Seit dem Ende der jugoslawischen Nachfolgekriege, also seit über zwanzig Jahren, ist die Europäische Union auf dem Balkan massiv präsent: mit direkter Verantwortung in Bosnien-Herzegowina (Militärmission EUFOR) und Kosovo (Rechtsstaatsmission EULEX und Beteiligung an der Friedenstruppe KFOR). Auch mit den Beitrittsversprechen für alle sechs Westbalkanländer und Beitrittsverhandlungen mit zwei von ihnen – Serbien und Montenegro – zeigt die EU Präsenz. Und nicht zuletzt mit der EU-Mitgliedschaft von Bulgarien und Rumänien seit dem Jahr 2007. Das Resultat ist ernüchternd: Das traditionelle Pulverfass Balkan harrt weiterhin der Entschärfung. Nicht einmal in den Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien ist es der EU gelungen, ihre Standards durchzusetzen und die ökonomische Entwicklung voranzutreiben.

Zwei Faktoren sind in erster Linie für diesen Zustand verantwortlich: Erstens die nach wie vor ungelösten ethnisch-nationalen Fragen, die weiter brodeln. Zweitens die zunehmende Präsenz anderer externer Akteure wie Russland und der Türkei, aber auch Chinas und einiger arabischer Staaten - sowie die auf NATO-Expansion und Stabilität um jeden Preis fokussierte Rolle der USA in der Region. Zusammen mit der stagnierenden, in einigen Fällen sogar rückläufigen demokratischen und sozio-ökonomischen Entwicklung bilden diese Faktoren eine latente Bedrohung für Europas Sicherheit, das an seinen östlichen und südlichen Grenzen schon zur Genüge mit Krisen und Konflikten konfrontiert ist. Eine Politik der präventiven Konfliktentschärfung und – vermeidung in Südosteuropa sollte deshalb zu den prioritären strategischen Zielen der EU gehören.

Wie kann dieses Ziel erreicht werden? Zunächst einmal müsste Brüssel seine strategischen Interessen in der Region klar definieren. In der EU-Balkanstrategie vom Februar 2018 dominiert einmal mehr das Mantra der EU-Erweiterung. Dies sollte man zunächst einmal zurückstellen und stärker den Transformationsaspekt betonen, wie es in einer Studie des FES-Büros Südosteuropa  (April 2018) heißt. Denn es ist durchaus zweifelhaft, so die Studie weiter, dass eine „glaubhafte Beitrittsperspektive der Schlüsselfaktor für die Transformation in der Region“ ist, wie es im EU-Strategiepapier heißt. Vielmehr sollte man die Transformationsphase nutzen, um die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige und nicht nur oberflächliche Stabilität zu schaffen.  

Das primäre Interesse der EU auf dem Balkan ist Stabilität. Zumindest eine Scheinstabilität hat sie hinbekommen.

Zweitens sollte klar sein, dass die strategischen Interessen der EU auf dem Balkan nicht mit denen der USA übereinstimmen. Auch wenn niemand genau weiß, welche Interessen Präsident Donald Trump in der Region verfolgt, so ist doch offensichtlich, dass im US State Department und im Pentagon noch die alten, auf Einhegung Russlands zielenden Eliten dominieren. Auch in Südosteuropa ist es ihr Ziel, mit stetiger NATO-Erweiterung Russland aus der Region zu drängen. Mit Bulgarien, Rumänien, Albanien und Montenegro ist man schon ein großes Stück vorangekommen, Mazedonien steht als nächstes an. Dass Moskau das nicht widerspruchslos hinnehmen wird, ist offensichtlich. Erst kürzlich warnte der russische Außenminister Lawrow davor, die Länder der Region vor das „falsche Dilemma“ zu stellen, sich entweder auf die Seite Moskaus oder Washingtons und Brüssels zu schlagen.

