Noch ist die „neue Normalität“ in der Krise nicht erreicht, da erlebt die Politik in Berlin einen Rückfall in die „alte Normalität“: Streit innerhalb der Koalition. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer schlägt den Kauf von Jagdbombern für die Bundesluftwaffe vor. Ihrem amerikanischen Kollegen Esper hat sie bereits signalisiert, neben bis zu 93 Eurofighter-Jets auch 45 amerikanische F-18 Kampfflugzeuge der Firma Boeing kaufen zu wollen. Dreißig dieser Flugzeuge sollen die nukleare Teilhabe Deutschlands sicherstellen. Sie gelten als Atomwaffenträger und können amerikanische Atomwaffen ins Ziel bringen. Fünfzehn weitere F-18 (Growler) dienen der elektronischen Kampfführung.

Durch das Vorpreschen der Verteidigungsministerin fühlt sich die SPD düpiert und der Bundestag übergangen. „Nukleare Teilhabe“ ist ein Konzept der NATO aus den 195Oer Jahren. Es richtete sich damals gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten und sollte nicht-nukleare Länder wie Deutschland dazu verpflichten, Trägersysteme für amerikanische Atomsprengköpfe im Ernstfall einzusetzen.

Ist die Drohung mit dem Einsatz von Atomsprengköpfen und notfalls auch deren tatsächlicher Abwurf in Europa noch zeitgemäß (wenn er es denn je war)? Das darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Die heutigen militärischen Konflikte, ob in Georgien oder der Ukraine, ob in Syrien oder Libyen, sind mit Atomwaffen nicht zu lösen oder gar zu gewinnen. Schon im Frühjahr 2009 beantragte die damals oppositionelle FDP-Fraktion, sämtliche Atomwaffen aus Deutschland zu entfernen, um damit auch ein Signal in Richtung Abrüstung zu senden. Es sind also nicht nur ein paar Teilnehmer von Ostermärschen, die an diesem Konzept zweifeln. Allerdings hat die FDP nach Eintritt in die Bundesregierung ein halbes Jahr später ihr Anliegen nicht weiterverfolgt. Und somit ist die nukleare Teilhabe als Relikt des Kalten Krieges weiterhin Teil deutscher Sicherheitspolitik.

Die von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer vorgeschlagene Lösung spricht nun eindeutig für eine Präferenz des US-Waffensystems und damit eine Stärkung der Rolle der USA in Europa. Ist das wünschenswert?

Mindesten drei Gründe sprechen gegen die Entscheidung, jetzt neue Trägersysteme zu beschaffen, um die nukleare Teilhabe auf unabsehbare Zeit festzuschreiben:

Zum ersten bemängeln die EU-Regierungschefs fehlende europäische Kapazitäten, um militärisch aktiver in Konflikten eingreifen zu können – oder wie es verklausuliert heißt, um „mehr Verantwortung“ übernehmen zu können. Allen voran fordert Frankreichs Präsident Macron mehr europäische Autonomie und weniger Abhängigkeit von den USA. Mit dem Hinweis auf einen notwendigen „strategischen Dialog“ deutete er im Februar an, sich von der NATO, die er als „hirntot“ klassifizierte, emanzipieren und sich europäisieren zu wollen.

Nun sind Forderungen nach einem europäischen Zusammenschluss in der Rüstungs- und Verteidigungspolitik nicht neu. Sie werden seit Jahrzehnten proklamiert. Die praktische Durchführung aber steckt noch immer in den Kinderschuhen. Interessanterweise ist bislang bei den diversen Versuchen zur Europäisierung (möglicherweise bis hin zu einer europäischen Armee) die Frage der französischen Atomwaffen (und vor dem Brexit der britischen Atomwaffen) immer ein Tabu gewesen. Es ist fraglich, ob eine wie auch immer geartete europäisierte nukleare Abschreckung mehr Sinn ergibt als die in der NATO praktizierte. Die Forcierung europäischer Nuklearkapazitäten würde zudem das komplizierte Verhältnis zu Russland belasten und Rüstungskontrolle oder Abrüstung in Europa erschweren.

