Die wirksame Unterstützung der Ukraine in ihrer Abwehr der russischen Aggression ist völkerrechtlich legitim und politisch geboten. Sie darf jedoch nicht grenzenlos sein. Denn der russische Präsident verfügt über die reale Option einer atomaren Eskalation. Die deutsche Debatte über den Krieg in der Ukraine hat sich im taktischen Klein-Klein von Panzer- und Haubitzenlieferungen verfangen, anstatt die strategischen Implikationen der Kriegsbeteiligung westlicher Staaten durch Aufklärung, Waffen und Logistik in den Blick zu nehmen. Das Gravitationszentrum der militärischen Unterstützung der Ukraine liegt eindeutig in Washington und nicht in den europäischen Hauptstädten. Es sind primär die umfangreichen amerikanischen Beistandsleistungen, die strategische Wirkung auf den Kriegsverlauf ausüben.
Mit dem kürzlich vom US-Kongress verabschiedeten Unterstützungspaket von 40 Milliarden Dollar wird der amerikanische Beistand für Kiew weiter verstärkt. Vor diesem Hintergrund wächst der europäische Abstimmungsbedarf mit den Vereinigten Staaten über Zweck und Ziel aller Unterstützungsmaßnahmen und deren Risiken für die europäische Sicherheit. Es geht bei diesem Krieg letzten Endes um das Schicksal Europas. Daraus folgt, dass die europäischen NATO-Partner eine mitgestaltende Rolle suchen müssen, und das Ruder nicht nur Washington überlassen dürfen. Berlin darf nicht nur im westlichen Geleitzug mitfahren, sondern sollte dessen Kurs wesentlich mitbestimmen. Die zweifelsohne wichtige transatlantische Geschlossenheit muss stets Verhandlungsergebnis sein und sollte nicht durch einfaches Beidrehen der Bündnispartner erreicht werden.
Ein strategischer Diskurs, der diesen Namen verdient, muss zunächst auf höchstmögliche Klarheit von Ziel und Zweck der Unterstützung gerichtet sein. In der deutschen politischen Debatte entsteht der Eindruck, dass dieser Grundsatz manchmal auf den Kopf gestellt wird. Auf welches Ziel man mit der Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte genau hinarbeitet, bleibt unklar. Formulierungen wie „Putin darf nicht siegen“ oder „Die Ukraine darf nicht verlieren“ werden nicht weiter konkretisiert. Soll zum Beispiel die ukrainische Verhandlungsposition nach Beendigung der Kampfhandlungen gestärkt werden? Oder soll ein militärischer Sieg Kiews angestrebt werden? Oder werden weitreichendere Ziele verfolgt wie die Zermürbung und nachhaltige Schwächung der russischen Armee, wie kürzlich von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin formuliert? Auch innerhalb der US-Administration und im Kongress existieren unterschiedliche Vorstellungen über Ziel und Zweck der massiven Beistandsleistungen für die ukrainischen Streitkräfte.
Ein strategischer Diskurs, der diesen Namen verdient, muss zunächst auf höchstmögliche Klarheit von Ziel und Zweck der Unterstützung gerichtet sein.
Und schließlich ist eine politische Debatte überfällig, welche künftige europäische Sicherheitsordnung eigentlich angestrebt wird. Wie können die unvermeidliche Konfrontation und Instabilität im Verhältnis zu Russland in den kommenden Jahren bewältigt werden? Wie stellt sich die – perspektivisch durch Finnland und Schweden verstärkte – NATO in diesem Zusammenhang auf? Nach der ökonomischen Entflechtung im Energie- und Hochtechnologiebereich bleiben nur noch militärische Mittel zur Eindämmung Russlands übrig, wodurch der Fokus noch stärker auf militärische Stabilität gerichtet werden muss. Angesichts der konventionellen Überlegenheit der NATO wird sich Russland künftig noch mehr auf seine nukleare Abschreckung stützen.
Der operativ gut geführte Abwehrkampf des ukrainischen Militärs gegen die russischen Angriffskräfte wäre ohne die umfassende Unterstützung der USA nicht durchhaltbar. Der US-Präsident nimmt damit entscheidenden Einfluss auf das weitere Kriegsgeschehen. Auf der Vorderbühne sind Russland und die Ukraine Kriegsparteien. Auf der Hinterbühne des Geschehens, wo Regie geführt wird, wird die dominierende geopolitische Ebene des Konflikts immer offensichtlicher: das machtpolitische Ringen zwischen Moskau und Washington. Daraus ergibt sich eine Mitverantwortung der USA und der von ihnen geführten Koalition unterstützender Staaten für die Risiken der Ausweitung bzw. der Eskalation des weiteren Kriegsgeschehens.
