Seit dem Einsturz eines achtgeschossigen, mehrere Textilfabriken beherbergenden Gewerbebaus am Stadtrand von Dhaka (Bangladesch) am 24. April 2013 sind inzwischen zehn Jahre vergangen. Beim Zusammenbruch des Rana Plaza kamen 1 134 Menschen ums Leben und weitere 2 000 wurden schwer verletzt. Die meisten davon waren Frauen.

Es war die tödlichste Industriekatastrophe seit dem Gasaustritt des Jahres 1984 in Bhopal (Indien), bei dem mehr als 3 000 Menschen ums Leben kamen, und der schlimmste Unfall in der modernen Geschichte der Textilindustrie. Tausende Beschäftigte waren tagelang unter den Trümmern eingeschlossen und viele starben an Hunger und Durst, während andere ihren eigenen Urin tranken, um zu überleben.

Diese Todesfälle waren vorhersehbar und vermeidbar. Das Gebäude war unter Verwendung minderwertiger Baustoffe auf einem zugeschütteten Teich errichtet worden und daher nicht in der Lage, das Gewicht schwerer Maschinen zu tragen. Die obersten vier Geschosse waren illegal hinzugefügt worden, was die strukturellen Probleme des Gebäudes noch verschärfte. In den Tagen vor dem Einsturz waren Risse in den Wänden bemerkt worden, was zur Evakuierung einiger Geschosse geführt hatte. Doch der Eigentümer des Gebäudes, Mohammad Sohel Rana, bestand darauf, dass die Arbeit normal weitergehen müsse. Unter dem Druck von Käufern, die auf der Einhaltung der Liefertermine beharrten, drohte Rana, den Lohn der Beschäftigten (rund 38 US-Dollar pro Monat) einzubehalten, wenn sie nicht zur Arbeit erschienen. Für die Anwesenden erwies sich das Gebäude als tödliche Falle, es stürzte in unter 90 Sekunden ein.

Es ist verführerisch, die Katastrophe im Rana Plaza nur als weiteres Beispiel der Herausforderungen abzutun, vor denen die Entwicklungsländer stehen, darunter korrupte Regierungen und unregulierte Unternehmen. Doch die entwickelten westlichen Länder waren als Komplizen genauso beteiligt. Die Einsturzstelle war übersät mit den Etiketten einiger weltführender Einzelhändler und Modemarken. Benetton, Monsoon, Mango, Walmart und Primark gehörten zu den 29 großen Einzelhandelsunternehmen, die nachweislich Waren von den Bekleidungsfabriken in dem Gebäude bezogen.

Tatsache ist, dass Sweatshops wie das Rana Plaza nicht existieren würden, wenn die Dynamik des internationalen Handels nicht angeheizt würde von einem verzweifelten Abwärtswettlauf zwischen den Entwicklungsländern, die um ausländische Direktinvestitionen multinationaler Konzerne konkurrieren. In Bangladesch hat der Regulierungsmangel Billiglöhne und ausbeuterische Arbeitsbedingungen ermöglicht, die mit moderner Sklaverei vergleichbar sind.

Selbst in der technischen Industrie sind die Arbeitnehmer prekären Arbeitsverhältnissen und ausbeuterischen Löhnen ausgesetzt.

Die Organisation der globalen Lieferketten, die mehr als 450 Millionen Menschen weltweit beschäftigen, verstetigt diese Ausbeutung und trägt zugleich dazu bei, ihre Beschaffenheit zu verschleiern. Durch Auslagerung von Arbeitsplätzen in die Entwicklungsländer können multinationale Unternehmen internationale Arbeitsnormen umgehen und Arbeitern Rechte und Arbeitnehmerleistungen vorenthalten, die direkt Beschäftigten zugestanden werden. Doch ist dieser Taschenspielertrick nicht auf die Entwicklungsländer beschränkt. Auch in der US-Bekleidungsindustrie ist Ausbeutung weit verbreitet. In Los Angeles erhalten die Beschäftigten teilweise nur 1,58 US-Dollar Stundenlohn. Selbst in der technischen Industrie sind die Arbeitnehmer prekären Arbeitsverhältnissen und ausbeuterischen Löhnen ausgesetzt – die Arbeitsbedingungen in den Fulfillment-Zentren von Amazon sind ein Beleg dafür.

