Gräfenhausen, verwaltungstechnisch zugehörig zu Weiterstadt in Hessen, zählt nur knapp über 6000 Einwohnerinnen und Einwohner. Überregional und sogar international ist der Ort seit März diesen Jahres vor allem für seine Raststätte an der A5 bekannt, obwohl diese weder besonders schön ist noch über eine funktionierende Dusche verfügt. Über 200 Lkw-Fahrer des Krakauer Firmenkonsortiums Lukmaz-Agmaz-Imperia im Besitz von Lukasz und Agnieszka Mazur entschlossen sich in diesem Frühjahr, auf verschiedenen Autobahnrastplätzen in Europa gegen ihre ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und das Vorenthalten von vereinbarten Zahlungen zu protestieren. Einer dieser Orte war die Raststätte Gräfenhausen West, an der teilweise mehr als sechs Wochen lang über 60 knallblaue Lkw und deren Fahrer aus Georgien und Usbekistan parkten. Es war der einzige Ort, an dem dieser Protest so lange durchgehalten wurde – und schließlich erfolgreich war. Mit Unterstützung des durch die Fahrer mandatierten Vertreters Edwin Atema von der niederländischen Stiftung Road Transport Due Diligence (RTDD), von Beraterinnen und Beratern der DGB-Beratungsstelle Faire Mobilität und einem breiten Netzwerk aus Gewerkschaften, Kirchen und Zivilgesellschaft schafften diese Fahrer es, ihre Gesamtforderung von über 300 000 Euro zu erstreiten.

Entscheidend für diesen Erfolg war letztlich Druck aus der Lieferkette. Ein Lkw hatte Maschinenteile geladen, die dringend in einer Fabrik gebraucht wurden: Den Mazurs drohten hohe Vertragsstrafen, sodass wohl letztlich das Ausbezahlen der verbleibenden Forderungen günstiger war. In den Frachtdokumenten der Fahrer fanden sich die Namen sämtlicher bekannter Speditionen als Auftraggeber. Zu den Kunden, deren Waren transportiert wurden, gehörten große Autohersteller, Möbelhäuser, Baumärkte oder Getränkehersteller. Die protestierenden Lkw-Fahrer richteten sich mit Petitionen an diese und forderten sie auf, einen Beitrag zur Lösung des Problems zu leisten und Verantwortung zu übernehmen. Die Unternehmen leugneten teilweise zuerst eigene Vertragsbeziehungen mit den Mazurs, manche kündigten dann an, die Zusammenarbeit einzustellen. Weitergehende Verantwortung, insbesondere für die Zahlungen an die Fahrer, übernahm im April niemand, obwohl die höheren Glieder der Lieferkette dazu verpflichtet sind – sowohl gemäß Auftraggeberhaftung als auch auf Basis des neuen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LKSG).

Die Fahrer waren zuvor wochen- und monatelang in ihren Lkw unterwegs gewesen, hatten ausschließlich im Lkw geschlafen. Versprochen worden waren ihnen Netto-Tagessätze von meist circa 80 Euro, wobei die Zusammensetzung unklar war. Die Fahrer beschwerten sich, dass ihnen ständig ungerechtfertigt Beträge abgezogen würden. Niemand von ihnen hatte jedoch jemals ein Abrechnungsdokument erhalten. Zahlungen erfolgten mit teils großer Verzögerung und wurden zurückgehalten, wenn Fahrer Urlaub hatten. Dadurch wird ein System der Abhängigkeit geschaffen, dass Fahrer trotz ausbeuterischer Arbeitsbedingungen bei der Stange hält. Viele Fahrer berichteten, dass sie gerne schon längst die Firma gewechselt hätten, jedoch fürchteten, dass sie dann auf das noch ausstehende, hart erarbeitete Geld würden verzichten müssen – zahlreiche Kollegen hatten berichtetet, nach einer Kündigung um das bis dahin noch nicht ausgezahlte Geld geprellt worden zu sein.

