Die erfolgreichen Gegenangriffsoperationen der Ukraine im Herbst 2022 haben nicht wenige deutsche und internationale Kommentatoren dazu verleitet, schnelle Erfolge der ukrainischen Truppen bei ihrer seit Anfang Juni 2023 laufenden Gegenoffensive an der Südfront zu propagieren. Die etwa neun, von NATO-Staaten ausgebildeten und mit westlichem Gerät ausgerüsteten Brigaden, so die Erwartung, würden russische Verteidigungslinien durchbrechen und bis zu den Bahn- und Straßenverbindungen auf der Landbrücke zur Krim, oder gar bis zum Asowschen Meer vorstoßen.
Diese Erwartung entsprang jedoch eher einem Wunschdenken als einer sachlichen Lagebeurteilung. Einschätzungen von Militärökonomen im Frühjahr 2023, die einen ukrainischen Sieg im Herbst 2023 vorhersagten, basierten beispielsweise auf eklatanten Fehlkalkulationen. Die Hochrechnung von russischen Abnutzungsraten im Jahr 2022 auf die Lage im Folgejahr war schlicht zu simpel. Russland hat offenbar wesentlich mehr Kräfte in der Ukraine als zu Beginn des Krieges.
Angriffsoperationen gegen Bodentruppen, die aus stark befestigten Stellungssystemen heraus kämpfen und die zu beweglichen Verteidigungsoperationen mit Luftnahunterstützung um die Stellungsgräben herum befähigt sind, gehören zu den anspruchsvollsten militärischen Leistungen. In solchen Szenarien sind große Verluste vor allem bei den angreifenden Verbänden zu erwarten. Für die ukrainischen Brigaden ist der Angriff gegen eine derart vorbereitete Verteidigung eine völlig neue Aufgabe.
Die Lernfähigkeit der russischen Führung im Unterschied zu ihren Operationen im ersten Kriegsjahr wurde unterschätzt. So haben die angreifenden ukrainischen Verbände schon weit vor der ersten russischen Hauptstellungslinie empfindliche Verluste in vorgelagerten Minensperren hinnehmen müssen. Moderne westliche Kampf- und Schützenpanzer wurden zerstört.
Die ukrainische Militärführung hat nun aus ersten Fehlern gelernt und das taktische Vorgehen verändert.
Es war unrealistisch, davon auszugehen, dass die neu aufgestellten ukrainischen Brigaden das komplexe Gefecht der verbundenen Waffen beherrschen, in dem viele Manöverelemente zu koordinieren sind. Taktische Fehler im Vorgehen waren zu erwarten. Auch die Streitkräfte der NATO-Staaten müssen das komplexe Zusammenwirken im Verbund immer wieder üben und werden es nicht perfekt beherrschen.
Die ukrainische Militärführung hat nun aus ersten Fehlern gelernt und das taktische Vorgehen verändert und verlangsamt. Sie versucht, die Abnutzung der eigenen Kräfte in Grenzen zu halten und gleichzeitig die russischen Truppen abzunutzen – eine fast unmögliche Aufgabe. Mit weit reichender Raketenartillerie sowie britischen und französischen Marschflugkörpern wird versucht, die russischen Truppen zu schwächen durch Angriffe auf Gefechtsstände, Einrichtungen der Führungsunterstützung und auf logistische Verteilerpunkte sowie versorgungswichtige Brücken.
Der ukrainische Generalstab müsste vermutlich alle neun verfügbaren Brigaden konzentriert in das Gefecht werfen, um einen Durchbruch durch russische Stellungslinien zu erzielen. Aber selbst wenn dies an der einen oder anderen Stelle gelänge, könnten russische Panzerkräfte mit Artillerie- und Luftunterstützung durchgebrochene ukrainische Einheiten von ihrer Versorgung abtrennen und schlagen. In einem solchen Szenario besteht die Gefahr, dass zu große Teile der ukrainischen Gegenangriffsbrigaden zerschlagen werden, bei weiteren entsetzlichen Verlusten an Mensch und Material. Die russischen Truppen könnten dann unter Umständen nach Bildung neuer taktischer und operativer Reserven im Winter erneut zu Angriffen übergehen.