Nach der ökonomischen Entflechtung im Energie- und Hochtechnologiebereich bleiben nur noch militärische Mittel zur Eindämmung Russlands übrig.
Russland ist eine atomare Supermacht auf Augenhöhe mit den USA. Putin und andere führende russische Politiker haben bereits mehrfach mit Atomwaffeneinsätzen gedroht, was dem Krieg eine potentiell existentielle Dimension gibt. Natürlich ist es das Ziel der russischen Warnungen, eine Abschreckungswirkung auf westliche Staaten zu erzeugen, Ängste in Politik und Bevölkerung zu schüren sowie den Westen von der weiteren Unterstützung des ukrainischen Militärs abzuhalten. Es wäre jedoch verwegen und verantwortungslos, die Glaubwürdigkeit und Entschlossenheit der Führung im Kreml mit Spekulationen oder Glaubenssätzen kleinzureden.
Ein Präsident wie Putin, der einen großen militärischen Angriff auf ein vom Westen unterstütztes Nachbarland gewagt hat, dessen Ruf international bereits ruiniert ist, dessen konventionelle Streitkräfte nicht vorankommen oder gar zurückgedrängt werden, dessen Wirtschaft aufgrund der massiven Sanktionen in eine schwere Rezession rutscht, könnte eine nukleare Eskalation wagen, um in der Sackgasse das Ruder herumzureißen. Einem solch fatalen Schritt des Kreml würde vermutlich eine konventionelle Ausweitung des Krieges vorausgehen, etwa eine Mobilmachung oder Teilmobilmachung.
Um dies zu verhindern, ist die permanente, vertrauliche strategische Kommunikation zwischen Washington und Moskau auf der Ebene des Weißen Hauses und des Kreml sowie zwischen beiden Generalstäben von größter Bedeutung. Man kann nur hoffen, dass diese Kommunikation weiter funktioniert, wie beispielsweise in der Kubakrise. Ohne beiderseitige Selbstbeschränkung und tit for tat- Kompromisse wird dies nicht gehen. Für beide Atommächte ist die bilaterale strategische Stabilität Staatsraison. Die europäischen Regierungen müssen ihrerseits dem amerikanischen Bündnispartner versichern, dass für sie euro-strategische Stabilität von ebenso existentieller Bedeutung ist und jedes Denken in Kategorien von regional begrenzter nuklearer Kriegsführung untragbar und bündnissprengend wäre.
Ein Präsident wie Putin könnte eine nukleare Eskalation wagen, um in der Sackgasse das Ruder herumzureißen.
Peter Graf von Kielmannsegg hat das Dilemma der westlichen Unterstützung der Ukraine zwischen berechtigtem Beistandswillen und Eskalationsrisiko treffend beschrieben: „Wie nah darf man sich der Gefahr einer apokalyptischen Katastrophe annähern?“ Die Antwort auf dieses – vor allem europäische – Dilemma sollte sein, dass diese Gefahr auf Distanz gehalten werden muss, weil die Zerstörungswirkung existentiell wäre und am Ende auch in der Ukraine nur zerstörte Städte und Landschaften übrigblieben. Es entsteht demgegenüber der Eindruck, dass Washington sich schrittweise an die Schwelle herantastet, an der der Kreml einen Teil seiner zahlreichen taktischen Atomstreitkräfte in Bewegung setzt. Auch wenn bisher keine Maßnahmen zur operativen Vorbereitung russischer Atomwaffeneinsätze beobachtet wurden und die Eintrittswahrscheinlichkeit einer solchen Katastrophe für Europa noch gering ist, muss die Risikoanalyse die verheerenden Folgen von Atomexplosionen einbeziehen.
Vor diesem Hintergrund greift die deutsche Debatte um die Lieferung vergleichsweise weniger schwerer Waffen an die Ukraine zu kurz. Die entscheidende Prüffrage ist, inwieweit deutsche Waffentransfers heute und morgen in Verbindung mit den Leistungen anderer Staaten zum erfolgreichen Abwehrkampf Kiews beitragen, ohne dass sich Moskau in Reaktion darauf fatalen Eskalationsentscheidungen nähert. In seiner Rede vom 9. Mai hat Putin den existentiellen Kampf im Großen Vaterländischen Krieg gegen das Naziregime mit dem heutigen russischen Krieg in der Ukraine verschränkt. Ein Verteidigungsnarrativ, das die Bereitschaft des Kreml, nötigenfalls zum äußersten Mittel zu greifen, eher bestätigt. Politisch-moralische Argumente in der Debatte von einer höheren Warte blickend realpolitischen Kalkülen gegenüberzustellen, wäre unangemessen. Denn im Kern geht es um das verantwortungsbewusste, rationale Navigieren in einer politisch-moralischen Dilemmasituation, in der es keine eindeutig richtigen Wege aus der Gefahr gibt.