Diese Art von Arbeitsbedingungen ist in der Branche keinesfalls die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel.

Diese Art von Arbeitsbedingungen ist in der Branche keinesfalls die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Faire Mobilität beobachtet immer wieder, dass Vertragsdokumente nicht die tatsächlichen Arbeitsbedingungen darstellen, sondern allenfalls der rechtlichen Absicherung der Unternehmen dienen. Daneben gibt es mündliche Vereinbarungen, auf die sich auch die Fahrer in der Regel beziehen und die sie als bindend erachten. Davon profitieren ihre Arbeitgeber und Vertragspartner im Streitfall, wenn sie die Vereinbarungen ignorieren, für die es keine vertragliche Realität gibt. Sowohl vertragliche als auch mündliche Arbeitsrealität stellen aber in der Regel einen Gesetzesverstoß dar. So sollte ein Fahrer mit einem polnischen Arbeitsvertrag, der mit einem polnischen Lkw ausschließlich zum Beispiel in Deutschland und Österreich fährt, die dortigen Mindestlöhne erhalten. Zur Realität der Lkw-Fahrer gehört auch, dass ihre Arbeitstage in der Regel 13 bis 15 Stunden dauern, wofür sie eigentlich glatt das Doppelte ihrer Tagessätze von 80 Euro bekommen müssten. Die Fahrer sind außerdem zum Rundum-Beaufsichtigen der Lkw und ihrer Ladungen verdammt, sind also eigentlich 24 Stunden am Tag im Dienst.

Das Außergewöhnliche waren also nicht die Arbeitsbedingungen, sondern dass sich Fahrer zusammenschlossen, um dagegen zu demonstrieren. Dies war ein historisches Ereignis, das insbesondere unter Lkw-Fahrern die Runde machte, zuallererst unter den gleichsprachigen Fahrern der insgesamt knapp 1000 Mazur-Lkw, die im direkten persönlichen Kontakt zu den Protestierenden standen.

Der Erfolg der protestierenden Fahrer in Gräfenhausen im Frühahr war ein kraftvolles Signal.

Der Erfolg der protestierenden Fahrer in Gräfenhausen im Frühahr war ein kraftvolles Signal. Am 18. Juli steuerten erneut zunächst vier blaue Mazur-Lkw mit georgischen Fahrern den selben Rastplatz an, in den darauffolgenden Tagen schlossen sich immer mehr Fahrer dem erneuten Protest an. Neun Wochen hält nun der zweite, deutlich zähere Protest an. Die Fahrer haben die gleichen Beschwerden wie ihre Kollegen, die im März protestiert hatten. Obwohl augenscheinlich die Arbeitsbedingungen in den drei Firmen Lukmaz, Agmaz und Imperia nicht verbessert wurden, hatten die Mazurs offenbar doch gelernt, dass solche Arbeitsniederlegungen unbedingt vermieden werden sollten, und zahlten in den ersten Tagen die ausstehenden Forderungen an etwa 20 bis 30 Fahrer unverzüglich und komplett aus. Als sich über das erste Wochenende jedoch immer mehr Fahrer anschlossen und zwischenzeitlich an die 150 Lkw in Gräfenhausen West standen (und aufgrund von Platzmangel auch auf der anderen Seite in Ost), änderten sie die Taktik und zeigten die Fahrer wegen angeblicher Erpressung bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt an. Die Firmen behaupten, den Fahrern nichts zu schulden, und setzen auf eine Taktik der Kriminalisierung und der Falschinformation.

