Es war wohl die überraschendste Nachricht des NATO-Gipfels in der vergangenen Woche: In vier kurzen Sätzen verkündeten die USA gemeinsam mit der Bundesregierung, bis 2026 amerikanische, landgestützte Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren. Die gemeinsame Erklärung liest sich so knapp, als handele es sich um einen Routineakt. Tatsächlich wird der Schritt weitreichende sicherheitspolitische Konsequenzen haben. Der Vorgang ist bezeichnend für das Fehlen einer ernsthaften strategischen Debatte in Deutschland. 

Die Erklärung sieht die zukünftige Stationierung von drei konventionellen, landgestützten Systemen, sogenannten Abstandswaffen, mit Reichweiten von teilweise über 2500 km vor: landgestützte Tomahawk-Marschflugkörper (Typhon), Standard Missile 6 (SM-6) in der Ausführung als Boden-Boden-Rakete und die noch in der Testphase befindlichen Hyperschallraketen Dark Eagle. Alle drei sind Teil der sogenannten Multi-Domain Task Force, einer militärischen Verbandsstruktur der US-Armee, die bereits 2017 eingeführt wurde. Mittlerweile gibt es weltweit fünf solcher Task-Forces, die alle bis 2028 vollständig einsatzfähig sein sollen. Zumindest drei davon fokussieren sich auf den pazifischen Raum. Eine wird seit 2021 von Deutschland aus geführt und dient Operationen der US-Truppen in Europa und Afrika. Die Task-Forces integrieren Land-, Luft-, See-, Weltraum- und Cyberkräfte, um gegnerische Ziele flexibel zu bekämpfen. Hauptziel ist die Überwindung von sogenannten Anti-Access- und Area-Denial Zonen, in denen der Gegner den Zugang und die Bewegung einschränken will.

Die Grundlagen erfolgreicher Abschreckung sind stets militärische Fähigkeiten, Ziele des Gegners zu bedrohen und auch zu zerstören.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius erachtet die Stationierung der US-Systeme als notwendig, um eine „ernstzunehmende Fähigkeitslücke in Europa zu schließen“, die auch von der Nationalen Sicherheitsstrategie identifiziert wird. Der Bedarf an Mittelstreckensystemen ergebe sich darüber hinaus aus den aktuellen NATO-Plänen, die seit Jahren eine entsprechende Entwicklung priorisieren. Dahinter stehen Überlegungen zur Abschreckung Russlands, aber – und das wird in der Öffentlichkeit häufig unterschlagen – im Ernstfall auch zur möglichen Kriegsführung. Denn die Grundlagen erfolgreicher Abschreckung sind stets militärische Fähigkeiten, die es im Verteidigungsfall ermöglichen, Ziele des Gegners zu bedrohen und auch zu zerstören. Gleichzeitig soll das Signalisieren von solchen Konsequenzen einen Angriff überhaupt verhindern.

Im Kriegsfall würden die künftig in Deutschland stationierten US-Abstandswaffen wohl primär gegen russische integrierte Luftverteidigungssysteme sowie Kommando- und Kontrolleinrichtungen eingesetzt werden. Für die USA sind sie elementarer Bestandteil eines umfassenden Kriegsführungskonzepts, das Operationen über die Dimensionen Land, Luft, See, Weltraum und Cyber hinweg ermöglichen soll. Dieser Ansatz ist auch für die NATO maßgeblich. So betont bereits die neue Militärstrategie der Allianz aus dem Jahr 2019 horizontale Eskalationsoptionen. Demnach soll die Verteidigung im Fall des Falles nicht nur direkt am Ort eines russischen Angriffs aufgenommen werden, zum Beispiel im Baltikum. Vielmehr setzt die NATO auf die Möglichkeit, einen Krieg auch geografisch auszuweiten, um auch an anderer Stelle Druck auszuüben. Abstandswaffen würden die dafür notwendige Flexibilität bereitstellen.

Im Idealfall, so die Hoffnung, wäre Russland gezwungen, seinen ursprünglichen Angriff einzustellen. Aber es gäbe euch eine andere Option: Moskau könnte angesichts der eigenen Unterlegenheit im Kriegsfall nuklear eskalieren. Selbst präemptive Schläge wären denkbar, sollte man im Kreml zur Ansicht gelangen, dass konventionelle, aber präzise Abstandswaffen in Europa in der Lage wären, die eigenen nuklearen Fähigkeiten zu bedrohen.

Eine kluge Verteidigungspolitik muss derartige mögliche Entwicklungen antizipieren, um sie verhindern zu können. Deshalb ist es besonders erstaunlich, dass in den öffentlichen Kommentaren zur Stationierungsentscheidung die Reaktionen Russlands kaum eine Rolle spielen. Moskau selbst hält sich bisher bedeckt. Der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow sprach lediglich davon, dass man in aller Ruhe eine militärische Antwort entwickeln werde.

Russland hat neben einer Vielzahl an luft- und seegestützten Systemen selbst bereits landgestützte Mittelstreckenwaffen stationiert.