In den nächsten Monaten werden Angriffe mechanisierter Kräfte aufgrund des zu erwartenden Regens beziehungsweise aufgrund der Durchfeuchtung der Böden zudem noch schwieriger. Die Gegenoffensive ist noch nicht gescheitert – aber die Ukraine sollte rauskommen aus der Falle des intensiven Abnutzungsgefechts, das sie auf Sicht nicht durchhalten kann. Das aktuelle Kriegsgeschehen stellt sich faktisch als Fortsetzung des Stellungs- und Abnutzungskrieges seit Herbst 2022 dar. Die politische und militärische Führung in Kiew dürfte vor der schwierigen Entscheidung stehen, ob sie mit den noch voll einsatzbereiten Brigaden einen Durchbruch wagt, oder ob sie diese bis auf Weiteres besser zur Konsolidierung der erreichten Frontlinie einsetzt.
Das aktuelle Kriegsgeschehen stellt sich faktisch als Fortsetzung des Stellungs- und Abnutzungskrieges seit Herbst 2022 dar.
Diese für die Ukraine bittere Pattsituation auf dem Gefechtsfeld entspricht der weisen Einschätzung und Vorausschau von General Mark Milley, eines der kenntnisreichsten und vernünftigsten hochrangigen amerikanischen Experten. Der amerikanische Generalstabschef hat bereits im November 2022 geäußert, beide Seiten müssten einsehen, dass sie ihre Kriegsziele nicht mit militärischen Mitteln erreichen können und in Verhandlungen eintreten sollten. Weniger treffsicher und analytisch haben sich andere Experten geäußert. So hat der pensionierte amerikanische Generalleutnant Ben Hodges in deutschen Medien Monate vor der ukrainischen Gegenoffensive wiederholt Erwartungen geschürt, dass die Ukraine bis vor die Krim durchbrechen könne.
Angesichts der geringen Raumgewinne nach zwei Monaten beklagt er wie andere nunmehr eine Mitschuld der westlichen Seite, die zu spät und zu wenig Waffen geliefert habe. Diese Art von Dolchstoßlegende ist leichtgewichtig, weil sie hypothetisch ist. Genauso könnte man behaupten, dass schnellere und größere Lieferungen von Waffensystemen die russischen Verteidigungsvorbereitungen beschleunigt hätten. Argumente, die auf „was wäre gewesen, wenn“ aufbauen, sind meist wohlfeil, weil sie weder bewiesen noch widerlegt werden können.
Seit die ukrainische Gegenoffensive nicht vorankommt, sind in Berlin Forderungen lauter geworden, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Pressemeldungen zufolge prüft die Bundesregierung mit der Industrie Möglichkeiten, wie eine technische Reichweitenbegrenzung am Waffensystem erreicht werden kann, um Angriffe auf russisches Territorium auszuschließen. Damit soll das schwer kalkulierbare Eskalationsrisiko minimiert werden. Die USA, Großbritannien und Frankreich sind, soweit bekannt, diesen Weg nicht gegangen. Kiew hat sich bisher an deren politische Auflagen gehalten, russisches Territorium nicht mit den gelieferten weit reichenden Raketenartilleriesystemen und Marschflugkörpern anzugreifen.
Der in der deutschen öffentlichen Debatte vorherrschende Fokus auf russisches Territorium scheint indessen am Kern der Problematik vorbeizugehen. Das deutsche Taurus-Waffensystem KEPD-350 ist eine Abstandswaffe, die auf die Zerstörung von Start- und Landebahnen und verbunkerten Einrichtungen optimiert ist. Die ukrainische Luftwaffe dürfte den Taurus, wenn sie ihn erhielte, vor allem zur Zerstörung der Krimbrücken einsetzen, einschließlich der 19 Kilometer langen, von Russland gebauten Brücke bei Kertsch. Für diesen Zweck sind die Taurus-Sprengköpfe bestens geeignet. Weit reichendes und zielgenaues „Deep Fire“ wäre zwar kein „Game Changer“ in diesem Krieg, die Zerstörung der Krimbrücken könnte die russische Militärlogistik jedoch empfindlich schwächen.
Inzwischen ist klar, dass fast alle westlichen Kampfpanzer von Deutschland geliefert wurden.
Die Bundesregierung wird bei ihrer Entscheidung zur möglichen Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern sorgfältig bewerten und einschätzen müssen, welche russische Reaktion auf die Zerstörung der Brücken mit deutschen Flugkörpern zu erwarten ist. Das hat nichts mit Eskalationsangst zu tun, wie oft leichtfertig und abschätzig behauptet wird, sondern entspringt einer notwendigen nüchternen, rationalen Analyse und Folgenabschätzung. Denn wahrscheinlich würde Moskau als Reaktion auf den Verlust der versorgungswichtigen Krimbrücken die eigene Eskalationsspirale weiterschrauben.
