In den letzten Wochen und Monaten ist wieder einmal viel über die „neue Verantwortung“ Deutschlands in der europäischen und internationalen Sicherheitspolitik geschrieben worden. Das an sich ist nicht so furchtbar neu. Neu sind allerdings die Vorzeichen, unter denen diese aktuelle Debatte stattfindet.

Die Beschreibung der neuen Verantwortung resultiert nicht mehr nur aus dem in der Eurokrise weiter gewachsenen politischen und ökonomischen Gewicht Deutschlands. Sie kommt zu einem Zeitpunkt, in dem sich im sicherheitspolitischen Umfeld Europas zwei Trends abzeichnen, die die fortwährende Frage nach der Lastenteilung in der GSVP und der NATO mit neuer Dringlichkeit versehen: Die USA haben eine stärkere Hinwendung in den asiatischen Raum eingeleitet. Obwohl dieser „Pivot to Asia“ bislang weniger deutlich ausgefallen ist als rhetorisch angekündigt, verdeutlicht dies, dass die Europäer ihr Schicksal künftig stärker selbst in die Hand nehmen müssen.

Gleichzeitig ist die Nachbarschaft Europas in den letzten Jahren politisch nicht stabiler geworden. Die politische Zukunft Nordafrikas ist weiterhin ungewiss, in der östlichen Nachbarschaft schwelen Konflikte und auch die Krisen in Mali und der Zentralafrikanischen Republik wirken sich indirekt auf europäische Interessen aus. Die Bedeutung der politischen und militärischen Handlungsfähigkeit von GSVP und NATO wächst eher als dass sie sinken würde – und die USA werden diese in der NATO künftig nicht mehr im gleichen Umfang garantieren wie bisher.

Was sich hinter der Formel "neue Verantwortung" eigentlich verbirgt

Hinter der Formel der „neuen Verantwortung“ verbirgt sich daher eine Forderung der Partner Deutschlands, die sich mit der „Kultur der Zurückhaltung“ schwerlich vereinbaren lässt. Denn die Bundesrepublik wird – zunehmend nachdrücklicher – dazu aufgefordert, diese historisch wohlbegründete Position neu zu interpretieren. Sie soll ihrer Rolle als Gestaltungsmacht, als welche sie sich politisch und ökonomisch ja auch verstanden wissen will, nunmehr „endlich“ auch im Bereich der Sicherheitspolitik gerecht werden: durch die Bereitschaft zur Übernahme von politischer Führung in den internationalen Foren und zur Entlastung der Partner auch durch konkrete Beiträge „on the ground“. Logistische Unterstützung und zivile unterstützende Maßnahmen allein sind, so unbestritten wichtig sie sind, auf Dauer nicht mehr ausreichend.

Logistische Unterstützung und zivile unterstützende Maßnahmen allein sind, so unbestritten wichtig sie sind, auf Dauer nicht mehr ausreichend.

Derartige „unbequeme“ Forderungen hat Deutschland vor allem in den vergangenen vier Jahren unter der letzten schwarz-gelben Bundesregierung immer wieder mit Hinweis auf die deutsche Geschichte zurückgewiesen – wenngleich die Statistiken etwa im Bereich der Rüstungsexporte keineswegs Zurückhaltung belegen. Ganz im Gegenteil: Die Zahl der Waffenexporte erreichte 2010 auch Dank der Ausfuhr von Rüstungsgütern in Länder, die wegen anhaltender Menschenrechtsverletzungen in der Kritik stehen, einen Rekord. Ganz nebenbei schien die „Kultur der Zurückhaltung“ auch die Notwendigkeit einer sicherheitspolitischen Strategie für Deutschland in Abrede zu stellen – frei nach der Devise: Wer eine Kultur hat, braucht keine Strategie.

Eine grundsätzliche Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik ist selbstverständlich ein hohes Gut!

Nun ist eine grundsätzliche Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik selbstverständlich ein hohes Gut. Zurückhaltung, verstanden als Absage an einen blinden Interventionismus und in Form eines auf gründlicher Analyse basierenden, abwägenden und umsichtigen Handelns muss zentraler Bestandteil einer erfolgreichen Sicherheitspolitik sein. Doch genau da liegt des Pudels Kern: Ohne strategische Ziele kann der Erfolg sicherheitspolitischen Handelns nicht gemessen werden. Kritische Abwägung und verantwortungsbewusstes sicherheitspolitisches Handeln braucht daher die definierten Kriterien und Normen einer umfassenden strategischen Verortung.