Richtig ist, dass Russland neben einer Vielzahl an luft- und seegestützten Systemen selbst bereits landgestützte Mittelstreckenwaffen stationiert hat. Im Mittelpunkt steht ein Marschflugkörper des Typs 9M729 (SSC-8), dessen Entwicklung 2019 maßgeblich zum Ende des INF-Vertrages über nukleare Mittelstreckenraketen beitrug. Dieser Vertrag verbot entsprechende, landgestützte Waffensysteme mit einer Reichweite von 500 bis 5 500 Kilometer in Europa.

Während Russland bis heute bestreitet, dass der genannte Marschflugkörper eine Reichweite von mehr als 500 Kilometer besitzt, schlug Präsident Putin nach Auflösung des INF-Vertrags 2019 und 2020 ein neues Moratorium für landgestützte Mittelstreckenraketen vor: Man werde keine eigenen Systeme entwickeln und stationieren, solange die USA ebenfalls darauf verzichten würden. Im Gegenzug bot Moskau gegenseitige Verifikationsmaßnahmen an. Im Dezember 2021 griffen die USA den Vorschlag auf und erklärten sich grundsätzlich zu Inspektionen bereit.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beendete dieses Vorhaben. Die Idee eines Moratoriums ist durch die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ebenfalls hinfällig geworden. Es ist zu erwarten, dass Russland sein Arsenal an Marschflugkörpern des Typs 9M729 erweitert oder seegestützte Raketensysteme für den Einsatz an Land umrüstet. Schließlich wäre auch eine Wiederaufnahme der Entwicklung der RS-26 Rubesch denkbar, einer ballistischen Mittelstreckenrakete.

Langfristig könnte die Stationierung von konventionellen US-Abstandswaffen in Europa auch das nukleare Gleichgewicht zwischen den USA und Russland beeinflussen.

Derartige Gegenmaßnahmen könnten dazu führen, dass die erhofften positiven Effekte auf Abschreckung und Kriegsführung gegenüber Russland minimiert werden oder sogar vollständig ausbleiben. In diesem Fall wäre wenig gewonnen. Schlimmer noch: Langfristig könnte die Stationierung von konventionellen US-Abstandswaffen in Europa auch das nukleare Gleichgewicht zwischen den USA und Russland beeinflussen. Denn für Moskau sind diese immer auch strategische Waffen, da sie grundsätzlich in der Lage wären, Elemente der eigenen Nuklearstreitkräfte zu zerstören, etwa Radaranlagen und Kommunikationseinrichtungen. Umgekehrt gilt das, zumindest für die USA, nicht. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Russland auf den generellen Ausbau von konventionellen Abstandswaffen in Europa auch mit Änderungen seiner Nukleardoktrin oder der Komposition seiner strategischen Nuklearstreitkräfte reagiert.

Dass die jetzige Stationierung allein in Deutschland geplant ist, hat darüber hinaus Konsequenzen für die Verteilung von Risiken innerhalb der NATO. Im Kontext des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 zur Stationierung von nuklear bestückten Mittelstreckenraketen hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt noch darauf hingewirkt, eine derartige Singularisierung unbedingt zu vermeiden. Anders als heute war die Entscheidung zur Stationierung auch mit einem Angebot zur Rüstungskontrolle verbunden, vorausgesetzt Moskau wäre bereit, seine eigenen Systeme zu begrenzen.

Die Stationierung von amerikanischen Raketensystemen in Deutschland ist deshalb weder ein militärisches Wundermittel ohne Risiken, noch alternativlos. Stattdessen wirft sie neue Fragen der Kriegsverhütung, der Kriegsführung und des Eskalationsmanagements auf. Diese lassen sich nicht mit dem bloßen Verweis auf mehr und vermeintlich immer bessere Abschreckung beantworten. Vielmehr bedarf es eines substantiellen Abwägungsprozesses.

Doch während man in den USA derartige Fragen intensiv und auch öffentlich diskutiert, werden diese hierzulande kaum problematisiert. Stattdessen verfällt man zum Teil in Extreme. Während die einen im Zuge der Zeitenwende jede militärische Investition unkritisch begrüßen, sehen andere darin eine reine Provokation auf dem direkten Weg zum Dritten Weltkrieg. Gleichzeitig wird manchmal der Eindruck erweckt, Russland könnte im Kriegsfall militärisch vollständig besiegt werden. Doch damit wird eine der grundlegendsten Einsichten des Nuklearzeitalters verdrängt. Bereits 1956 kam der US-amerikanische Stratege William W. Kaufmann zum Schluss, dass die klassische konventionelle Kriegsführung bis zur totalen Niederlage zwischen Atommächten zwangsläufig in einer nuklearen Eskalation enden würde. 

Angesichts dieser fundamentalen und nicht auflösbaren Risiken braucht es eine offene Debatte über und Analyse von militärstrategischen Optionen zum Eskalationsmanagement. Diese sollten auch ein Mindestmaß an Verhaltensregeln und gezielten Kommunikationskanälen umfassen, damit nicht jeder militärische Zwischenfall und jede mögliche Fehleinschätzung in die Katastrophe führen. Keinesfalls aber darf der Eindruck entstehen, die Bevölkerung würde ohne Risikoabwägung vor vollendete Tatsachen gestellt. Denn damit wäre einer gezielten Verunsicherung von außen Tür und Tor geöffnet.