Die Bilanz der 52. Münchener Sicherheitskonferenz (MSC) macht ebenso wenig Hoffnung wie der vorab veröffentlichte Munich Security Report 2016 mit dem drastischen Titel: „Boundless Crises, Reckless Spoilers, Helpless Guardians“. In der Öffentlichkeit dürften vor allem die Worte von Dmitri A. Medwedew nachhallen, die Welt sei zurück im Kalten Krieg.
Doch nicht nur die Kriege in Syrien und der Ostukraine bereiten Sorgen. Insgesamt scheinen die alten, realpolitischen Muster von Machtdurchsetzung und nationalen Interessensgegensätzen die Konferenz und die internationale Diplomatie zu bestimmen. Befinden wir uns auf einer Reise zurück in die Konfliktmuster des 20. Jahrhunderts? Einerseits scheint überkommen geglaubtes machtpolitisches Säbelrasseln wieder hoffähig zu sein, andererseits ist die Welt heute viel komplexer und unübersichtlicher als noch vor 25 Jahren. Was folgt daraus für eine vorausschauende und nachhaltige Sicherheits- oder gar Friedenspolitik?
Vom amerikanischen Außenminister John Kerry über die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bis hin zum bereits erwähnten Medwedew und anderen mehr reichte die Liste der prominenten Rednerinnen und Redner (meist Redner) auf der diesjährigen Konferenz. So unterschiedlich ihre Themen und Standpunkte auch waren, eines hatten die meisten von ihnen gemeinsam: Sie repräsentierten Staaten. Zwar tritt auf der Konferenz zunehmend auch die prominente Zivilgesellschaft auf, aber die Agenda bestimmt die Staatenwelt. Angesichts der weltpolitischen Lage drängt sich jedoch die Frage auf, ob das noch angemessen ist.
Mächtige Nationalstaaten waren, sind und bleiben der größte Unsicherheitsfaktor für Menschen weltweit.
Zwar sind es weiterhin mächtige Nationalstaaten, deren Politik und Zusammenarbeit letztlich darüber entscheiden, ob „die Internationale Gemeinschaft“ Frieden und Sicherheit gewährleisten kann. Gleichzeitig waren, sind und bleiben mächtige Nationalstaaten der größte Unsicherheitsfaktor für Menschen weltweit. In ihren Kriegen starben allein im 20. Jahrhundert Dutzende Millionen Menschen und sie verfügen über immer machtvollere Gewaltmittel, inklusive Massenvernichtungswaffen. Sie intervenieren in anderen Staaten und sind nicht selten Hintermänner von Staatszerfall, wenn sie Milizen unterstützen und Waffen in Krisengebiete liefern. Zugleich werfen die zahlreichen fragilen Staaten mit eingeschränktem Gewaltmonopol und ein weltweites Konfliktgeschehen, das auch von nichtstaatlichen Akteuren geprägt ist, die Frage auf, wie die Staatenwelt reagieren kann und soll.
Kein Staat ist auch keine Lösung
Wenn die Staatenwelt die Sicherheit so unzureichend gewährleistet, wäre die Welt dann ohne Staaten besser dran? Aus globaler Perspektive befinden sich Staaten heute in einer widersprüchlichen Situation.
Im Zuge der Globalisierung verlor der Nationalstaat seine dominante Position in vielen Bereichen von Wirtschaft und Politik. Globalisierung stärkte andere, nicht-staatliche Kräfte und das florierende neoliberale Dogma setzte auf einen schlanken Staat. Dies ging auch am staatlichen Gewaltmonopol nicht spurlos vorüber. Wo der Staat sich zurückzog, füllten private Militär- und Sicherheitsfirmen die Lücken ebenso wie Rebellen, Milizen, Kriminelle und Terroristen.