Das Denken in geopolitischen Kategorien ist kein Zufall. Der britische Geograph Halford Mackinder, einer der Väter der geopolitischen Theorie, definierte schon 1904 Osteuropa als Kernregion, von der ausgehend Eurasien und schließlich die Welt beherrscht werden könnte. Der amerikanische Politikwissenschaftler und Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski, der auch einen Draht zu Barack Obama hatte, folgte 1997 in Mackinders Fußstapfen: In seinem Buch „Das große Schachbrett“ bezeichnete er die Osterweiterung der NATO als unerlässlich für die amerikanische Vorherrschaft in Eurasien. Diese Strategie ging solange gut, wie Russland unter Jelzin quasi hilf- und machtlos war. Mit Wladimir Putin hat sich dies geändert. Moskau versucht nun ebenfalls, eigene Einflusszonen aufzubauen und hat vor allem seine militärischen Kapazitäten enorm verstärkt.

Das primäre Interesse der EU auf dem Balkan ist Stabilität. Zumindest eine Scheinstabilität hat sie hinbekommen: Ihre hehren Ziele von Demokratie, Menschenrechten und Pluralismus  hat sie dafür den Interessen der herrschenden, zumeist korrupten und autoritären Eliten untergeordnet. Markantestes Beispiel ist Montenegro, wo der seit über einem Vierteljahrhundert in unterschiedlichen Funktionen herrschende Milo Djukanovic es schaffte, vom pro-russischen Satrapen zum westlichen Liebling umzusteigen, ohne den Griff um das Land zu lösen.

In den Quasi-EU-Protektoraten Bosnien und Kosovo häufen sich ebenfalls Probleme: Die kosovarische Führung stünde ohne US-Protektion vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Unter den Augen der internationalen, maßgeblich europäischen Verwaltung ist Kosovo laut Europol zum Hauptumschlagplatz für afghanisches Heroin geworden. Das NATO-Mitglied Albanien gilt laut Medienberichten, die sich ebenfalls auf Europol beziehen, aufgrund seiner verbreiteten Cannabis-Kulturen als „europäisches Kolumbien“. In Bosnien-Herzegowina ist es der internationalen Verwaltung nicht gelungen, die der Dayton-Verfassung zugrundeliegenden institutionellen Blockaden und das ethnische Proporzdenken zu überwinden. Lediglich Mazedonien bietet mit seinem demokratischen Regierungswechsel einen gewissen Hoffnungsschimmer.

Es ist sicher nicht im Interesse der Bürger in den sechs Westbalkanländern, mit formalen Reformen zwar der EU beitreten zu können, dafür aber nicht wirklich gerüstet zu sein.

Wirkliche Stabilität in der Region müsste sich präventiv um die Lösung latenter Probleme kümmern. Dazu gehört auch die Lösung der beiden noch offenen „nationalen Fragen“: der albanischen und der serbischen. Die EU sollte präventiv eine Friedenslösung anstreben, in die neben den lokalen Akteuren auch die externen Protagonisten auf beiden Seiten einbezogen werden müssten: auf albanischer Seite die Türkei, auf serbischer Seite Russland. Die EU könnte und sollte als Vermittler in dieser Frage agieren und eine regionale Sicherheitsarchitektur mit der Türkei und mit Russland ins Spiel bringen, die Moskau nicht nur am Rande beteiligt. Das würde die herrschenden Autokraten in der Region unter Zugzwang setzen. Voraussetzung für eine solche Sicherheitsarchitektur wäre der Verzicht auf weitere NATO-Expansion und eine stärker integrierte europäische Außen- und Verteidigungspolitik, wie sie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorschwebt.

Und das wäre letztlich auch die Voraussetzung dafür, dass die EU-Hilfe nicht mehr in undurchsichtigen Kanälen verschwindet, sondern direkt der Bevölkerung zugutekommt. Unter dieser stabilen Sicherheitsdecke könnte die Lösung der beiden nationalen Fragen in Angriff genommen und das Dilemma der EU-Erweiterung zwischen Stabilisierung und Demokratisierung überwunden werden. Denn es ist sicherlich nicht im Interesse der Bürger in den sechs Westbalkanländern, mit formalen Reformen zwar der EU beitreten zu können, dafür aber nicht wirklich gerüstet zu sein. Die anstehende umstrittene EU-Ratspräsidentschaft Rumäniens, das unter Korruption und Rechtsstaatsmängeln leidet, sollte als warnendes Beispiel dienen.