Wann intervenieren?

Die Erarbeitung einer solchen sicherheitspolitischen Strategie erfordert auch die Definition strategischer Interessen. Dabei steht völlig außer Frage, dass jede sicherheitspolitische Intervention, ob mit militärischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Mitteln, im Einklang mit den im Grundgesetz verankerten Werten stehen muss. Der Einsatz für diese Grundwerte liegt im strategischen Interesse Deutschlands – und zwar aus der  Überzeugung heraus, dass politische Stabilität in der europäischen Nachbarschaft für deutsche Sicherheit von zentraler Bedeutung ist. Die alleinige Begründung einer Intervention mit diesen Werten würde jedoch zu kurz greifen. Zum einen wird Deutschland nie in der Lage (noch politisch und gesellschaftlich gewillt) sein, überall zu intervenieren, wo diese Werte in Gefahr sind. Dies wäre in der Tat ein kaum glaubwürdiger Verstoß gegen das Gebot einer wohlverstandenen Zurückhaltung.

Zum anderen wird eine ausschließlich wertmoralische Begründung einer Intervention in der deutschen Öffentlichkeit kaum überzeugen. Sicherheitspolitik führt zwar in der öffentlichen Debatte immer noch ein Nischendasein, die mediale Aufmerksamkeit für eine deutsche Beteiligung oder Nichtbeteiligung an multinationalen Interventionen ist jedoch ohne Zweifel vorhanden. Die Beweggründe für Interventionen der internationalen Partner und ggf. einer deutschen Beteiligung daran werden durchaus intensiv, wenn auch nicht immer sachlich diskutiert.

Die Entscheidung über eine deutsche Beteiligung darf nur dann positiv ausfallen, wenn deutsche bzw. europäische Wertvorstellungen und deutsche bzw. europäische Interessen gefährdet sind.

Die wiederkehrende Frage lautet dann: „Warum hier und nicht (trotz scheinbar offenkundigen gravierenden Menschenrechtsverletzungen) dort?“ Die Öffentlichkeit vermutet längst und erwartet zu Recht, dass die Entscheidung über eine deutsche Beteiligung nur dann positiv ausfällt, wenn deutsche bzw. europäische Wertvorstellungen und deutsche bzw. europäische Interessen gefährdet sind. Entscheidungen, die in jedem Einzelfall transparent und anhand strategischer Kriterien getroffen werden, dürften daher eine weit höhere gesellschaftliche und politische Legitimität erzeugen als bisher, und damit einen wichtigen Beitrag zur Verankerung dieser Politik in der deutschen Gesellschaft leisten.

Die SPD hat in ihrem Programm für die Bundestagswahl 2013 erneut betont, dass eine sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik von der Identität Deutschlands als Friedensmacht bestimmt sein muss. Mit Zurückhaltung allein lässt sich aber kein Frieden machen. Deutschland muss sein Selbstverständnis als Friedensmacht konkretisieren und mit einer Sicherheitsstrategie untermauern. Nur so kann die Bundesrepublik das notwendige politische Gewicht in den internationalen Foren entwickeln, das es braucht, um auf eine von Werten und strategischen Zielen geleitete und auf friedliche Verhältnisse zielende multilaterale Interventionsstrategie hinwirken zu können. Die Eckpunkte einer solchen multilateralen Interventionsstrategie hat der Arbeitskreis Internationale Sicherheitspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung gerade in seinem Papier „Die deutsche Sicherheitspolitik braucht mehr Strategiefähigkeit“ skizziert.

Aktuelle Positionen wie die des German Marshall Funds und der SWP, an dem auch Bundestagsabgeordnete und Mitarbeiter verschiedener Bundesministerien mitgewirkt haben, weisen darauf hin, dass sich eine solche Auffassung auch in der Bundesregierung durchzusetzen beginnt. Die Ankündigung des neuen Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier, die Erarbeitung einer außen- und sicherheitspolitischen Strategie für Deutschland nach dem Vorbild europäischer Partner prüfen zu wollen, weist in die gleiche Richtung. Und das ist sehr erfreulich: Denn nur auf der Basis einer sorgfältig erarbeiteten umfassenden Strategie, die die Kriterien für ein im besten Sinne zurückhaltendes, aber zielführendes und an jeden Einzelfall sorgfältig angepasstes friedensförderndes Handeln definiert, kann Deutschland die notwendige gestaltende und engagierte Rolle in der europäischen und internationalen Sicherheitspolitik einnehmen, die seiner Verantwortung tatsächlich gerecht wird.