 50 Jahren wurde die große Mittelschicht vor allem deshalb verloren, weil die Unternehmen die Gewerkschaften ebenso aggressiv wie erfolgreich bekämpften.

Es ist bemerkenswert, dass Joe Biden den Streik unterstützte und sogar persönlich einen Streikposten besuchte. So etwas hatte ein amtierender Präsident der Vereinigten Staaten noch nie zuvor getan. Am 9. November 2023 erklärte Biden in einer Rede vor einem Autowerk in Belvedere, Illinois (einem Werk, das dank des neuen UAW-Vertrags von der endgültigen Schließung verschont bleibt und wiedereröffnet wird), die Einigung zwischen Gewerkschaft und Unternehmen entspreche auch seiner „politischen Zielsetzung, für die arbeitenden Familien zu sorgen und gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen“.

Sowohl die Zahl der „guten Arbeitsplätze“ als auch die Entlohnung zu erhöhen, ist eine Herausforderung für jede progressive Regierung. Bisher ist es der Biden-Regierung recht gut gelungen, diesen Drahtseilakt zu meistern. Dies fortzusetzen, ist nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder oder die Arbeiterschaft, sondern für nicht weniger als die Stabilität der Demokratie in den Vereinigten Staaten von entscheidender Bedeutung: Es waren das Wachstum und die Stärke der Gewerkschaften, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten eine große Mittelschicht entstehen ließen – und es war diese große Mittelschicht, die die Demokratie in den USA stabilisierte. Damals herrschte die Meinung vor, dass sich eine breite Mittelschicht, sobald sie einmal entstanden ist, von selbst erhalten würde. 

In den vergangenen 50 Jahren wurde diese große Mittelschicht aber vor allem deshalb verloren, weil die Unternehmen die Gewerkschaften ebenso aggressiv wie erfolgreich bekämpften (mit tatkräftiger Unterstützung rechter und konservativer Politikerinnen und Richter). Die Demokratie in den Vereinigten Staaten ist dadurch brüchig geworden. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter sind zudem anfälliger für Populismus. Nur durch viele weitere Siege wie den der UAW wird es möglich sein, erneut eine nennenswerte Mittelschicht zu schaffen und so die US-Demokratie wieder zu stabilisieren.

Aus dem Englischen von Tim Steins