Obwohl die Rana-Plaza-Katastrophe weithin Kritik und moralische Empörung auslöste – sogar von Papst Franziskus –, ist in den vergangenen zehn Jahren kaum etwas passiert, um den grundlegenden Problemen zu begegnen, die zum Einsturz des Gebäudes und seinem verheerenden Tribut an Menschenleben führten.

Während etwa der rechtsverbindliche Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh („Vereinbarung über Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesch“) von 2013 im Jahr 2018 verlängert wurde und mehr als 200 Unterzeichner hat, weigerten sich mehrere bedeutende Unternehmen – darunter Levi Strauss, Gap, Walmart und Amazon –, sich ihm anzuschließen. Stattdessen optierten sie für die Alliance for Bangladesh Worker Safety („Bündnis für die Sicherheit von Beschäftigten in Bangladesch“), eine rechtlich unverbindliche Alternative der Wirtschaft, die 2018 auslief.

Die Entschädigung der Überlebenden und der Familien der Opfer durch das Rana Plaza Arrangement – ein von der Internationalen Arbeitsorganisation und einer Vielzahl von Spendern, NGOs, Gewerkschaften, Bekleidungsmarken und der Regierung von Bangladesch eingerichteter Fonds – war, als klebte man ein Heftpflaster auf eine brandige Wunde. Trotz einiger symbolischer Gesten unternehmerischer Sozialverantwortung sehen sich die Arbeitnehmer in Bangladesch weiterhin mit unzureichenden Löhnen, unsicheren Arbeitsbedingungen und unfairen Kündigungspraktiken konfrontiert. Tatsächlich geht es ihnen aufgrund der Covid-19-Pandemie inzwischen womöglich noch schlechter als vorher, da viele Marken derzeit geringere Preise für die gleichen Produkte zahlen.

Die Geschichte des Rana Plaza ist kein isoliertes Ereignis.

Die Geschichte des Rana Plaza ist kein isoliertes Ereignis, sondern ein Mikrokosmos des Missbrauchs und der Ausbeutung, die den globalisierten Kapitalismus kennzeichnen. Von den Ländern des globalen Südens wird erwartet, dass sie in wenigen Jahrzehnten das Erbe des Kolonialismus überwinden und Jahrhunderte wirtschaftlicher Entwicklung aufholen. Viele versuchen, genau dies zu tun. Bangladesch etwa ist seit seiner Unabhängigkeit 1971 dramatisch gewachsen, was weitgehend an seiner Stellung als zweitgrößter Bekleidungsexporteur der Welt liegt.

Doch die Kalkulationen des Kapitalismus priorisieren Gesamtsummen und nationale Wirtschaftsleistungen gegenüber der gerechten Verteilung der Erträge zwischen und innerhalb von Ländern. Die Märkte können keine Abhilfe schaffen gegen die überproportionale Vereinnahmung der Gewinne durch die Arbeitgeber auf Kosten ihrer Beschäftigten. Eine fairere Verteilung von Vermögen und Ressourcen erfordert, Adam Smiths unsichtbare Hand durch Regulierungs- und Umverteilungsmaßnahmen zu zügeln.

Das Machtungleichgewicht zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern macht die theoretischen Grundlagen des globalen kapitalistischen Paradigmas so wackelig wie einen auf aufgeschüttetem Sand errichteten Sweatshop. Und wie beim Rana Plaza in dessen schicksalsträchtigen letzten Tagen zeichnen sich inzwischen Risse ab: Wachsende Ungleichheit und klimatische Bedrohungen untergraben die fragile Struktur des Systems. Doch wie Leonard Cohen bekanntlich formulierte: „Alles hat Risse. Das ist der Weg, wie das Licht hineingelangt.“ Wenn wir klug sind, werden wir die Risse nicht ignorieren, sondern erkennen, was sie beleuchten.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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