In der Vergangenheit entschieden sich die Europäer im Zweifelsfalle eher für nationale Lösungen als für genuin europäische Kooperation. Man mag zwar weiterhin Zweifel hegen, wie eng die EU-Mitgliedsländer bei der Verteidigung kooperieren werden. Die von Ministerin Kramp-Karrenbauer vorgeschlagene Lösung aber spricht nun eindeutig für eine Präferenz des US-Waffensystems und damit eine Stärkung der Rolle der USA in Europa. Ist das wünschenswert?

Ob Terrorismus, Klimawandel oder Pandemie – die wirklichen Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen können nicht mit militärischen Mitteln bekämpft werden.

Denn, zweitens, ist grundsätzlich zu fragen, wieviel Vertrauen die derzeitige Politik des amerikanischen Präsidenten verdient. Dies gilt vor allem auch für die Nuklearpolitik. Zurzeit demonstriert Präsident Trump mit seinem miserablen Management der Corona-Krise seine Ignoranz, Infantilität und Inkompetenz. Er leugnet Fakten, lügt, wenn es in sein Konzept passt, hetzt amerikanische Bürgerinnen und Bürger gegeneinander auf und scheut nicht davor zurück, unsinnige und gefährliche Vorschläge zu lancieren. In der vergangenen Woche schlug er allen Ernstes vor, zur Bekämpfung des Corona-Virus Desinfektionsmittel zu injizieren. Mediziner waren entsetzt und der britische Medizinprofessor Hunter nannte den Vorschlag, „das Gefährlichste und Idiotischste“, was er zur Bekämpfung von Covid-19 gehört habe.

Doch dieses erratische Muster kennzeichnet die heutige amerikanische Politik durchgängig. Um von eigenen Versäumnissen abzulenken, trägt Trump seine geopolitischen Machtspiele mit China aus und zündelt, gemeinsam mit den iranischen Revolutionswächtern, im Mittleren Osten. Sollte man mit dieser Regierung eine nukleare Teilhabe eingehen und möglicherweise aufgefordert werden, in Europa Nuklearwaffen einzusetzen? Präsident Trumps Politik ist nicht nur inkompetent, sie ist auch gefährlich. Hier gilt es, deutlich rote Linien zu ziehen, diplomatische Rücksichtnahmen aufzugeben, Klartext zu reden und nicht im Schlepptau eines gefährlichen Egomanen eine Politik des „weiter so“ zu verfolgen.

Drittens sollte die Corona-Krise zu einem deutlichen Umdenken führen, aus sicherheits- und aus haushaltspolitischen Gründen. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die wirklichen Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen nicht mit militärischen Mitteln bekämpft werden können. Ob Terrorismus, Klimawandel oder Pandemie, diese Gefahren für unsere Sicherheit verlangen andere Prioritäten als „nukleare Teilhabe“. Welche Vorstellungen stecken hinter dieser Politik aus der Zeit des Kalten Krieges, als man sich gegenseitig mit Atomwaffen abschrecken wollte? Sie ist völlig aus der Zeit gefallen und kann nur als „old school“ bezeichnet werden; die heutigen Bedrohungen sind nicht militärischer Natur. Sicherheitspolitisch ist der ideologische Ballast aus der Zeit des Kalten Krieges über Bord zu werfen und damit der Vorschlag zum Kauf von Atomwaffenträgern für die Bundesluftwaffe grundsätzlich in Frage zu stellen.

Haushaltpolitisch geht es um ein Rüstungsgeschäft von mehreren Milliarden Euro. Schon vor zehn Jahren lag der Stückpreis für die F-18 bei knapp 100 Millionen US-Dollar. Angesichts der Verpflichtungen, die die Bundesregierung zur Dämpfung der Folgen der Corona-Krise eingegangen ist, wird es mit Sicherheit in den kommenden Jahren Verteilungskämpfe geben. Können oder sollten wir uns in dieser Situation ein so teures Rüstungsgeschäft überhaupt leisten? Die Verteidigungsministerin rechnet offenbar damit, dass die in der Vor-Corona-Zeit anvisierte Erhöhung des Verteidigungsetats auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts weiterhin angestrebt wird. Doch diese Zielmarke gehört angesichts der völlig veränderten Haushaltssituation ebenso auf den Prüfstand wie die nukleare Teilhabe.