Mit einer Reichweite von 500 Kilometern übertrifft das Taurus-Waffensystem den Wirkungsbereich aller bisherigen Waffenlieferungen, wie zum Beispiel der USA, Großbritanniens und Frankreichs, nahezu um das Doppelte. Warum muss Deutschland mit dieser Waffe erneut über die bisherigen Waffenlieferungen der drei westlichen Atommächte hinausgehen? Diese sind ständige Mitglieder im Sicherheitsrat, denen eine herausragende Verantwortung für Frieden und Sicherheit obliegt. Alle drei verfügen über ein nationales nukleares Abschreckungspotenzial.
Die aktuelle deutsche Taurus-Debatte erinnert hingegen an den Streit um Panzerlieferungen Anfang 2023. Noch relativ vage Ankündigungen aus London und Paris, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, wurden selbst innerhalb der Regierungskoalition zum Anlass genommen, größtmöglichen Druck auf den Bundeskanzler auszuüben, deutsche Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen. Inzwischen ist klar, dass fast alle westlichen Kampfpanzer von Deutschland geliefert wurden, beziehungsweise aus deutscher Produktion stammen. Französische und amerikanische Kampfpanzer fahren noch immer nicht in der Ukraine. Großbritannien hat wenige Challenger-Panzer für eine Kompanie übergeben. Die USA wollen erst im Herbst 31 Stück der älteren Version des M1 Abrams liefern und damit ein Panzerbataillon ausrüsten.
Das erklärte ukrainische Kriegsziel – die Befreiung aller besetzten Territorien, einschließlich der Krim – ist völkerrechtlich absolut legal und politisch-moralisch vollkommen legitim. Die Forderung, die Ukraine müsse bekommen, was sie zur Verteidigung einschließlich der militärischen Rückeroberung der besetzten Gebiete braucht, ist daher berechtigt und nachvollziehbar.
Alle Teilnehmer müssen einen langen Atem beweisen.
Sie bleibt aber blanke Theorie und ist in der Praxis nicht einlösbar. Vielmehr ist erkennbar, dass die weiteren menschlichen und materiellen Kosten einer kompletten militärischen Rückeroberung für die Ukraine ins Unermessliche gehen würden und vermutlich nicht tragbar sind. Zudem: Den Möglichkeiten der westlichen Regierungen, „endlos“ Waffensysteme und Munition zu liefern, sind Grenzen gesetzt. So darf die Bundeswehr, die in einer niedrigen Einsatzbereitschaft verharrt und gleichzeitig NATO-Forderungen erfüllen muss, nicht durch Waffen- und Munitionslieferungen weiter geschwächt werden.
Mit Blick auf die militärische Pattsituation kommen Ukraine-Konferenzen, wie denen in Kopenhagen und Dschidda, eine besondere Bedeutung zu. Der sehr erfahrene amerikanische Diplomat im Ruhestand Thomas Pickering hat im März 2023 mit Blick auf den russischen Krieg in der Ukraine in Foreign Affairs einem gehaltvollen Artikel darüber veröffentlicht, wie komplexe Friedensgespräche vorbereitet und in welchen Phasen sie zu einem Ergebnis geführt werden können. Er verdeutlicht, dass es einer längeren Vorbereitungsphase im Rahmen der internationalen Gemeinschaft bedarf, um substanzielle Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien auf den Weg zu bringen.
Konferenzen wie kürzlich in Dschidda können spätere Waffenstillstandsverhandlungen und darauf aufbauende Friedensgespräche vorbereiten. Alle Teilnehmer müssen einen langen Atem beweisen und sich einem komplizierten und mühsamen Prozess unterziehen, in dem keine schnellen Fortschritte zu erwarten sind.
Klar ist: Die internationale Gemeinschaft darf im Rahmen von künftigen Konferenzergebnissen, die noch von Russland besetzten und annektierten Gebiete niemals anerkennen. Die humanitäre Lage der dort lebenden Ukrainer muss, möglichst unter Aufsicht der Vereinten Nationen, auf internationale Menschenrechtsstandards gehoben werden. Kriegsverbrechen der Besatzer sind zu verfolgen und abzuurteilen. Wege zur Lösung der entscheidenden Territorialfragen müssen unter Wahrung der Souveränität der Ukraine integraler Teil eines möglichen Waffenstillstandsabkommens in der Zukunft sein.
Lesen Sie zu diesem Thema auch die IPG-Beiträge „Kein Exit ins 19. Jahrhundert“ von Fritz Felgentreu und „Exit-Strategie gesucht“ von Herbert Wulf.