Nun ist es soweit. Die US-Regierung hat sich, nach längeren kontroversen Debatten, entschieden, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Mit dieser Maßnahme wird die nächste Stufe auf der Eskalationsleiter in diesem mörderischen Krieg bestiegen. Nach langen zögerlichen Diskussionen um die Lieferung einfachen militärischen Geräts, dem Versprechen zur uneingeschränkten Verteidigung der Ukraine, der Lieferung moderner Waffen wie Flugabwehrkanonen sowie heftigen Diskussionen um das Ja oder Nein von Kampfpanzern und -flugzeugen, jetzt also die Lieferung der geächteten Streumunition.

Kiew hat um diese Munition gebeten, da sie anscheinend militärisch hoch effektiv gegen Ziele wie Artillerie und Konvois der russischen Streitkräfte eingesetzt werden kann. Die Ukraine hofft, ihre Gegenoffensive so durchschlagender ausführen zu können. Doch seit der Unterzeichnung der sogenannten Oslo-Konvention, die 2010 in Kraft trat, besteht ein Verbot zur Herstellung, Lagerung sowie zum Einsatz von Streumunition. Problematisch ist diese Munition vor allem, weil sie noch viele Jahre nach der Beendigung eines Krieges Leid und Zerstörung anrichtet. In einem Behälter befindet sich sogenannte Submunition, auch Bomblets oder Pellets genannt, die hoch über dem Ziel auf breiter Fläche abgeschossen wird. Wenn die Streumunition vom Himmel fällt und auf dem Boden explodiert, ist ein wesentlich größerer Bereich betroffen als bei einer einzelnen konzentrierten Explosion.

Manche dieser Streubomben enthalten mehr als 500 Projektile. Die Streumunition tötet wahllos und explodiert nicht immer beim Aufschlag auf dem Boden vollständig. Eine hohe Zahl von Blindgängern, von 2,5 bis 40 Prozent je nach Bombentyp, bedeutet noch für Jahrzehnte eine Gefahr für Zivilistinnen und Zivilisten. Die Amputation von Gliedmaßen sowie die Zerstörung landwirtschaftlicher Flächen sind die Folge. Im Vietnamkrieg wurden mehrere hundert Millionen Streubomben über Wäldern und Reisfeldern abgeworfen, von denen bis heute noch viele Millionen nicht explodiert sind und auf dem oder im Boden liegen. 

Die Streumunition tötet wahllos und explodiert nicht immer beim Aufschlag auf dem Boden vollständig.

Wegen der schlimmen Folgen dieser Waffen ächtet die Konvention von Oslo die Streumunition. Die Mehrzahl der UN-Mitglieder, 123 Länder, sind der Konvention beigetreten, jedoch weder die USA noch die Ukraine oder Russland. Für die kontroverse Entscheidung Washingtons zur Lieferung dieser geächteten Streumunition werden mehrere Entschuldigungen bemüht. Die Munition sei militärisch effektiv und könne der Ukraine Vorteile verschaffen. Beflügelt wurde die US-Entscheidung zudem davon, dass es offensichtlich deutliche Engpässe bei der Produktion konventioneller Munition gibt, vor allem bei Artilleriegeschossen. Streumunition ist in den USA in großen Mengen vorhanden und könnte hier Abhilfe schaffen.

Um die Entscheidung zu rechtfertigen, verweisen die Befürworter des Weiteren darauf, dass Russland bereits mehrfach Streumunition bei Angriffen auf Städte der Ukraine verwendet hat. Jens Stoltenberg, der Generalsekretär der NATO, erklärte, dass beide Seiten bereits Streumunition eingesetzt haben. Doch kann die inhumane Kriegsführung der einen Seite das eigene Verhalten rechtfertigen? Damit stellt die westliche Allianz ihre immer von ihr betonte moralische Überlegenheit selbst in Frage. Auch die Begründung, der Einsatz der Streumunition durch die Ukraine sei weniger problematisch, da sie sie nur auf dem eigenen, von Russland besetzten Territorium, verwende, wird den Generationen, die später unter den Blindgängern zu leiden haben, kaum ein Trost sein.