Gleichzeitig erlebten wir eine Renaissance des „Staatsdenkens“ – insbesondere auf der Ebene der internationalen Politik. Die meisten westlichen Interventionen wurden und werden mit dem ausdrücklichen Ziel des Staatsaufbaus durchgeführt. Entsprechend ging es oft darum, staatliche Institutionen vor Ort zu schaffen oder dazu zu befähigen, die Grundbedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zu befriedigen, einschließlich der Gewährleistung von Sicherheit. Dafür wurden in vielen Fällen Prozesse der Sicherheitssektorreform angemahnt und unterstützt. Die Ergebnisse dieser „westlichen“ Reformbemühungen im <link rubriken aussen-und-sicherheitspolitik artikel mein-freund-der-warlord-1136>Sicherheitssektor waren sehr gemischt und eher selten langfristig erfolgreich – man denke nur an Afghanistan, Libyen und den Irak.
Angesichts dieser Ambivalenzen wird der Ruf nach alternativen Lösungsansätzen verständlich. Wenn es um Sicherheit geht, sollten neben staatlichen Akteuren und Institutionen auch solche „jenseits des Staates“ einbezogen werden. Hierzu müssten allerdings eine Reihe struktureller Fragen wie auch Dilemmata gegenwärtiger internationaler Politikpraxis kritisch hinterfragt werden.
Kurzatmiges Krisenmanagement ohne Kompass
Betrachten wir die Entwicklungen der letzten 20 Jahre, so neigen wir dazu, das Handeln von Staaten als „planvoll“ oder gar „strategisch gelenkt“ wahrzunehmen. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass Sicherheitspolitik und öffentliche Diskussion über Frieden und Sicherheit zumeist durch aktuelle Ereignisse und Zwänge bestimmt sind. Um brennende Krisen zu bewältigen, beschließen Politikerinnen und Politiker kurzfristige und reaktive Maßnahmen, beispielsweise Waffenstillstandsabkommen, Sanktionen gegen kriegführende Parteien, Waffenlieferungen an eine oder mehrere Konfliktparteien, militärische oder sogenannte humanitäre Interventionen. Das spiegelte sich auch in den Diskussionen auf der diesjährigen MSC.
Insgesamt wird viel zu selten zusammen gedacht, was eigentlich zusammengehört, nämlich die Analyse der mittel- bis langfristigen Ursachen von Gewalt und die tagesaktuellen, sicherheits- und friedenspolitischen Entscheidungen. Die 2014 gegründete Reflection Group der Friedrich Ebert Stiftung zum Thema „Monopoly on the Use of Force 2.0?“ widmet sich diesen Fragen. Auch wenn der Dialogprozess noch nicht abgeschlossen ist, zeichnen sich eine Reihe von Kerneinsichten ab, die auch bei politischen Entscheidungen stärker berücksichtigt werden müssten, so unter anderem:
1. Die Gewährleistung von Sicherheit wird durch die Proliferation von Gewalt- und Sicherheitsakteuren immer stärker fragmentiert; dadurch wird das staatliche Gewaltmonopol in Frage gestellt.
2. Angeheizt wird diese Proliferation von Gewaltakteuren durch die zunehmende Verbreitung von (Klein-)Waffen (von legalen über illegale Exporte bis hin zur Eroberung von Waffendepots wie in Libyen und Syrien).
3. Die Bearbeitung von Ursachen und Wirkungen des gegenwärtigen weltweiten Konfliktgeschehens lassen die klassischen Grenzen zwischen Außen- und Innenpolitik und ihren jeweiligen Instrumenten zunehmend verschwimmen.
4. Sicherheit wird eher weniger universell (inklusiv für alle Bürger) als öffentliches Gut bereitgestellt, sondern exklusiv für Eliten und Teile der Bevölkerung gewährt oder jenen vorbehalten, die sich private Sicherheitsdienste leisten können.
5. Exklusive Sicherheitsgewährleistung führt zu autoritären oder ungeordneten Verhältnissen mit Zonen relativer Sicherheit und Zonen weitgehender Unsicherheit.
6. Zivile, rechtsstaatliche und demokratische Kontrolle von staatlichen und nichtstaatlichen Sicherheitsakteuren werden oft zu Recht gefordert, in der Praxis aber regelmäßig hinten angestellt – auch im Westen.
