Es war eine Überraschung für alle Beteiligten, als die EU-Mitgliedstaaten am Montag, 11. März, die Richtlinie über Plattformarbeit endgültig verabschiedeten – und dies ohne Zustimmung von Frankreich und Deutschland. Dies ist besonders bemerkenswert, da Entscheidungen im Rat normalerweise mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, was bedeutet, dass mindestens 15 Mitgliedstaaten zustimmen müssen, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen müssen. Dass sich dieses Mal kleinere Staaten nicht nach dem Abstimmungsverhalten der beiden größten Mitgliedstaaten richten und ihre gegenteiligen Interessen durchsetzen, ist neu und aus deutsch-französischer Perspektive bedenklich.
Verliert das „German-Vote“ damit seine Wirkung? Das Signal an die anderen Mitgliedstaaten ist jedenfalls deutlich: Es geht auch ohne Deutschland und Frankreich. In Deutschland hat abermals die FDP die Ampel-Koalition blockiert. Dadurch konnte die Bundesregierung, obwohl SPD und Grüne die Plattformrichtlinie begrüßen, sich nicht auf eine einheitliche Position einigen. Die deutsche Enthaltung wird in Europa als Ablehnung gewertet und schwächt das deutsche Ansehen. Ob sich dieser Trend fortsetzt, wird sich zeitnah bei weiteren EU-Beschlüssen, wie dem EU-Lieferkettengesetz, zeigen. Auch hier blockiert die FDP.
Verliert das „German-Vote“ seine Wirkung?
Dass die Richtlinie dennoch verabschiedet wurde, ist dem Stimmverhalten von Estland und Griechenland zu verdanken. Hatten beide Mitgliedstaaten die Richtlinie bis dato ebenfalls abgelehnt, änderten sie überraschend „im Geiste des Kompromisses“ ihre Haltung. Welche Zugeständnisse diesen Geist bewirkt haben, ist nicht bekannt. Insbesondere Estland, Heimat des globalen Plattformunternehmens Bolt, schien bis dahin wenig Interesse an einer stärkeren Regulierung von Online-Plattformen zu haben.
Wie ist die Verabschiedung der Direktive über Plattformarbeit zu bewerten? Vor mehr als einem Jahrzehnt begannen Plattformen wie Uber, sich in ersten europäischen Metropolen wie Paris oder London zu etablieren. Es dauerte jedoch bis 2021, bis die Europäische Kommission ihren Vorschlag zur Regulierung der Plattformarbeit und Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten vorlegte. Ein zentraler Aspekt und Hauptstreitpunkt der Verhandlungen, die sich über zwei Jahre hinzogen, war der Beschäftigungsstatus der Plattformarbeiter. Viele der etwa 28 Millionen Menschen, die über Online-Plattform arbeiten, werden formal als Selbstständige eingestuft, obwohl sie ausschließlich für ein Plattformunternehmen tätig sind und eine klare Abhängigkeit besteht. Folglich haben sie keinen Anspruch auf Rente, Mindestlohn, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder andere arbeitsrechtliche Schutzmaßnahmen wie Sozial- oder Krankenversicherung.
Bisher mussten Plattformbeschäftigte langwierige und kostspielige Gerichtsverfahren durchlaufen, um zu beweisen, dass sie Arbeitnehmer sind und somit Anspruch auf die damit verbundenen Rechte haben. Mit der neuen Richtlinie wurde die Einführung einer Beschäftigungsvermutung mit der Umkehrung der Beweislast beschlossen. Das bedeutet nun, dass es an den Plattformunternehmen liegt, zu beweisen, dass die Beschäftigten keine Arbeitnehmer sind.
Dies ist ohne Zweifel ein wichtiger Schritt für Plattformbeschäftigte, darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass Plattformen nun diejenigen sind, die ein Verfahren einleiten müssen. Es bedeutet lediglich, dass, wenn beispielsweise eine Arbeitsaufsichtsbehörde feststellt, dass ein Arbeitnehmer scheinselbständig ist und die Plattform aufgefordert wird, den Arbeitnehmer anzustellen, es in der Verantwortung der Plattform liegt, juristisch dagegen vorzugehen. Das Urteil der Arbeitsbehörde kann jedoch auch ausgesetzt werden, während die Plattform es gerichtlich anfechtet. Leider lässt hierüber die Richtlinie jedem Mitgliedsstaat freie Hand. Denn dies ist ein großes Problem: Oftmals bleiben Plattformarbeiter nur wenige Monate an einem Arbeitsplatz und arbeiten nicht mehr dort, wenn nach Jahren festgestellt wird, dass sie tatsächlich Scheinselbständige waren und Anspruch auf einen Arbeitsvertrag gehabt hätten.
Den Mitgliedstaaten wird eine beträchtliche Flexibilität bei der Ausgestaltung der Beschäftigungsvermutung überlassen.
Darüber hinaus ist in der Richtlinie festgehalten, dass die Modalitäten der Beschäftigungsvermutung von den Mitgliedstaaten festgelegt werden sollen. Dabei ist nicht weiter spezifiziert, wie diese gestaltet werden sollen, beispielweise, ob es sich um Kriterien handeln soll und wie eine Beschäftigung im Kontext von Plattformen definiert wird. Somit wird den Mitgliedstaaten eine beträchtliche Flexibilität bei der Ausgestaltung der Beschäftigungsvermutung überlassen. Dies birgt die Gefahr, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Standards gelten, die davon abhängen, wie die Richtlinie von den Mitgliedstaaten interpretiert und in nationales Recht umgesetzt wird. Angesichts des starken Lobbyismus von Plattformunternehmen wie Lieferando oder Volt bedarf es keiner großen Fantasie, um anzunehmen, dass die Auslegung zugunsten dieser Unternehmen ausfallen wird. Folglich könnten Plattformbeschäftigte in engagierten Mitgliedstaaten, wie Spanien, die mit der Rider-Law bereits ein arbeitnehmerfreundliches Gesetz eingeführt haben, möglicherweise bessergestellt sein als Arbeitnehmer in Ländern wie Frankreich, die der Richtlinie von Anfang an skeptisch gegenüberstanden.
