Der alte Machthaber musste gehen, doch der erhoffte demokratische Aufschwung blieb aus – so sieht es in vielen Ländern aus, in denen es in den vergangenen Jahren zu massiven Protesten gegen die herrschende Elite kam. Algerien bildet da keine Ausnahme. 2019 hatten Hunderttausende Demonstrierende eine fünfte Amtszeit des greisen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika verhindert. Nun stehen vorgezogene Parlamentswahlen an. Der Straßenprotest, Hirak bezeichnet, geht währenddessen bereits ins dritte Jahr, ohne dass sich eine politische Lösung abzeichnet.
Präsident Abdelmadjid Tebboune, seit 2019 im Amt, will dem alten Regime über diese Wahl neue Legitimität verleihen. Wichtige politische Familien wie das Rassemblement pour la culture et la démocratie und die Front des Forces socialistes haben zum Boykott aufgerufen. Auch einige sozialdemokratische und sozialistische Kleinparteien boykottieren die Wahl. Gleiches gilt für die Islamisten; Anfang der 1990er Jahre hatten sie breite Mehrheiten erlangt, nach dem Verbot der Islamischen Heilsfront waren sie in den Untergrund gegangen. Heute sind sie in der Organisation Rachad versammelt.
Lediglich einige kleine und regimenahe islamistische Parteien haben ihre Teilnahme an den Wahlen angekündigt. Der größte Teil der unter 30-Jährigen – über die Hälfte der Bevölkerung – hält wenig bis nichts von der Wahl. Sie wollen den Hirak weiterführen, obwohl er in den letzten Tagen immer häufiger durch Sicherheitskräfte unterbunden worden ist. Es kam zu Verhaftungen und Folterungen, harte Gefängnisstrafen wurden gegen Aktivisten verhängt. In der Hölle algerischer Gefängnisse hat sich nicht viel verändert, das zeigt der Fall des 38-jährigen Bloggers Ibrahim Daouadji, der mehrfach verhaftet und gefoltert wurde.
Aber eine parteipolitische Alternative, die Algeriens Geschicke in die Hand nehmen könnte, ist nicht entstanden. Der Protest ist ausdrücklich führungslos und dezentral.
Doch eine politische Lösung bieten auch die Hirak-Aktivisten nicht. Unter ihnen sind bemerkenswert viele Frauen, die über Monate hinweg friedlich ihren Unmut über das korrupte, vom Militär gestützte Regime der Nationalen Befreiungsfront artikuliert haben. Sie haben allen Versuchen der Kooptation durch das Regime und die Islamisten widerstanden, Verfassungsideen debattiert und politische Vernunft und Verantwortung an den Tag gelegt. Aber eine parteipolitische Alternative, die Algeriens Geschicke in die Hand nehmen könnte, ist nicht entstanden.
Der Protest, der alle Städte und Landstriche des Landes erfasst hat, ist ausdrücklich führungslos und dezentral. Eine „gramscianische“ Situation ist entstanden: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren“ – und alle hoffen, dass nicht wieder die „Zeit der Monster“ anbricht. Die „Brotaufstände“ von 1988, rückblickend der erste „arabische Aufstand“, hatten mit einem Krieg zwischen Dschihadisten und Militär ein „schwarzes Jahrzehnt“ eingeleitet. Ausgefochten wurde dieser Krieg auf dem Rücken der Algerierinnen und Algerier. Er wurde mit einer unvorstellbaren Grausamkeit geführt.
Schon damals waren die Existenzgrundlagen des nach offizieller Lesart „islamisch-sozialistischen“ Staatsapparates zerbrochen: Die „alten Kämpfer“ der Nationalen Befreiungsfront und ihrer Armée de Libération Nationale, die 1962 die Unabhängigkeit von Frankreich errungen hatten, entpuppten sich als eine bürokratisch verkrustete Gerontokratie, die von der Vetternwirtschaft rivalisierender Clans zerfressen wurde. Der algerischen Jugend gab sie kaum eine Chance; damit zwang sie viele in die Emigration. Der auf dem Export von Erdöl und Erdgas beruhende Rentierstaat lieferte schon damals nicht mehr. Die Preise sind seither noch weiter gesunken, die Wohnungskrise hat sich verschärft und die Pandemie eklatante Schwächen der Gesundheitsversorgung unter Beweis gestellt. Nahrungsmittel und Konsumgüter müssen großenteils importiert werden. Und ein großer Teil der algerischen Familien ist immer noch von den Überweisungen der „Gastarbeiter“ abhängig, die nun schon in der xten Generation in den französischen Vorstädten leben.
Das Land, das mit die höchste Sonneneinstrahlung pro Quadratkilometer aufweist, hat so gut wie keine Anstrengungen unternommen, sich aus der hydrokarbonen Exportfalle zu befreien und alternative Energien zu entwickeln.
Der Hirak hatte Hoffnungen geweckt, dass sich das Land in eine freiere Demokratie auf neuen Grundlagen entwickeln könnte. Diese neuen Grundlagen hätten auch mit europäischer Unterstützung gelegt werden müssen. Doch zu Algerien fällt Frankreich, Deutschland und der EU seit Jahrzehnten wenig ein. Das Land, das mit die höchste Sonneneinstrahlung pro Quadratkilometer aufweist, hat so gut wie keine Anstrengungen unternommen, sich aus der hydrokarbonen Exportfalle zu befreien und alternative Energien zu entwickeln.
Dabei ließe sich auf diesem Wege eine transmediterrane Energiepartnerschaft voranbringen, die die südliche Peripherie der EU endlich einmal nicht nur als Quelle von Terror und Migration ansieht. Die vielfach beschworene, aber ominöse „Bekämpfung der Fluchtursachen“ müsste mit einer solchen zukunftsweisenden Solidarität und Kooperation starten. In den Monaten des Hirak war die Zahl der Bootsflüchtlinge (Harragas) merklich zurückgegangen; bei einer fortgesetzten Stagnation könnten sich wieder viele junge Menschen nach Norden aufmachen.
Algerien ist das größte Land Afrikas mit einem ungeheuren humanen und energetischen Potenzial. Gleichzeitig ist Deutschland Teil eines gemeinsamen Dreiecks; unser Wohl und Wehe ist mit dem Algeriens und Frankreichs verbunden. Da ist nicht nur die Migration, da sind auch der historische Kolonialismus in Afrika und die Unterstützung des antikolonialen Widerstands in den 1950er Jahren. Und es gibt die gemeinsame Hypothek des Antisemitismus, der in allen drei Ländern lebendig ist, und die Gefahr eines radikalen Islamismus, der nur gemeinsam in Schach gehalten werden kann. Und vor allem ist da die reale Chance einer besseren gemeinsamen Zukunft. Auch mit deutschem Einfluss könnte Algerien aus seiner Isolation herausgeholt werden.