Diese und weitere Einsichten sind in der Mehrzahl weder bahnbrechend noch allzu überraschend. In Ihrer Gesamtheit und ihren Wechselwirkungen betrachtet, zeichnen sie jedoch ein klares, wenngleich komplexes Bild von systemischen Entwicklungsdynamiken und Risiken im 21. Jahrhundert – und müssten folglich die Grundlage einer langfristig angelegten und nachhaltigeren Sicherheitspolitik bilden. Dieses sollte die MSC viel stärker als bisher in den Mittelpunkt rücken. Gerade aufgrund ihrer mittlerweile herausgehobenen Stellung im internationalen Konferenzmarathon böte sie einen geeigneten Ort für solch eine „Perspektivverschränkung“ mit globaler Signalwirkung.
Koordinierte Pluralität als Alternative?
Daher bedarf Sicherheits- und Friedenpolitik im Zeichen der Fragmentierung eines neuen Leitmotivs. Eine Konsolidierung der Sicherheitsakteure und die Wiederherstellung von nationalstaatlichen Gewaltmonopolen scheiden hierfür ebenso aus, wie ein kollektiver Abgesang auf den Staat. Vielmehr müsste es darum gehen, die systemischen Voraussetzungen zu schaffen, um die Pluralität der Sicherheitsarchitekturen weltweit so zu koordinieren, dass sie weniger schädliche Konsequenzen zeitigen als derzeit. Und in der Tat ist das internationale System theoretisch ja als Mehrebenensystem angelegt. Es beschränkt das nationalstaatliche Gewaltmonopol nach Außen und unterwirft es sogar der Aufsicht einer globalen Institution in Form des UN-Sicherheitsrats. Allein, es funktioniert in der Praxis kaum und ist vielfach den Herausforderungen der Gegenwart nicht angepasst. Dies hat die 52. Münchener Sicherheitskonferenz erneut offenbart.
Auch wenn ein solcher neuer beziehungsweise erneuerter globaler Rahmen oder ein neues sicherheitspolitisches Leitmotiv derzeit wenig realisierbar oder konsensfähig scheinen, sollte Politik so gestaltet werden, dass sie systemischen Herausforderungen langfristig Rechnung trägt. Der Gedanke der Prävention steht hierbei im Mittelpunkt, insbesondere angesichts des Scheiterns bisheriger Interventionen in fragilen und von Gewalt betroffenen Staaten. Leider aber lassen die Reden auf der diesjährigen MSC wenig Hoffnung aufkommen.
Diesen Artikel hat Marius Müller-Hennig mitverfasst. Er ist gemeinsam mit Bodo Schulze und Herbert Wulf Mitglied der Reflection Group der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Zukunft des staatlichen Gewaltmonopols.
4 Leserbriefe
Wo ist der Verfassungspatriotismus der Deutschen geblieben? Er war so viel schöner und besser als dieses neu entfachte Denken in nationalistischen Kategorien. Er verkörpert das Primat des Rechtsstaates, ist Garant für Friede, Freiheit und Ordnung.
Allerdings ist zu kritisieren, dass der Artikel nicht über eine Zustandsbeschreibung hinauskommt. Auch er bleibt hinter der selbstgeforderten Ausformulierung neuer Visionen und Strategien zurück. Daher meine Frage: Wie und wer soll die "systemischen Voraussetzungen [...] schaffen, um die Pluralität der Sicherheitsarchitekturen weltweit [besser und nachhaltiger] zu koordinieren?
Es stimmt aber: Wir erleben eine bedauerliche Strategiearmut in nahezu allen sicherheitspolitischen Belangen. Der Begriff Strategie wird zwar allzu gern benutzt, aber bei genauem Hinschauen handelt es sich nur um verzweifelte Reaktionen auf "überraschende" Ereignisse. Hier besteht zweifellos ein tiefes Defizit. Ob die MSC es decken kann, bleibt offen. Denn natürlich befasst sie sich allein aus Marketinggründen vorrangig mit hochaktuellen Themen.