Anders als beim ersten Protest treten die Kunden und Auftraggeber stärker auf. Zwei österreichische Speditionen zahlten Anfang September jeweils 20 000 Euro in bar als Anzahlung auf die ausstehenden Forderungen der Fahrer. Auch die DHL reagierte: Bereits nach dem ersten Protest soll das Speditionsunternehmen die Mazurs auf eine Sperrliste gesetzt habe. Allerdings habe ein anderes Transportunternehmen vertragswidrig einen DHL-Auftrag an die Mazur-Gruppe weitergegeben. Das verantwortliche Unternehmen sei daher von der DHL für weitere Transportaufträge gesperrt worden. Ähnlich geht es zahlreichen anderen Unternehmen, deren Namen sich sowohl im ersten als auch im zweiten Protest in den Frachtpapieren der Fahrer finden. Diese Umstände werfen ein Schlaglicht auf die Branche, in der die Untervergabe von Aufträgen zum billigsten Preis zum Geschäftsmodell gehören. Resultat ist eine internationale und total fragmentierte Lieferkette, über die auch die Kunden komplett die Übersicht verlieren. Leidtragende sind die Fahrer, immer öfter Drittstaatsangehörige mit Verträgen in Polen, Litauen oder Slowenien, ohne Wohnsitz und soziale Absicherung in den Ländern, in denen sie de facto arbeiten, etwa in Deutschland.

Ändern können sich die Arbeitsbedingungen nur, wenn die Unternehmen endlich Verantwortung für ihre Lieferkette übernehmen.

Ändern kann sich das nur, wenn die Unternehmen endlich Verantwortung für ihre Lieferkette übernehmen. Schon beim ersten Protest war es nicht glaubhaft zu behaupten, dass Unternehmen von den Arbeitsbedingungen der Fahrer nichts wissen, denn es ist hinreichend bekannt und nachlesbar, wie diese auf allen europäischen Straßen und Parkplätzen aussehen. Spätestens nach dem ersten Protest in Gräfenhausen wusste aber endgültig jedes beteiligte Unternehmen Bescheid.

Um auch Druck von unten aufzubauen, müssten sich Lkw-Fahrer stärker organisieren. In Deutschland ist der Organisationsgrad selbst derjenigen Fahrer mit deutschem Arbeitsvertrag sehr gering. Die gängigen Gewerkschaftsmitgliedschaftsmodelle sind jedoch der transnationalen und mehrsprachigen Realität der Fahrer kaum angepasst und von Organizing-Strategien für diesen Sektor ist in Europa weit und breit nichts zu sehen. Hoffnung, dass sich in diese Richtung irgendwann in näherer Zukunft etwas ändern könnte, macht jedoch die pragmatische, breite gesellschaftliche und gewerkschaftliche Solidarität mit den Fahrern während beider Proteste, die letztlich für den positiven Ausgang des ersten Protests verantwortlich war.

Fahrer im internationalen Straßentransport bringen spezifische Ausgangsbedingungen mit, die dazu führen, dass auch lange Proteste durchgehalten werden können: Die Kollegen sind qua Beruf mobil, sie verbringen jeden Tag ihres Arbeitslebens auf Parkplätzen, haben ihre Unterkunft in Form des Lkw dabei und sind oft begnadete Köche, die auf einem Grill und einem Camping-Kocher mit den notwendigen Zutaten Sterneküche zaubern können. Schließlich haben sie mehrere gewichtige Druckmittel dabei: Sie haben mit den Lkw und ihren Ladungen Produktionsmittel, die sie anhalten und als Pfand vorbehalten können.

Einige der georgischen Fahrer aus dem ersten Protest in Gräfenhausen haben bereits die positive Erfahrung gemacht, dass sie durch kleinere gemeinsame Aktionen Forderungen bei dem polnischen Unternehmen durchsetzen können. Das hat vielen anderen Fahrenden vor Augen geführt, dass es sich lohnen kann, sich zusammenzuschließen, um für die eigenen Rechte einzutreten. Ob dieses Beispiel über Gräfenhausen und die Mazur-Gruppe hinaus zu einem Modell für Fahrer und Fahrerinnen auf Europas Straßen wird, wissen wir erst, wenn der erste Protest von Fahrern anderer Speditionen auf einem anderen europäischen Parkplatz beginnt.