Die Richtlinie wird also kaum dafür sorgen, dass über Nacht jeder Plattformarbeiter den Beschäftigungsstatus erhält, der ihm zusteht. Vielmehr liegt es jetzt an den Mitgliedstaaten im Umsetzungsprozess soziale Schwachstellen der Richtlinie auszubessern, sofern kein Koalitionspartner dies blockiert. Eine besondere Rolle kommt hierbei auch den Gewerkschaften zu, die durch Tarifverhandlungen die Beschäftigungsvermutung durchsetzen können.
Die Richtlinie wird also kaum dafür sorgen, dass über Nacht jeder Plattformarbeiter den Beschäftigungsstatus erhält, der ihm zusteht.
Wie wichtig effektive Umsetzungsmaßnahmen sind, zeigt ein Negativbeispiel aus Belgien. Ein belgisches Gesetz zur Plattformarbeit, das dem Richtlinienvorschlag der Kommission ähnelt, enthält keine Umsetzungsmaßnahmen, nicht einmal die Beweislast für die Plattformen. Infolgedessen hatten belgische Arbeitsbehörden keine Mechanismen zur Verfügung, um Maßnahmen gegen die Plattformen zu ergreifen, nachdem diese das Gesetz ignoriert hatten. Mehr als ein Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes wurde kein Plattformarbeiter zum Angestellten gemacht.
Der Richtlinienentwurf der spanischen Ratspräsidentschaft sah solche Mechanismen vor – beispielsweise, dass die zuständigen Behörden Inspektionen bei Plattformunternehmen durchführen sollen, bei denen ein Arbeitnehmer als scheinselbstständig eingestuft wurde, oder dass Antragsteller auf Scheinselbstständigkeit Unterstützung erhalten. Beides wurde im endgültigen Text nicht übernommen, wodurch es der Richtlinie an klaren Umsetzungsinstrumenten fehlt.
Ein weiteres wichtiges Kapitel der Richtlinie ist dem algorithmischen Management am Arbeitsplatz gewidmet. Viele Plattformbeschäftigte, wie Essenslieferanten oder Uber-Fahrer, erhalten ihre Aufträge per App, werden per App lokalisiert, kontrolliert und ihre Leistung überwacht. Algorithmen haben die direkte Führung durch einen Vorgesetzten ersetzt. Daher ist es wichtig, für Transparenz zu sorgen und klare Grenzen abzustecken, auf welche Daten der Algorithmus zugreifen darf – und viel wichtiger, auf welche nicht. Die neue Richtlinie sieht ein vollständiges Verbot der Verarbeitung bestimmter Datensätze vor, beispielweise zum psychischen Zustand oder der Religionszugehörigkeit. Zudem sind private Gespräche oder Informationen außerhalb der beruflichen Tätigkeit der Person nunmehr tabu.
Wichtige Entscheidungen, wie beispielsweise in Bezug auf Vergütung, Kündigung oder Sperrung von Konten, müssen fortan immer von einem Menschen getroffen werden. Zusätzlich haben Plattformbeschäftigte die Möglichkeit, die Hilfe eines Datenexperten in Anspruch zu nehmen, um Zugang zu ihren Daten zu erhalten, wobei die Kosten von der Plattform getragen werden müssen. Diese Neuerung ist äußerst wegweisend und geht über die Allgemeine Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hinaus. Allerdings wird die DSGVO bereits oft nicht eingehalten. Daher bleibt abzuwarten, wie einfach es in der Praxis für Plattformbeschäftigte sein wird, die gewünschten Informationen zu erhalten, und ob die Plattformen die neuen Vorschriften einhalten werden.
Es ist ausgesprochen wichtig, dass dieser Ansatz weiterverfolgt wird. Es sollte nicht nur Plattformbeschäftigten ermöglicht werden, von mehr Transparenz und Fairness in Bezug auf algorithmisches Management am Arbeitsplatz zu profitieren, sondern diese Rechte sollten für alle Arbeitnehmer gelten, unabhängig ihrer Branche. Die Plattformrichtlinie und AI-Act der EU, dem das Europäische Parlament am Mittwoch, 13. März, zugestimmt hat, sind ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch noch nicht ausreichend. Gewerkschaften fordern daher von der neuen Kommission nach den Europawahlen einen Vorschlag für eine Richtlinie zu KI am Arbeitsplatz.
Die Europäische Kommission hat sich mit dieser Richtlinie nicht weniger als eine europaweite Harmonisierung der Plattformwirtschaft mit einheitlichen Standards auf die Fahne geschrieben. Dieses Ziel, so deutlich muss man sein, wird nicht erreicht. Nichtsdestotrotz ist die Plattformrichtlinie ein Schritt in die richtige Richtung hin zu fairer Plattformarbeit. Dennoch reicht dies nicht aus. Es bedarf nun einer umfassenden Umsetzung auf nationaler Ebene, die die Interessen der Arbeitnehmer in den Mittelpunkt stellt, sowie starke Gewerkschaften. Zudem braucht es Regelungen im Hinblick auf algorithmisches Management am Arbeitsplatz, die über die Plattformwirtschaft hinausgehen und für alle Beschäftigten gelten.