Großbritannien erlebt gerade eine markante Zunahme an Arbeitskämpfen. Zwar sind Vergleiche zu den Unruhen wie in den 1970er Jahren überzogen, aber es ist anzunehmen, dass die im vergangenen Jahr begonnene Streikwelle bis weit in das Jahr 2023 hinein andauern wird, da sich Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die durch den starken Anstieg der Lebenshaltungskosten verursachte Krise zur Wehr setzen. In diesen äußerst schwierigen Zeiten ist es oberste Priorität der britischen Gewerkschaften, gerechte Lohnzuwächse für Beschäftigte durchzusetzen.
Quer durch alle Branchen sind Hunderttausende von Arbeiterinnen und Arbeiter gerade im Streik oder äußern sich per Mitgliederbefragung oder Urabstimmung zu Arbeitskämpfen. Zu nennen sind da die Angestellten der Bahn, der Rettungsdienste, der Post, des öffentlichen Dienstes und des Grenzschutzes, Arbeitskräfte in Häfen und Fabriken, Lehrbeauftragte und viele mehr. Streiks, andere Arbeitskampfmaßnahmen und Gewerkschaften machen gerade Schlagzeilen.
Eine wachsende Zahl an Gewerkschaftsmitgliedern ist der Meinung, keine andere Wahl mehr zu haben, als die Arbeit niederzulegen.
Arbeitsniederlegungen sind zwar immer das letzte Mittel für Beschäftigte, aber eine wachsende Zahl an Gewerkschaftsmitgliedern ist der Meinung, keine andere Wahl mehr zu haben. Als Dachverband von 48 Gewerkschaften und ihren 5,5 Millionen Mitgliedern unterstützt der britische Trades Union Congress (TUC) die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihrem Streik für gerechte Lohn- und Gehaltserhöhungen. Wir koordinieren die Arbeitskämpfe, mobilisieren öffentliche Unterstützung für die Streikenden und bieten den beteiligten Einzelgewerkschaften Unterstützung durch unser neues Solidaritätszentrum, den Solidarity Hub.
Unmittelbarer Auslöser für die Zunahme an Arbeitskampfmaßnahmen ist die in Großbritannien eingetretene Notsituation aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten. Die Inflationsrate ist so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr, wobei Lebensmittel-, Treibstoff- und Energiekosten am stärksten in die Höhe geschossen sind. Auch Hypotheken und Mieten steigen. Millionen von Familien haben Probleme, über die Runden zu kommen – und die Lebensmitteltafeln können die Nachfrage nicht mehr decken. Alle warten sehnlichst auf die Prognose, dass die Inflationsrate sinken wird.
Zudem steckt das Vereinigte Königreich in einer ernsthaften Lohnkrise. Im letzten Jahr war der niedrigste Lohnzuwachs seit fast 50 Jahren zu verzeichnen. Im Laufe des Jahres 2022 sank der durchschnittliche Reallohn um fast 80 Pfund (knapp 91 Euro) pro Monat – Schlüsselkräfte im öffentlichen Dienst hatten sogar 180 Pfund (204 Euro) weniger in der Tasche. Aber die Probleme, vor denen die arbeitenden Menschen stehen, brauen sich schon länger zusammen: Mit zwei Jahrzehnten an Lohnverlust sind die Beschäftigten vom am längsten anhaltenden Reallohnrückgang in über zwei Jahrhunderten betroffen. Im Durchschnitt mussten die britischen Erwerbstätigen seit 2008 einen Lohnverlust von 20 000 Pfund (22 728 Euro) hinnehmen, weil die Lohnsteigerungen nicht die Inflationsrate ausglichen. Unter den seit 2010 regierenden Konservativen war der Lohnzuwachs in Großbritannien der niedrigste der G7-Länder.
Mit zwei Jahrzehnten an Lohnverlust sind die Beschäftigten vom am längsten anhaltenden Reallohnrückgang in über zwei Jahrhunderten betroffen.
Arbeiterinnen und Arbeiter fordern völlig zu Recht, dass ihre Löhne und Gehälter mit den steigenden Preisen Schritt halten. Im Privatsektor konnten die Gewerkschaften einige gute Erfolge erzielen: Unter anderem wurden für die Beschäftigten beim Süßwarenhersteller Cadburys, für die technischen Fachkräfte der British Telecom und für das Personal der Baumarktkette B&Q Gehaltserhöhungen im zweistelligen Bereich ausgehandelt. Von Betrieb zu Betrieb setzen sich die Gewerkschaften in einer Verhandlung nach der anderen dafür ein, Würde und Anstand für ihre Mitglieder zu erwirken.
Zwar haben Erwerbstätige in ganz Europa Probleme aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten, aber in Großbritannien ist diese Krise besonders heftig. Der Brexit, Einschränkungen der Gewerkschaftsrechte und die sich im Land ausbreitende Epidemie von schlecht bezahlten und unsicheren Arbeitsverhältnissen haben den Druck auf die Arbeiterschaft erhöht. Und während die Arbeiterinnen und Arbeiter finanziell zu kämpfen haben, sind die Boni in der Finanzbranche, Unternehmensgewinne und Aktiendividenden unablässig gestiegen, was auf ein gefährliches Ungleichgewicht in der Wirtschaft hinweist. Mit dem Verfall der öffentlichen Dienstleistungen läuft Großbritannien Gefahr, wieder zum „kranken Mann Europas“ zu werden.