Es existieren drei Arten von Streumunition: Artilleriemunition, durch Raketen abgeschossene und von Flugzeugen ins Ziel gebrachte Bombenbehälter. Zurzeit liefern die USA nur Artilleriemunition. Aber wer kann, angesichts des Verlaufs dieses Krieges ausschließen, dass in Zukunft die nächste Stufe der Eskalation beschritten wird? Nach der Zusage zur Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen wäre die Lieferung von Streubomben, die von Flugzeugen zum Ziel gebracht werden, zumindest der nächste (militärisch) logische Schritt.

Mit dem Vertrag von Oslo verpflichten sich die Teilnehmerstaaten nicht nur, keine Streumunition herzustellen, zu lagern und einzusetzen. Darüber hinaus verpflichten sie sich, auch nicht teilnehmende Staaten nicht darin zu unterstützen, diese Waffen einzusetzen, sowie „nach besten Kräften auf seine weltweite Geltung und seine umfassende Durchführung hinzuwirken“.

Noch vor dem NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli 2023 gaben die USA ihre Absicht bekannt, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Erstaunlich ist, dass diese kontroverse Entscheidung in Vilnius kaum eine Debatte ausgelöst hat. Die meisten NATO-Mitgliedstaaten haben die Oslo-Konvention unterzeichnet und wären laut Vertragstext verpflichtet, auf einen Nichteinsatz zu drängen. Einige Alliierte der USA, so die Regierung Großbritanniens und Neuseelands, kritisierten die Absicht der US-Regierung. Nach dem Geist des Oslo-Vertrags zur Ächtung von Streumunition wäre eine Kritik auf breiter Front zu erwarten gewesen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, dass die NATO keine Stellung beziehen werde. Dies kam de facto einem Blankoscheck für die USA gleich.

Damit stellt die westliche Allianz ihre immer von ihr betonte moralische Überlegenheit selbst in Frage.

Heribert Prantl, Kommentator der Süddeutschen Zeitung schrieb, dass sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dazu „vertragsbrüchig und feige“ äußere. Ja, er habe sogar die US-Ankündigung verteidigt und erklärt, den Amerikanern nicht in den Arm fallen zu wollen: „Das ist Feigheit vor dem Freund.“ Zumal Steinmeier 2008 in seiner Funktion als damaliger Außenminister das Oslo-Abkommen unterzeichnet hat. Er bezeichnete es damals als einen „Schritt, um die Welt sicherer zu machen“. Von Emmanuel Macron und Olaf Scholz kam ebenfalls kein Kommentar zur Streumunition. Kanadas Premier Justin Trudeau meinte schlicht, dieser NATO-Gipfel sei eine Möglichkeit, Solidarität mit Kiew zu demonstrieren.

In den NATO-Ländern traut man sich offensichtlich nicht, den USA in aller Deutlichkeit klar zu machen, dass ihre Entscheidung dem Oslo-Vertrag diametral entgegensteht. Beim NATO-Gipfel in Vilnius ging es den Teilnehmern anscheinend darum, Einigkeit zu demonstrieren. Vielleicht ist das Ziel auch, der Ukraine die mehrfach versprochene Unterstützung zukommen zu lassen, nachdem die NATO dem Drängen Kiews nicht nachgegeben hatte, die Ukraine umgehend als Vollmitglied in die Allianz aufzunehmen.

Solidarität mit der Ukraine ist das eine, Ignoranz der Konvention gegen Streubomben das andere. Wohin wird diese finstere Reise der Eskalation noch führen? Selbst der Einsatz von Atomwaffen ist nicht mehr auszuschließen, wenn man die versteckten und offenen Hinweise des Kremls ernst nimmt. Und das muss man wohl.