Großbritannien läuft Gefahr, wieder zum „kranken Mann Europas“ zu werden.
Statt Beschäftigte in dieser Krise zu unterstützen, hat die konservative Regierung die Situation noch verschärft, indem sie es vorzog, die Konflikte zuzuspitzen, statt sie aus der Welt zu schaffen. Sie hat die politische Entscheidung getroffen, die Gehälter von Angestellten im Öffentlichen Dienst, die sie während der Pandemie noch als Helden und Heldinnen feierte, niedrig zu halten, und weigert sich, mit den Gewerkschaften zu verhandeln. Sie hat einige der gewerkschaftsfeindlichsten Gesetze in der industrialisierten Welt eingeführt. Und jetzt geht sie auch noch gegen eine der britischen Grundfreiheiten vor – gegen das Streikrecht. Das ist ein zynischer Versuch der Regierung, davon abzulenken, dass sie die Lebenshaltungskosten-Krise nicht in den Griff bekommt.
Großbritannien täte gut daran, nicht die Gewerkschaften zu unterminieren, sondern sich diesbezüglich an Deutschland zu orientieren. Zwar sind Streiks auch in der Bundesrepublik nicht unbedingt eine Seltenheit, aber das deutsche System der Arbeitsbeziehungen, das auf dem Mitbestimmungsrecht von Gewerkschaften und Unternehmen beruht, liefert bessere Ergebnisse für Arbeiterinnen und Arbeiter, für Unternehmen und die Gesellschaft als Ganze. Und indem sie die Gewerkschaften als Sozialpartner einbezieht, stellt die Regierung in Berlin sicher, dass die Interessen von Beschäftigten in die Politikgestaltung einfließen. Dem DGB ist es gelungen, die Gewerkschaften zu einem wichtigen Bestandteil des Alltagslebens in Deutschland zu machen.
Großbritannien täte gut daran, nicht die Gewerkschaften zu unterminieren, sondern sich diesbezüglich an Deutschland zu orientieren.
Deshalb steht der TUC an der Spitze der Kampagne für einen wirtschaftlichen Wandel in Großbritannien. Kurzfristig fordern wir ein den Corona-Hilfen ähnliches Unterstützungspaket für Angestellte. Statt die Obergrenzen für Banker-Boni abzuschaffen und die Unternehmenssteuern zu senken, sollte die Regierung Geld in die Taschen der Beschäftigten stecken, für bessere Sozialleistungen und höhere Renten sorgen sowie Maßnahmen für Lohnerhöhungen ergreifen. Statt fälschlicherweise von der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale zu reden, sollte das Kabinett unverzüglich eine anständige Gehaltserhöhung für die im öffentlichen Sektor Beschäftigten bewilligen und einen Mindestlohn von 15 Pfund festlegen, rund 17 Euro.
Langfristig streben die Gewerkschaften eine neue Wirtschaft an, in der Arbeit und nicht Reichtum belohnt wird. Wir fordern einen New Deal für Arbeiterinnen und Arbeiter mit besseren Rechten, ein Verbot von ausbeuterischen Praktiken wie Arbeit auf Abruf, also die Abschaffung der sogenannten Null-Stunden-Verträge (zero hours contracts), und eine stärkere Rolle für die Gewerkschaften. Wir kämpfen für faire Arbeitsentgelte in Branchen wie den Pflegediensten, indem wir in Tarifverhandlungen Branche für Branche höhere Löhne und Gehälter sowie bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Und wir fordern eine industriepolitische Strategie, die diesen Namen auch verdient, um die Produktivitätssteigerungen zu erzielen, die zur Finanzierung der Lohnerhöhungen gebraucht werden. Die Labour-Partei hat versprochen, all das umzusetzen, wenn sie als Siegerin aus den nächsten Wahlen hervorgeht – und diese Agenda würde auch dazu beitragen, die Zahl der Streiks in Großbritannien zu reduzieren.
2023 wird ein entscheidendes Jahr für Arbeiterinnen und Arbeiter in Großbritannien.
Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen und industriellen Turbulenzen wird 2023 ein entscheidendes Jahr für Arbeiterinnen und Arbeiter in Großbritannien. Da die Krise der Lebenshaltungskosten sicherlich noch Monate andauern wird, werden die Gewerkschaften nicht aufhören, für angemessene Lohn- und Gehaltserhöhungen für ihre Mitglieder zu kämpfen. Und wenn die Regierung auf ihrer gewerkschaftsfeindlichen Strategie beharrt und den Unternehmen neue Rechte einräumt, Streikende zu entlassen und die Gewerkschaften zu verklagen, wird das weitere Arbeitsunruhen nach sich ziehen.
Ein konstruktiver Dialog mit den Unternehmern ist nach wie vor der effektivste Weg, Streitigkeiten beizulegen. Die Gewerkschaften wollen ernsthafte Lohnverhandlungen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor. In der immer noch sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt haben es die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter verdient, einen gerechten Anteil an dem durch ihre Arbeit geschaffenen Reichtum zu erhalten. Auf lange Sicht ist das der beste Weg, die Anzahl der Streiks zu minimieren.
Aus dem Englischen von Ina Goertz